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Reisebericht (I) : Exil in Chile

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T. lebt für ein Jahr in Buenos Aires. Kommt klar. Muss aber als Tourist, der er laut Reisepass ist, stets nach drei Monaten fluchtartig das Land verlassen, um wieder einreisen zu dürfen. Als Tourist. Tut das nun zum ersten Mal und wählt als Einwochenexil Santiago de Chile und Valparaíso. Wird begleitet von CW. Der ist kein Tourist, sondern Argentinier. Genauer: Porteño. Seit Juli 2012. Kennt Herrn T. kaum und Chile überhaupt nicht.

Teil 1 des Reiseberichts unserer beiden Helden

  • Sonnabend/Sonntag: Buenos Aires → Santiago de Chile

(cw) Ich mache mir Sorgen um Herrn T. Muss der Kerl eigentlich nie aufs Klo? Seit acht Stunden sitzen wir nebeneinander im Bus, unterwegs nach Santiago de Chile. Ich schlürfe Mate ohne Pause und kenne die Toilette bereits in- und auswendig. Herr T. kann trinken, ohne zu pinkeln. Ja, er ist ein bisschen jünger als ich, zehn Jahre oder so, man sieht uns den Altersunterschied nicht an. Nur beim Harndrang wird er offensichtlich.

Ich habe mir mehr von meinem Begleiter versprochen, eine Hilfe ist Herr T. jedenfalls kaum. Er versteht den nuschelnden Busbegleiter, der die Verpflegung reicht, genauso wenig wie ich. Der kommt zum Beispiel mit einer Kanne und sagt: »©€® ¥∞µƔ ƈǂƾɀ ɞɷʄῶ⁞ Ωⅎ ⌂ ∩◊◌⸗ cafe.« Herr T. schaut mich an, ich schaue Herrn T. an, wir nicken und kriegen Kaffee.

Ich erzähle Herrn T., dass ich im Argentinischen Tagebuch einen baldigen Streit zwischen uns angekündigt hätte, wir seien bereits in Verzug. Er lacht, er nimmt mich nicht ernst.

(Herr T.) Auf unserer 20-stündigen Reise nach Chile sitzen CW und ich direkt vor der Bord-Toilette. Während ich den Vorteil daraus ziehe, in aller Kürze jeden unserer Mitreisenden zu studieren, scheint CW dadurch nur inspiriert, ständig in der engen Kabine zu verschwinden.

Ich stelle fest: Wir sind die einzigen Deutschen im Bus. Pardon. Ich bin der einzige Deutsche im Bus. CW bezeichnet sich – mit stets überschwänglicher Gestik und lauter Stimme – als Porteño, als Bürger der argentinischen Hauptstadt. Ich werde dafür später den Ausdruck Überintegration verwenden.

(cw) Mitten in der Nacht, es mag vier Uhr sein, hält der Bus auf einem Bahnhofsvorplatz, um noch ein Paar einzusammeln. Ich steige kurz aus, um mir das Kribbeln aus den Beinen zu hüpfen, sehe eine Prostituierte und treffe den Busbegleiter.

»Wo sind wir?«, frage ich.

»Was?«

»Wo sind wir?«

»$&@Ω^†™#◊_Œ⸗.«

»Ah, danke«, sage ich und gehe wieder schlafen, ich versuche es jedenfalls. Die Sitzlehne lässt sich zurückklappen, es gibt ein Kissen und eine Decke, aber ein Bett ist das natürlich nicht.

(Auf der Rückfahrt mit einem anderen Bus-Unternehmen, aber das wissen wir noch nicht, wird es weder Kissen noch Decken geben. Den Mann, den wir anfangs für unseren Verpfleger halten, werden wir prächtig verstehen. Wir wissen dann nur nicht, wozu. Er verpflegt uns nämlich nicht.)

Als ich aufwache, sind wir bereits in den Anden und beginnen mit dem Aufstieg zum Grenzübergang. Die Aussicht ist atemberaubend. Links und rechts, vorne und hinten, wohin man auch schaut: Berge, Berge, Berge. Schnee auf den Kuppen. Bäche neben der Straße. Die Natur macht sich rarer mit jedem Kilometer, zieht sich zurück, spart an Farben und an Vielfalt. Die Welt ganz oben ist grau mit einigen grünen Tupfern.

Der Bus jagt durch die Kurven. Manchmal gibt es Leitplanken. Ich stehpinkele, mittlerweile zum Leidwesen meiner Schuhe, schon wieder.

