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Ein Herzensargentinier im Exil (3): Auferstanden in Ruinen und der Kakerlake zugewandt

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Herr T. hat ein Jahr in Buenos Aires gelebt. Der Leser des Argentinischen Tagebuchs kennt ihn vor allem als nervenstarken Reisebegleiter nach Chile und Bolivien. Im September 2014 kehrte er nach Deutschland zurück. Nun ist er wieder da.

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Ich war vorbereitet. Ich habe in Uni-Seminaren Mate getrunken, die weiß-himmelblaue Fahne geschwenkt. Ich habe Freunde mit meinem Argentinienwissen genervt und mit Lionel Messi gelitten, als dieser die Niederlage gegen Deutschland hinnehmen musste. Ich war auf alles vorbereitet. Nur nicht auf die Hitze. 36 Grad knallen vom Himmel, als ich aus ebendiesem auf argentinischem Grund lande. Ich bin zurück. Schwitzend, schmelzend, sterbend – und doch glücklich.

Wieder durch die Häuserblöcke von Buenos Aires zu fahren, weckt Erinnerungen. Ein Jahr hatte ich hier gelebt und mich an die verrückten und auch liebenswürdigen Argentinier gewöhnt. Nun bin ich zurück und glaube, mich an jede einzelne Straßenecke erinnern zu können. Wie in einem Film, an den man sich vage erinnert. Ich komme in Recoleta unter, dem argentinischen Paris. Qué elegancia la de Francia. Ich erkunde die Stadt, schlendere über den Friedhof von Recoleta, auf dem auch die gefeierte Schutzheilige Eva Perón begraben liegt, und flaniere die Avenidas entlang bis zum Kongress und Präsidentenpalast.

Friedhof Recoleta

Friedhof Recoleta

Evita

Evitas Grab

Meine Liebe zum argentinischen Wein lebt wieder auf, und auch das traditionelle Asado ist noch so lecker, wie ich es in Erinnerung habe. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Es verwundert viele, vor allem Argentinier selbst, dass ich mir vorstellen könnte, hier zu leben. Cheeee, dir gefällt’s bei uns? Du nimmst mich auf den Arm! So mancher lernt ja nach Englisch noch eine zweite Fremdsprache hinterher, um nach Europa auswandern zu können.

Buenos Aires

Blick auf die Avenida Corrientes

Buenos Aires 2

Das Microcentro von Buenos Aires

Ich erinnere mich an so viele Kleinigkeiten. Die Collectivos, buntbemalte Linienbusse, die mit exzessivem Gebrauch der Hupe und des Gaspedals mit den Taxis um die Herrschaft auf den Straßen kämpfen. Taxifahrer, die sofort wissen wollen, wo man denn herkomme, was man hier mache – aber vor allem: dein Fußballklub, eh? Geldwechsler, die von jeder Ecke der beliebtesten Einkaufsstraße »Cambio« rufen – in einer Monotonie, als hätten sie nur dieses eine Wort gelernt. Unebene Fußwege, die regelmäßig von verlassenen Baustellen unterbrochen werden und auf denen einem die Kondenswassertröpfchen der Klimaanlagen in den Nacken fallen. Der Fernet (ja, Opas Magenbitter), der mit Cola und Eis gemischt wird, um sich dem Nachtleben ein wenig sorgloser zu widmen. Fahrstühle aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, die erst funktionieren, wenn beide Türen manuell zugezogen sind. Dazu Stromausfälle, Kakerlaken und Demonstrationen. Nicht, dass das unmittelbar in einem Zusammenhang stehen würde. Habe ich doch in einem Restaurant gleich zwei Kakerlaken in fünf Minuten am Tisch begrüßt, die der Kellner auf Nachfrage schwer gelangweilt und recht träge mit einem Taschentuch eliminierte. Ein echter Argentinier stört sich doch an so was nicht! Und mir gelingt es natürlich auch, damit umzugehen, jedenfalls besuche ich das Restaurant sogar noch zwei weitere Male.

Demonstration am Kongress, dem Nationalparlament

Kurz vor meiner Ankunft wurde der Staatsanwalt Alberto Nisman tot aufgefunden. Niemand kann sicher sagen, was genau passiert ist, doch glauben alle, es zu wissen: Die Präsidentin habe ihn ermorden lassen. Dass ein Volk mehrheitlich davon überzeugt ist, dass die eigene Regierung zu Auftragsmorden fähig ist, wirft nicht nur eine Frage über Demokratie und Justiz auf. Jedenfalls spürt man diese Unruhe deutlich − und egal, ob es nun Mord oder Selbstmord war: Der Fall wird das Land noch über Jahrzehnte hinweg spalten.

