Posts Tagged ‘Parrilla’

Der sechste Geburtstag, drei Rülpser und die deutsche Deklination

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Sechsjährige hat Geburtstag, und weil meine Frau wieder verdienstreist ist, es also keine Torte geben wird, habe ich ihr versprochen, sie samt kleiner Schwester und großem Bruder zum Abendessen auszuführen. Riesige Vorfreude. Der Aufbruch verzögert sich allerdings, denn mein ausgefeiltes und sehr ökonomisches System der Haushaltsführung hat sich nach zwei Tagen ohne Mama noch nicht komplett herumgesprochen. Kleider werden gesucht und nicht gefunden.

»Wäschekorb, Mädels!«

Der Neunjährige zieht ohnehin an, was er immer anzieht: ein Fußballtrikot. Heute ist es Barcelona. Morgen wird Bayern dran sein, danach Boca, James (Kolumbien, Nr. 10), Quilmes, Argentinien, dann wieder von vorn. Er weiß natürlich, wo er nicht zu suchen braucht.

»Mensch Mädels, eure Kleider sind doch nicht im Kleiderschrank.«

Die Dreieinhalbjährige freundet sich gleich mit der jungen Kellnerin an, kritzelt ein Blatt voll und überreicht ihr feierlich das dadaistische Gemälde, zieht ihr dann, während der Nachbartisch bestellt, an der Bluse und kräht durchs ganze Restaurant: »Gibt es alkoholfreies Bier?«

Jeder will am liebsten eine eigene Pizza. Muss ich denn immer wieder bei null anfangen? Zuhören, Ohren auf:

In Argentinien wird im Restaurant geteilt. Und warum? Weil das Essen ein sozialer Akt ist! Es geht nicht nur um die Nahrungsaufnahme. Der Dicke, der neulich unser verschimmeltes Parkett ausgewechselt hat, ihr wisst schon, wen ich meine, der sagt: »Das Schönste am Grillen ist nicht das Essen, sondern das Vorspiel. La previa. Feuer machen, mit den Freunden am Grill stehen, bisschen was trinken, erzählen, lachen, das Leben genießen.« Verstanden, Kinder?

Die Verhandlungen beginnen. Die Dreieinhalbjährige hält sich raus und geht zum Tisch am Fenster, um das Rentnerpaar vollzuquatschen. Sie breitet ihr halbes Leben aus, es kommt so ziemlich alles zur Sprache, wie es Sitte ist in diesem Land. Argentinische Münder entleeren sich ja gern vor Wildfremden, und die wiederum hören das gern. Ich greife erst ein, als es um »la panzita de mi papito lindo« geht, das »Bäuchlein meines hübschen kleinen Papis«. Man ahnt ja, wohin das noch führen könnte.

In Buenos Aires gibt es inzwischen mehr viel mehr pizzerías als parillas (Steakrestaurants) − 752 zu 555. Angeblich werden in der Hauptstadt jeden Tag 39 000 Pizzas gegessen, 14 Millionen im Jahr. Es ist eine Sache des Geldes. Die Fleischpreise haben sich allein zwischen 2009 und 2012 verdreifacht und sind seitdem weiter gestiegen. Ein Abendessen mit der Familie in der Pizzeria kostet deutlich weniger als in der Parrilla.

Viertel ohne strom

> Viertel ohne Strom

Wir haben gerade angefangen zu essen, als das Licht ausgeht. Es brennen nur noch drei Notleuchten an der Wand, und auf der Straße ist alles schwarz. Es ist nicht so, dass das irgendjemanden im Lokal überraschen oder gar verstören würde. Man nimmt den Stromausfall zur Kenntnis, kommentiert wird er nicht. Ich bereite die Kinder darauf vor, dass auch zu Hause kein Licht sein wird. Das haben sie sich schon gedacht. Man hört das Brummen der Dieselgeneratoren.