(Herr T.) CW ist der einzige, der im Reisebus bei voller Fahrt versucht, seinen Mate zu trinken. Und als hätte ich es nicht geahnt – muss ich alle zwei Minuten doch irgendwas für ihn halten –, kippt ihm der Becher dreimal um. Zum Vergleich: Echte Argentinier schaffen es sogar, zu zweit auf einem fahrenden Motorroller Mate zu trinken, ohne etwas zu verschütten. Ich überquere die Grenze schließlich mit nassem Mateschlamm unter meinen Füßen.

Auf der Rückfahrt wird CW seinen Mate verlieren. Wo? Auf der Bustoilette natürlich. Der Becher rutscht ihm aus der Hand und verschwindet in den gesammelten Ausscheidungen aller Passagiere.

◊◊◊◊◊

  • Sonntagnachmittag: Santiago de Chile

(cw) In Buenos Aires, ein paar Tage vor der Abfahrt, hatte Herr T. versprochen, alles zu organisieren. Nichts, fast nichts, ist organisiert! Erst versteht man im Bus kein Wort, jetzt suchen wir eine Herberge für die erste Nacht in der chilenischen Hauptstadt. Er hat natürlich nichts reserviert, er besitzt nur einen Haufen Adressen von Hostels, die er auf dem Stadtplan aber nur mit meiner Hilfe findet. Ich komme mir vor wie Josef an Heiligabend. Herr T. könnte Maria sein, einen Bauch hat er jedenfalls. Für den bin ich genauso wenig verantwortlich wie Josef für Marias. Der Bauch heißt auf Spanisch übrigens la panza und ist feminin.

Als Herr T. duscht, schleiche ich aus dem Zimmer und hole mir auf der Plaza de Armas, dem zentralen Platz der Hauptstadt, zwei Hotdogs. In Buenos Aires heißen sie panchos, hier completos, und sie werden mit Avocadocreme gereicht. Ich verschlinge sie und bewundere meinen Magen: erst die Anden rauf, dann die Anden runter, jetzt zwei Hotdogs, umspült von einer eiskalten Cola. Respekt, Magen!

(Herr T.) Statt des günstigen Achtmannzimmers musste es natürlich die Suite für Ehepaare sein. 60 Euro die Nacht. Santiago ist eine Millionenstadt. Es gibt dutzende Hostels. Wer öfter reist, weiß, dass man gar nicht zu reservieren braucht. CW weiß das nicht. So forderte er nach einem Örtchen für seine Notdurft sofort absolute Ortskenntnis. Abgesehen vom Kauf des Stadtplanes machte sich CW selten nützlich. Während ich die Konditionen der Zimmer erfragte, betonte er nur stets Porteño zu sein, was in Chile aber nicht sonderlich hilfreich ist. Sowohl Argentinier als auch Chilenen halten sich für was Besseres. Wahrscheinlich haben wir deshalb auch das Honeymoon-Zimmer bekommen. CW meckerte, ich resignierte. Es gab zwei Kissen, aber nur eine Decke. Ich überließ sie ihm mit Freuden. Hauptsache, ein richtiges Bett nach der langen Busfahrt. Endlich entspannen!

(cw) Ich schlafe nicht mit sechs fremden Männern und einem Deutschen in einem Zimmer. Ich bin fast 35 Jahre alt. Ich mache das nicht mehr. Ja, ich hätte das wohl auch mit 25 nicht gemacht. Bei acht Männern in einem Zimmer sind garantiert zwei dabei, die laut schnarchen und mich um den Schlaf bringen, den ich in meinem fortgeschrittenen Alter brauche.

(Herr T.) Ich muss CW in der Nacht mehrmals boxen. Er schnarcht. Unter der dicken Tagesdecke ist es wahnsinnig heiß.

◊◊◊◊◊

  • Montag: Santiago de Chile

(cw) Wir wollen mit der Seilbahn hinauf auf den San Cristóbal, den Hügel über Santiago, benannt nach dem Heiligen Christophorus, nach dem ich ja auch benannt bin. 880 Meter über dem Meeresspiegel steht die Statue der Jungfrau Maria. Der Papst war auch schon da: Johannes Paul II. hat 1987 eine Messe gehalten.