Mein Land.

Ein Herzensargentinier im Exil (2): There is no place like London

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Herr T. hat ein Jahr in Argentinien gelebt. Der Leser des Argentinischen Tagebuchs kennt ihn vor allem als nervenstarken Reisebegleiter nach Chile und Bolivien. Vor einem Jahr landete er wieder in Deutschland. Den ersten Teil seines Exil-Berichts gibt es hier.

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In grenzenloser Ablehnung erreichte Johnny Depp die britische Hauptstadt. Ein Barbier, der singt und mordet – wohl wahr: Tim Burton hatte schon bessere Ideen als in »Sweeney Todd«. Und doch pocht die argentinische Seele, als ich in London ankomme. Jeder vernünftige Argentinier denkt ja bei England gleich an den verlorenen Krieg von 1982 (um eine Insel voller Schafe) und an Diego Maradonas zwei Tore vier Jahre später im WM-Viertelfinale. Die ganze Welt spricht von den »Falklandinseln« – jeder vernünftige Argentinier nennt sie »Islas Malvinas«. Ja, jeder vernünftige Argentinier hat die Besitzansprüche seiner Heimat mit der Muttermilch aufgenommen. Egal, ob das Gespräch mit »Ich habe nichts gegen England« oder »Der Krieg war töricht« beginnt, es endet mit dem Satz: »Trotzdem gehören die Inseln zu Argentinien.«

Der Engländer scheint das entspannter zu sehen. Klar, er hat ja auch gewonnen. Den Krieg. Nicht das Viertelfinale.

Die sogenannte Galerie der Volkshelden im Präsidentenpalast

Ich halte mich aus diesem Konflikt grundsätzlich raus.

Man muss allerdings sagen, dass Südamerika in Sachen Unterkunft dem Inselkönigreich durchaus überlegen ist. Das Geld verlangt der Londoner nämlich cash und im Voraus, die Zimmer sind abgewetzt, die Küche macht auf Verfall, und auf die Frage nach W-Lan wird auf das Gratisnetz der nahegelegenen Bank verwiesen. Im Vergleich dazu kamen CW und ich auf all unseren Reisen – ja selbst in der bolivianischsten Einöde – wie Könige unter!

Nur: Wenn man sich nach Argentinien sehnt, aber das Geld nicht reicht, dort mal wieder vorbeizuschauen, reist man so weit, wie man eben kommt. Ich komme bis London, und in London war ich noch nie. Außerdem habe ich gehört, dass man dort auch ganz angenehm Silvestern feiern könne.

Ein Freund begleitet mich, sozusagen mein Bester. Zum Glück stehe ich aber weder auf seine Freundin noch auf seine Schwester. Eine Bromanze, wie man heute sagt. Maschinenbauer ist er und von bayerischem Geblüt. Der kennt also auch die Leiden von aufgezwungener Nationalität und Heimatlosigkeit. Mein Seelenlandsmann sozusagen. Wir klappern erst mal die Touristenattraktionen ab, aber klar doch, besuchen Big Ben, die Tower Bridge, die Milleniumbridge, wobei ich ziemlich sicher bin, dass die in »Harry Potter« zerstört wurde.

 

Überhaupt scheint unser Wissen über London sehr von Filmen geprägt zu sein. Wir suchen das MI6-Gebäude, aus dem James Bond mit seinem Boot springt. Finden es. Und sind glücklich.

 

CW hätte bestimmt gemault, wäre er dabei gewesen. Vom englischen Kino hält er noch viel weniger als vom französischen, und über das hat er sich immer schon wahnsinnig aufgeregt. Stundenlange Dialoge. Miese Autos. Solche Sachen. Er und ich, wir hatten übrigens auch einen waghalsigen und spektakulären Augenblick, damals auf dem Rückweg von Uyuni, der größten Salzwüste der Welt in Bolivien, als morgens um sechs der 13-jährige Sohn des Busfahrers das Steuer des riesigen Riesendoppeldeckers übernahm. Kurzer Stopp. Türenklappen. Weiter ging’s. Es ruckelte dann hin und wieder ein bisschen beim Runterschalten vor den scharfen Kurven, aber der Pickelige fuhr ziemlich gut. Fand ich. CW fand natürlich: Er selbst könnte das doch deutlich besser.

CW wäre natürlich gar nicht erst nach London gereist. Wegen der Malwinen. Gäbe es einen Sprachkurs, um Englisch wieder zu verlernen, unser falscher Oberargentinier säße da drin, erste Bankreihe, direkt vorm Lehrertisch.

Mein bayerischer Freund und ich sitzen mittlerweile in einer Londoner Kneipe, und plötzlich tippt er mir auf die Schulter. Die Zwei da reden Spanisch, sagt er. Ich horche auf. Ich gehe hin, frage nach und: Argentinierinnen! Und was für welche! Schon sprudelt es aus mir heraus. Mein erstes Praxisspanisch außerhalb von Skype, seit ich wieder in Europa bin. Die argentinische, also oft freie und noch öfter eigentlich falsche Grammatik, die in keinem Lehrbuch steht, ist immer noch da! Und jeder Satz beginnt wieder mit »Cheeeeeeee« (Hey!), jeder zweite endet mit »boludo« (Trottel, Schwachkopf).

Die beiden Studentinnen reisen durch Europa. Barcelona, Amsterdam und Paris haben sie bereits hinter sich gelassen. Jetzt sind sie in London und außerordentlich skeptisch. Ich verstehe das natürlich total. Las Malvinas fueron, son y serán argentinas. – Die Malwinen waren, sind und werden immer argentinisch sein. Jedenfalls in dieser letzten Nacht des Jahres.

Grafito auf der Plaza de Mayo von Buenos Aires

Zwischendurch denke ich an den 31. Dezember 2012. Córdoba, die zweitgrößte Stadt Argentiniens, wegen ihrer vielen Universitäten auch »La Docta« (Die Gelehrte) genannt. Eine Freundin hatte mich eingeladen. Wir feierten bei ihrem Freund und dessen Familie. Einer zwölfköpfigen. Und ich, der sie noch nicht richtig verstand. Irgendwann, ganz späte Stunde, sehr früher Morgen, fragte der Onkel: »Was macht der eigentlich hier?«

Ein paar Tage später verabschieden wir uns von London – und von den zwei Argentinierinnen. Sie versprechen, mich in Berlin zu besuchen. Cheeeee, ich warte.

Fortsetzung folgt.

Ein Herzensargentinier im Exil (1): Mein Name sei Gandalf

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Herr T. hat ein Jahr in Argentinien gelebt. Der Leser des Argentinischen Tagebuchs kennt ihn vor allem als nervenstarken Reisebegleiter nach Chile und Bolivien. Heute vor einem Jahr landete er wieder in Deutschland.

Herr T. in Santiago de Chile

Herr T. auf dem Cerro San Cristóbal, dem Hügel über Santiago de Chile (Dezember 2012)

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Mit diesem Text wird es offiziell: Ich bin ein Exilant. Fernab der emotional neugewählten Heimat, schreibe ich diese Zeilen voller Sehnsucht nach meinem Land. Ganze 333 Tage habe ich dort verbracht, und fort wollte ich schon nach 33 nicht mehr. Man kann zwar von Wein, Fleisch und nächtlichen Ausschweifungen durchaus leben, mitunter sogar ausgezeichnet, muss sie aber auch bezahlen können. So drücke ich nun wieder in Deutschland die Schulbank und verharre in Studierzimmern, um mich eines Tages als Magister zu betiteln. Und zurückzukehren.

Bis dahin versuche ich, mir Argentinier nahe zu halten. Fotos schmücken meine Regale, ein Baby-Lama bewacht mein Kopfkissen, eine weiß-himmelblaue Flagge mit der Sonne weht über meiner Tür, und ein Malbec steht in der hintersten Ecke meines Schreibtisches. Ich habe noch nicht gewagt, ihn zu öffnen.