Ich glaube ja nicht, dass sich Herr T. traut, er wird kurz vor Abfahrt eine Zerrung in der Achselhöhle vortäuschen, dieses Wohlstandskind. Ich habe im Juli 2009 mit der Krimseilbahn den Ai-Petri – Gipfelkreuz auf 1234 Metern – bezwungen. Drei Kilometer durch die Lüfte! Erbaut in nur 20 Jahren! Sowjetische Ingenieurskunst!

An der Kasse dauert‘s länger, Herr T. scheint zu verhandeln, wahrscheinlich versucht er den Preis zu drücken, der Pfennigfuchser, oder er hat – versehentlich, na klar – Karten für den Zoo nebenan gekauft und kann die jetzt nicht umtauschen.

Er kommt wieder und täuscht Niedergeschlagenheit vor. Die Seilbahn wird repariert, also ist jedenfalls kaputt. Uns bleibt nur der Bus hinauf.

(Herr T.) Da bin ich einmal in meinem Leben in Santiago und will mit der Seilbahn fahren. Sie ist kaputt. Schmollend esse ich meine Bananenchips – ein Überbleibsel meiner Flugreise nach Buenos Aires – und biete CW welche an. Er spuckt sie aus.

Oben angekommen, vergesse ich meinen Kummer. Der Ausblick ist wunderbar. Wir sind keine 1000 Meter über der Stadt, aber können alles überblicken. Hinter uns thront die 22 Meter hohe Statue der Jungfrau Maria, ein Krippenspiel ist aufgebaut. Ich versuche, den Ausblick zu genießen und Fotos zu machen. CW zerstört die Idylle: »Ich will eine Cola!«, schreit er, sichtlich schwitzend, den Abhang hinab. »Mach mal ein Foto von mir«, fordert er, »meinen Rücken vor dem Panorama.« Ich knipse ein paar Fotos. CW ist nicht zufrieden: »Was machst du denn? Da ist ja meine Nase mit drauf. Ich zeig dir mal, wie ich das meine. Stell dich da mal hin!« Er fotografiert mich, zeigt mir, wie er es haben will. Ich verstehe. Er will seinen Zinken auf keinem Bild wiederfinden. Dann halt nur Bilder vom Hinterkopf. Ist vielleicht auch besser so. Ich fotografiere, wie befohlen und … CW ist nicht zufrieden. »Warum sehe ich nicht so cool aus wie du?«, fragt er. Es wird das einzige Kompliment sein, das ich je von ihm höre.

Bereits beim Umzug von einer Schlafmöglichkeit in die andere haben wir festgestellt, dass es in Santiago von Deutschen nur so wimmelt. Alleine in unserem neuen Hostel arbeiten vier deutschsprachige Mädchen. Und auch auf dem Hügel treffen wir eine Deutsche, die uns nach längerem Smalltalk ein Restaurant empfiehlt. Durch die Anwesenheit der Deutschen fühlt sich CW belästigt. Anscheinend hat er Angst, dass ihm niemand seine Porteño-Masche abkauft, wenn er unter Deutschen wandelt. Zu seinem Glück werde ich durch meinen Akzent immer für einen Franzosen gehalten.

(cw) Der Franzose muss endlich etwas Vernünftiges essen! Nicht immer nur diese Bananenchips, die nach gepressten Holzspänen schmecken und auch so aussehen. Wenn er nichts gegessen hat, ist er so empfindlich. Nachdem wir den San Cristóbal hinabgestiegen sind, spendiere ich ihm erst mal zwei completos.

(Herr T.) Wie CW completos isst, hat was Groteskes. Japsend, mehr schluckend als kauend, braucht er für einen ganzen completo keine 60 Sekunden.

(cw) Wir laufen ein bisschen durch die Innenstadt von Santiago. Ich kaufe für umgerechnet zwölf Euro einen Sonnenhut, den ich auf der Rückreise nach Buenos Aires irgendwo verlieren werde. An jeder Straßenkreuzung fährt Herr T. mit seinem Zeigefinger über den Stadtplan, den er danach immer wieder ordentlich zusammenfaltet, ehe er an der nächsten Straßenkreuzung … Er kann nicht loslassen. Ich lasse mich an fremden Orten treiben. Ich bin quasi überall zu Hause.

(Herr T.) Überall zu Hause? Der hässliche Hut – den ich bezahlen musste, weil CW kein Geld hat – lässt jeden Einwohner Chiles sofort erkennen, dass er Tourist ist. Wenn er dann wild fuchtelnd behauptet, Argentinier zu sein, müssen sich diese schon fast beleidigt fühlen. Bevor wir uns zum Abendessen aufmachen, brauchen wir eine Pause im Hostel. Besser gesagt, CW braucht eine Pause, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Außerdem ärgern ihn seine Zweiminutencompletos vom Nachmittag ein bisschen.