Selbst nicht eingeweihte Gäste sollten bei der Reizüberflutung sofort erkennen, dass ich in Südamerika war. Zwar ist das Reisen auf andere Kontinente längst ein Statussymbol meiner Generation geworden, mit dem jeder Zweite prahlen kann. Aber ich bemühe mich dennoch gleichzeitig cool und voller Glück zu klingen, wenn ich sage: »Ja, ich habe dort unten ein Jahr gelebt.«

In der Universität falle ich auf. Chronisch zu spät kommend, da ich der Gewohnheit folge, einfach zum Bus zu gehen, wenn ich so weit bin, anstatt dann zu gehen, wenn er fährt. In Argentinien wusste ich nie, ob ich den Bus gerade verpasst hatte, oder ob er in der nächsten Minute kommt. In Deutschland weiß ich das. Und bin natürlich sofort frustriert, wenn er nicht pünktlich ist. In den Seminaren werde ich für meinen Mate angestarrt. Die Verbindung zwischen meinem heißem Tee – aua! Zunge verbrannt – und dem Modegetränk aus den deutschen Clubs und Universitätsmensen können nur wenige herstellen. Es verwundert daher nicht, dass ich recht exotisch wirke, wenn ich konzentriert schauend oder zumindest konzentriert tuend Referaten lausche und dabei schlürfe. »Du bist wie Gandalf!«, heißt es von einer Kommilitonin. Es gelingt einem richtigen Argentinier sehr selten, seine Großartigkeit zu verbergen.

Herr T. im Salar de Uyuni (Bolivien), der größten Salzwüste der Welt (Februar 2013)

Auch im sozialen Leben ecke ich an. Der beste Wein der Welt, den ich anfangs für gemütliche Runden beisteuerte, wurde von den Freunden zwar probiert − abgestürzt sind sie aber dann doch lieber mit Bier. Bei der Weltmeisterschaft störte sich niemand an meiner Unterstützung Argentiniens. Erst als die Niederlande verloren hatten und das Finale feststand, kamen die Fragen.

»Für wen bist du denn?«

»Na, für beide.« Zwei Kammern eines Herzens.

Als Mario Götze das Tor schoss, rief ich »Ja!«, begriff, rief »Nein!«, begriff abermals, erntete Blicke und flüsterte: »Vielleicht.«

Argentinien hatte verloren, doch wenigstens wusste Deutschland wieder, dass es uns gibt. Da sich mein Leben tatsächlich ein Jahr lang um und innerhalb Südamerikas drehte, nervte ich wohl viele meiner Freunde. Wahrscheinlich war ich tatsächlich schwer erträglich mitunter. Wenn auch der siebte Satz mit »Als ich in Argentinien war …« beginnt, stößt Toleranz an Grenzen. Mein Vater gab mir einen Rat: »Du wirst viel zu erzählen haben, aber keiner wird es hören wollen.« Er selbst verbrachte lange Zeit im feindlichen inselstehlenden Königreich. Ganz egal, wo er gewesen ist: Er hat Recht.

Meine Rückkehr war seltsam. Nach dem Lärm und der Größe von Buenos Aires, war mein kleines Dörfchen mit gerade einmal 300 Einwohnern so winzig und so still. Argentinier – per Skype zugeschaltet – konnten mir gar nicht glauben, dass es keine Bars gibt, es auf den Straßen ungefährlich ist und vor allem, dass nach Mitternacht die Laternen ausgehen. Schnell fiel mir die Decke auf den Kopf. Mit einem neuen Studienplatz im Ausblick, packte ich meine Sachen. Doch es reichte nicht. Eine neue Reise kam dazu: London wird es sein. Der Alltag sollte mich noch nicht so schnell wieder haben.

Fortsetzung folgt

Die Spül-Theorie von der Insel der strickenden Männer

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Der Hausherr ist im Augenblick ein bisschen wortkarg. Ein Gerücht besagt, jedenfalls pfeifen es die Loris von den Dächern, CW bereite sich auf einen Wahnsinnstrip vor: Angeblich wird er am Sonnabend zum Wallfahrtsort nach Luján pilgern. Ob er weiß, auf was er sich einlässt? Ich zitiere:

40 km schnurgeradeaus, an der Bahntrasse entlang, die einzige Abwechslung sind wechselnde Grill-Getränke-Devotionalienstände am Wegesrand. Dann war es auch noch empfindlich kalt, da es ja noch Frühling ist, was einige Argentinier zu den erstaunlichsten Maßnahmen getrieben hat. Generell war aber die Leidensbereitschaft wirklich beeindruckend: Auf den letzten Kilometern haben sich viele Leute mehr geschleppt als sie gewandert sind, und die Straßen waren gesäumt von Pilgern, die nicht mehr konnten und einfach am Straßenrand lagen oder apathisch oder schlafend auf den Leitplanken hockend, manchmal notdürftig mit Decken zugedeckt, oft mit Kindern dabei. In der stoisch vorbeihumpelnden Masse kam ich mir oft eher vor wie in einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen als auf einer Pilgerfahrt.