Wir stehen schließlich vor einem Frisör und sind verwirrt. Hier soll man essen können? In der Tat! Ein Seiteneingang führt uns zu einem schicken und verwinkelten Restaurant. Wir kriegen die Karte und verzweifeln. Mein Wortschatz erweitert sich zwar täglich, aber Meerestiere gehören (noch) nicht dazu.

(cw) Ich neige zum Carpaccio del pulpo. Frage vorher Herrn T., was das für ein Tier sein könnte.

(Herr T.) Ich bitte den Kellner, mir auf Spanisch zu erklären, was ein pulpo sei. Er formt die Hände so, als würde er einen Ball halten. »Un calamar«, sagt er und schaut mich an. Dann grinst er, reißt seine Augen weit auf. Wahnsinn funkelt auf. »Un calamar grande«, wiederholt er. »Gra-Gracias«, stottere ich leicht eingeschüchtert und bestelle Seehecht.

(cw) Ich nehme Riesenkrake, natürlich.

Fortsetzung folgt

Betriebsferien

von CHRISTOPH WESEMANN

Gleich fahre ich mit meinem Begleiter Herrn T. nach Santiago de Chile – Ankunft: irgendwann nach mehr als 20 Stunden im Komfortbus. Wir planen, sieben, acht, neun Tage unterwegs zu sein. Wahrscheinlich werden wir uns aber schon am Ortsausgang von Buenos Aires zerstritten haben. Mal schauen, ob ich mich aus Chile melde, ein bisschen Technik ist im Gepäck.

Ich habe, weil wir ja [Argi-Arroganz an] ein viel weniger zivilisiertes Land bereisen [Argi-Arroganz aus], meinen Brustbeutel aus den Ferienlagerzeiten 1988-1990 ausgegraben.

Der Berg ruft

von CHRISTOPH WESEMANN

Was sich der Mann in den Kopf gesetzt hat, kriegt er dort so leicht nicht mehr heraus. Zweimal hat er bereits versucht, im Geländewagen den Hügel zu bezwingen und den Atlantikstrand von Mar de las Pampas zu erreichen, einem Städtchen im Süden der Provinz Buenos Aires, 100 Kilometer entfernt von der argentinischen Sommerhauptstadt Mar del Plata.

Die Weibchen der Familie – meiner, nicht seiner – verachten ihn längst. Ach, Naturschutzhysterikerinnen! Doch er gibt nicht auf. Er lässt Luft aus allen vier Reifen und wagt es noch einmal. Zwei Tage hat es geregnet, der Sand ist nass – wann, wenn nicht jetzt, soll er den Berg bezwingen? Und siehe da: Im dritten Versuch schafft er’s. Guter Junge!

Ich will es ihm nachtun und habe schon die Finger am ersten Ventil, werde aber zurückgehalten und begnüge mich deshalb mit einem abgewandelten Homer-Simpson-Heldengehupe: Ar-gen-ti-na!- Ar-gen-ti-na! Ar-gen-tina!

Proleten müssen doch zusammenhalten.

 

 

Freie Gabel auf der Straße des Todes

von CHRISTOPH WESEMANN

Provinz Corrientes, Kilometer 452 der Ruta Naci0nal 14, einer Straße mit fürchterlichem Spitznamen. Buenos Aires ist eine Weltreise oder eben 650 Kilometer entfernt. Neben dem Sitz steht griffbereit der Mate, der – wie Argentinier glauben – auch den Appetit zügelt. Aber vor diesem Hunger, der einen rechts und links Rinder sehen lässt, wo keine sind, kapituliert er.

Zeit für eine Rast in der Parrilla.

Der Asador, der Grillmeister, verspricht in seinem Zelt »tenedor libre«, also »freie Gabel«, die argentinische Variante des »all you can eat«. Es gibt Chorizos, diese groben Würste, natürlich carne und pollo. Immer wieder köstlich, dass der Argentinier zwischen »Fleisch« und »Huhn« unterscheidet. Fleisch kommt nur vom Rind. Huhn ist kein Fleisch, sondern – Huhn.

Unser Asador hat inzwischen den Tisch gedeckt und die Getränke gebracht. Er bietet auch Salat an und verspricht eine Nachspeise. Aber was ist bloß mit den Kindern los? Sie verlangen Servietten – und bekommen eine Küchenrolle.