Und da mein alter Reisekumpel CW vermutlich noch im Höhentrainingslager ist oder sich beim umstrittenen spanischen Sportmediziner Eufemiano Fuentes einer Blutdopingbehandlung (»Er will nur Chancengleichheit«) unterzieht, kapere ich jetzt einfach sein Blog, um das hier darbende »Premium-Publikum« (O-Ton Hausherr) nach Peru zu entführen. Wer mag, kann sich ein bisschen einlesen:

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Einerseits bin ich froh, endlich angekommen zu sein. Der Alleinreisende hat ja doch selten Glück mit dem Busnachbarn. Meiner war groß und schwer, ein Mann, der gerade noch in den Sitz passte. Und wenn er sich bewegte, weckte mich seine über die Mittellehne ragende Körpermasse. Andererseits hätte ich noch gute fünf weitere Stunden Schlaf vertragen können, und die eisige Kälte und die Dunkelheit sind auch keine Stimmungsmacher.

Ich sehe, und das weiß ich ohne Spiegel, sehr geschunden aus: Sonnenbrand auf der Nase, Ringe unter den Augen, unrasiert seit – ja seit wann eigentlich? Seit einer Woche? Es ist jedenfalls, so viel ist sicher, Tag 9 meiner Peru-Reise, und ich bin in Puno, der Uferstadt am Titicacasee. Auf 3800 Metern über dem Meeresspiegel leben hier fast 120 000 Menschen.

Noch sieht man nicht viel. Es ist 4 Uhr in der Früh, und nur ein paar Lichter brennen. Ich schlurfe schnell zum Gepäckfach des Busses und stelle mich an, um meinen Rucksack abzuholen. Man kann über Argentinier sagen, was man denn möchte, aber sie verstehen es wenigstens, sich ordentlich in eine Schlange zu stellen. Eine ältere Peruanerin aber stellt sich in die vierte Reihe mitten ins Gewühl und schreit solange, dass der graue Koffer doch ihr gehöre, bis sie ihn bekommt. Äußerst lästig.

Als ich warte, stelle ich fest, dass mir das Hühnchen, das ich vor meiner Abreise in Cusco gegessen habe, nicht wohl bekommen ist. Es rächt sich postum in Form starker Magenkrämpfe. Schnell fliehe ich mit Rucksack in das Terminal und werde überrannt. Dutzende Reiseleiter stehen zu beiden Seiten und rufen mir Angebote zu. Ich winke ab und schlurfe zur ersten Sitzbank, die ich finde. Ein Reiseleiter ist an mir dran geblieben. »Na Amigo, willst du den Titicacasee sehen?«, fragt er. Ich habe nicht die Kraft, noch weiter zu widersprechen, und folge ihm in sein Büro. Eine Karte des Sees ziert die Wand, ebenso Fotos von Buslinien.

Mein Rattenfänger stellt sich als Marcelo vor, und er verkauft mir erfolgreich eine Bootstour zu den schwimmenden Inseln der Urus und zu der Insel Taquile. Dies werde den ganzen Tag dauern. Ich stimme zu. Ich habe nicht vor, länger hier zu bleiben, da ich rechtzeitig wieder in Lima für meinen Rückflug sein muss. Ich gebe Marcelo die Hand und gehe erst mal Frühstücken. Aus einem Fenster sehe ich, wie langsam die Sonne über Puno aufgeht. Mein Reiseführer nennt es: blühend und lebendig. Ich finde es eher unschön und karg. Auf den ersten Blick zeigt sich nur wenig von der kolonialen Architektur, die in Perus Städten so berühmt ist, aber mir ist schon klar, dass ich von einem Bahnhofsviertel zu viel erwarte. Auf meinen langen Reisen mit CW habe ich allerlei Erkenntnisse gesammelt, und eine lautet: Wenn du denkst, du hast schon nichts gesehen, kommt immer noch ein Bahnhof, der weniger zu bieten hat.

Die Krämpfe plagen mich nach wie vor.