Mit dem Besen verscheucht der Asador die zwölf Hunde (geschätzt). Die 55 Fliegen (ebenfalls geschätzt), die auf dem noch rohen Fleisch vor dem Grill Starten und Landen üben, sind deutlich hartnäckiger. Die Grillstube wirkt ein bisschen schmuddelig und staubig, aber dass jetzt eine argentinische Großfamilie einkehrt, ist bestimmt ein gutes Zeichen. Die deutsche Großfamilie empfängt es wie ein Gütesiegel vom Hygieneamt.

Eine Stunde später wird man die argentinische Großfamilie an einer Tankstelle wiedersehen und feststellen, dass es eine uruguyaische Großfamilie ist. Das Oberhaupt wird sagen: »Uruguay ist das bombastischste Land der Welt. Und Uruguayer sind die geilsten Typen auf Gottes Erde.« Da muss man natürlich widersprechen. »Hör mal! Argentinien: der tollste Fußball, das beste Fleisch, die schönsten Frauen, die breiteste Straße der Welt und die längste Straße, der höchste Berg Südamerikas. Und jetzt kommst du, mein Freund.« Er fragt, in wie vielen Etappen man die 1300 Kilometer vom Norden in die Hauptstadt zurückzulegen gedenkt. Man flüstert: drei Tage. Riesengelächter. Brrrrrruuuuuuuuaaarrrrrr. Er macht‘s in einem Ritt, er fährt sowieso wie der Teufel höchstpersönlich. »Meine Frau schimpft immer mit mir, wenn ich 200 fahre«, sagt er, »aber sie schimpft auch, wenn ich 10 fahre. Also fahre ich 200.«

Noch zweimal wird er einen überholen und Sekunden später am Horizont verschwunden sein. Er muss wohl öfter halten, sei es, dass den Kindern von der Raserei schlecht wird, sei es, dass sein weißer Pickup zu viel Sprit schluckt. Die eigene Rennstrategie ist: ein gleichmäßiges Tempo von 140, zwanzig mehr als erlaubt, und wenige Boxenstopps.

Der Asador bringt das Fleisch. »Woher seid ihr?«, fragt er. »Frankreich?«
Also, bitte.
»Beckenbauer! Äh, wie nennt ihr ihn: Kaiser?«
Fußballwissen wird abgefragt. Daniel Passarella, den Namen schon mal gehört? Sag mal, wo spielt Carlos Tévez noch mal? Ach ja, stimmt, ein guter Stürmer. Warum ist Messi, als er 13 war, mit seiner Familie nach Barcelona ausgewandert? Unglaublich.

Irgendwas schlägt auf den Magen. Das Fleisch? Die Fliegen? Die Musik aus dem Lieferwagen draußen? Auf die Zunge und die Eingeweide verzichtet man jetzt doch. Und um den Asador nicht zu beleidigen, reicht man die unverzehrten Steakreste an die Hunde unterm Tisch weiter.

Die Toilette ist auf dem Hof. Damals, nach dem Mauerfall, wusste man nicht, wie das Westwasser aus dem Hahn kommt, weil es nichts zum Drehen gab. So ist das hier auch. Man fuchtelt mit den Händen herum und hofft auf ein Wunder. Tja, dann eben nicht.

Der Flan als Nachspeise schmeckt trotzdem.
»Von der Señora zubereitet?«
»Jaja, von der Mutter vom Dickerchen da.«

Der Junge, vielleicht 17 Jahre alt, hat die Statur eines Gewichthebers, er sieht aus, als hätte man Manfred Nerlinger den Schädel abgenommen und einen Indianerkopf raufgeschraubt. Seit einer halben Stunde schleppt er Kisten aus dem Transporter vor der Parrilla, meist drei auf einmal, ohne dass es ihn anstrengt.

Und dann geht es zurück auf die Ruta 14. Die Straße entlang der Grenzen zu Uruguay und Brasilien beginnt in der Provinz Entre Ríos, führt durch die Provinz Corrientes und endet nach 1127 Kilometern in der Provinz Misiones kurz vor den Wasserfällen von Iguazú hoch im Norden. Ruta 14 heißt: oft nur eine Spur in jede Richtung, viele Berge, viele Lastwagen, viele Baustellen, viele Polizeikontrollen, viele Unfälle.

Eine Strecke mit einem fürchterlichen Spitznamen: »ruta de la muerte«, »Straße des Todes«.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)