Als es Zeit für die Tour ist, warte ich auf Marcelo. Er kommt einen Tick zu spät und flucht stark in sein Telefon. Wahrscheinlich denkt er, dass ich nichts verstehe. Er telefoniert mit dem Fahrer, lotst mich nach draußen und setzt mich in einen Wagen voller fremder Touristen. Der Bus fährt uns fünf Minuten zum Hafen und spuckt uns alle aus. Ich bin etwas unsicher, ob ich wirklich zu dieser Gruppe gehöre, zumal ich mehrfach gefragt werde, welches Hotel ich bewohne. Im Hafenwasser liegen alte Schwanenboote. Man sieht sofort, wie verschmutzt das Wasser ist.

Ich setze mich neben einen jungen Spanier. Er sieht aus wie Javier Bardem, trägt eine bunte Wollmütze und ist ganz aufgeregt wegen der Bootstour. Als wir uns unterhalten, merke ich, was von meinem einst in Deutschland gelernten Spanien-Spanisch nach einem Jahr in Argentinien übrig geblieben ist. Meine Ohren verstehen unargentinisches, also ungenuscheltes Spanisch kaum noch.

Ein Mann mit Baseballmütze steht jetzt vorne und stellt sich als unser Führer vor. Er heißt Leandro und er erklärt in Englisch und Spanisch die Regeln des Schiffes. So dürfen wir erst auf das Dach des Bootes, wenn wir außer Sichtweite des Hafens sind. Wir dürfen den Auspuff des Schiffes nicht berühren und die Toilette nur für Pipi benutzen. Nach einer halben Stunde verfluche ich die letzte Regel. Mein Magen schmerzt ja nicht ohne Grund. Als wir auf das Dach klettern, vergesse ich das immerhin kurz – die Aussicht ist wunderschön. Dies also ist der höchstgelegene befahrbare See der Welt: 178 Kilometer lang und 67,4 Kilometer breit. Javier ist die meiste Zeit draußen, weshalb ich seinen Platz nutze, um zu schlafen. Die Krämpfe werden schlimmer.

Unser erstes Ziel sind die schwimmenden Inseln der Urus. Aus schwimmendem Torf und dem Seegras Totoru haben die Urus hier ihre kleinen Hütten gebaut. Früher taten sie das, um sich vor den Inkas zu schützen. Heute tun sie es wohl mehr, um den Touristen eine Show zu bieten. Wir halten an und betreten die Inseln. Auf dem Gras zu gehen ist seltsam. Die Insel bewegt sich mit den Wellen, und man sackt ein wenig ein. Leonardo erzählt, dass er hier manchmal gegen die Inselbewohner ein bisschen Fußball spiele. Er habe noch nie gewonnen, weil er auf dem Gras einfach nicht laufen könne. Ohne Gram begrüßt er jedoch die Inselbewohner und stellt den Präsidenten vor: Ein barfüßiger Mann kommt leichtfüßig angesprungen. Falls ich jemals Bundespräsident werden sollte, werde ich – das ist hiermit versprochen – als erste Amtshandlung alle meine Schuhe wegwerfen.

Der Präsident und Leonardo erklären uns die Bauweise der Insel und erzählen vom Leben der Urus. Auch das Gras wird ausführlich gepriesen. Anscheinend gibt es nichts, wofür man Totoru nicht nutzen kann: Es ist Medizin, Bausubstanz und Nahrungsquelle. Einige meiner Tourbegleiter lassen sich in einem Totoru-Schiffchen um die Insel fahren. So ein Schiff sei für die Urus wie ein Mercedes-Benz, sagt Leonardo. Die Urus haben den Tourismus für sich erschlossen und verkaufen Decken und Spielzeuge. Auch die Vorteile einer Solaranlage haben sie entdeckt. Nach ein bisschen Freizeit fahren wir weiter. Ich nutze die Stunden des Unterwegsseins wieder zum Schlafen und wünsche mir vorher ganz doll, nachher ohne Magenkrämpfe aufzuwachen.

Natürlich ist nachher alles wie vorher, aber immerhin stricken um uns herum jetzt Männer. Sie machen traditionelle Mützen und Gewänder. In Deutschland sind die Strickmännchen ja mit dem Groß- und Altwerden der Grünen ausgestorben. Oder? Jedenfalls sind wir jetzt auf Taquile, der Insel der strickenden Männer, wie sie auch genannt wird.

Hunde seien verboten. Zu laut und zu dreckig. Die 1600 Einwohner wollen lieber ihre Ruhe. Am Hafen entdecke ich eine Toilette. Meine Rettung! Und ich vergesse sogleich die wohl wichtigste Verhaltensregel bei Magenkrämpfen: »Bitte renn nicht! Das Ziel wirkt näher, als es ist!«

Puh. Knapp war’s. Sehr knapp. Aber schlagartig geht es mir besser.

Jetzt nur noch weg mit dem Übel, das sicher gegen sämtliche Umweltauflagen und Emissionsrichtlinien verstößt. Nur: Wo ist die Spülung. Ich suche, aber da ist keine Spülung. Genau, und jetzt fällt’s mir auch wieder ein, Taquile hat ja keine Strom- oder Wasserversorgung. Gespült wird mit der Gießkanne. Schamerfüllt krame ich beim Hinausgehen in meiner Tasche und drücke der Toilettenfrau einen Sol in die Hand – umgerechnet keine 30 Cent.

Und flüstere: »Perdón.«

Taquile hat einen kleinen Berg. Ich befinde mich schon 3800 Meter über dem Meeresspiegel. Selbst ein kleiner Aufstieg kann hier zur Tortur werden, doch meine Scham beflügelt mich. Ich renne auch der Angst davon, dass mir die Toilettenfrau schlimme, seit Generationen weitergegebene Flüche (Impotenz! Haarausfall! Stricksucht!) hinterher schickt. Erst nach der Hälfte der Strecke merke ich, dass ich mich komplett übernommen habe. Keuchend gehe ich langsamer und begegne zwei Amerikanern. Die beiden älteren Herren leiden sichtlich unter der Höhe. Als ich einem von ihnen Wasser anbiete, scherzt er, dass er jetzt eher Sauerstoff brauche. Ich lass die Halbgreise zurück, ich setze mich ab und blicke nur hin und wieder zurück. Ich habe einen Lauf.

Und dann plötzlich: wieder Magenkrämpfe. Ich muss mich kurz setzen. Die Aussicht soll mich ablenken. Bitte, Aussicht! Es ist übrigens unvorstellbar ruhig. Ab und zu hört man einen Vogel, gelegentlich auch die Stimme eines Touristen in der Ferne, aber sonst nichts. Kein Auto. Keinen Bus. Stille. Ich bin beeindruckt. Mein Magen leider nicht.

Es hilft nichts, ich muss schon wieder nach einer Toilette suchen. Die kleinen verwinkelten Straßen mit ihren verborgenen Ecken sehen verführerisch aus, doch ich schleppe mich auf die Spitze des Hügels. Hier, im Zentrum der Insel, ist eine Markthalle. Ich krame noch mal einen Sol aus der Tasche und drücke ihn einer alten Dame mit einem kleinen Kind in die Hand. Da ich weiß, was geschehen wird, kundschafte ich schon vor der Tat einen Fluchtweg aus.

Als ich fertig bin, geht es mir tatsächlich einen Augenblick lang besser. Mit der Wasserkanne, die neben der Toilette steht, versuche ich, mein Chaos selbst zu beseitigen. Aber ich bin eben doch ein Kind der Moderne. Ich mache alles nur noch schlimmer. Aber was kann ich dafür, dass ich in einer Welt mit Klospülung aufgewachsen bin?

Ich weiß, man soll zu seinen Taten stehen, wegrennen macht alles nur noch schlimmer.

Aber ich bin ja schon weg.

Die Letzten aus unserer Gruppe erreichen den Berg. Auch die luftlosen Amerikaner. Zeit fürs Mittagessen. Fisch oder Omelette? Beides klingt suspekt, aber ich nehme den Fisch und esse ein wenig. Als ein Musiker auftaucht, schleiche ich mich zum dritten Mal auf die Toilette; der halbe Fisch, der noch auf dem Teller ist, kann mich mal.

Ich habe Taquile überlebt, die Insel ohne Hunde und ohne Lärm. Ach Taquile, wir sind auf ewig verbunden. Auf der Rückfahrt schlafe ich wieder, und als wir Puno erreichen, rufe ich ein Hostel an und reserviere ein Zimmer. Mit dem ersten Bus fliehe ich aus dieser kalten Stadt mit dem großen See.

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Und so geht es weiter: Schluchten und Kondore


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)