Die Bühne betritt jetzt der Verrückte unseres Viertels, ich weiß natürlich, was geschieht. Er hat eine Weile und vermeintlich unauffällig gelauscht und eine fremde Sprache vernommen. Zunächst hält er mich – wegen meines Akzents – für einen Franzosen. Wie immer verbitte ich mir das. Dann sagt er auf Deutsch: »Die deutsche Deklination ist sehr schwerrrrr. Tschüss. Sagt man so?«

Señora, die Rechnung, bitte!

Der Neunjährige rülpst, wie noch nie ein Neunjähriger gerülpst hat. Er ist ganz stolz auf sich, gibt zwei Zugaben und will das gleich Mama erzählen. Er nimmt mein Handy, fängt an zu tippen, bricht ab und fragt: »Kann man das Ö auch mit oe schreiben?«

Beim Warten auf das Wechselgeld lese ich die Nachricht meines Sohnes:

Rülps
Drei Stunden später ist der Strom wieder da.

Freie Gabel auf der Straße des Todes

von CHRISTOPH WESEMANN

Provinz Corrientes, Kilometer 452 der Ruta Naci0nal 14, einer Straße mit fürchterlichem Spitznamen. Buenos Aires ist eine Weltreise oder eben 650 Kilometer entfernt. Neben dem Sitz steht griffbereit der Mate, der – wie Argentinier glauben – auch den Appetit zügelt. Aber vor diesem Hunger, der einen rechts und links Rinder sehen lässt, wo keine sind, kapituliert er.

Zeit für eine Rast in der Parrilla.

Der Asador, der Grillmeister, verspricht in seinem Zelt »tenedor libre«, also »freie Gabel«, die argentinische Variante des »all you can eat«. Es gibt Chorizos, diese groben Würste, natürlich carne und pollo. Immer wieder köstlich, dass der Argentinier zwischen »Fleisch« und »Huhn« unterscheidet. Fleisch kommt nur vom Rind. Huhn ist kein Fleisch, sondern – Huhn.

Unser Asador hat inzwischen den Tisch gedeckt und die Getränke gebracht. Er bietet auch Salat an und verspricht eine Nachspeise. Aber was ist bloß mit den Kindern los? Sie verlangen Servietten – und bekommen eine Küchenrolle.

Mit dem Besen verscheucht der Asador die zwölf Hunde (geschätzt). Die 55 Fliegen (ebenfalls geschätzt), die auf dem noch rohen Fleisch vor dem Grill Starten und Landen üben, sind deutlich hartnäckiger. Die Grillstube wirkt ein bisschen schmuddelig und staubig, aber dass jetzt eine argentinische Großfamilie einkehrt, ist bestimmt ein gutes Zeichen. Die deutsche Großfamilie empfängt es wie ein Gütesiegel vom Hygieneamt.

Eine Stunde später wird man die argentinische Großfamilie an einer Tankstelle wiedersehen und feststellen, dass es eine uruguyaische Großfamilie ist. Das Oberhaupt wird sagen: »Uruguay ist das bombastischste Land der Welt. Und Uruguayer sind die geilsten Typen auf Gottes Erde.« Da muss man natürlich widersprechen. »Hör mal! Argentinien: der tollste Fußball, das beste Fleisch, die schönsten Frauen, die breiteste Straße der Welt und die längste Straße, der höchste Berg Südamerikas. Und jetzt kommst du, mein Freund.« Er fragt, in wie vielen Etappen man die 1300 Kilometer vom Norden in die Hauptstadt zurückzulegen gedenkt. Man flüstert: drei Tage. Riesengelächter. Brrrrrruuuuuuuuaaarrrrrr. Er macht‘s in einem Ritt, er fährt sowieso wie der Teufel höchstpersönlich. »Meine Frau schimpft immer mit mir, wenn ich 200 fahre«, sagt er, »aber sie schimpft auch, wenn ich 10 fahre. Also fahre ich 200.«

Noch zweimal wird er einen überholen und Sekunden später am Horizont verschwunden sein. Er muss wohl öfter halten, sei es, dass den Kindern von der Raserei schlecht wird, sei es, dass sein weißer Pickup zu viel Sprit schluckt. Die eigene Rennstrategie ist: ein gleichmäßiges Tempo von 140, zwanzig mehr als erlaubt, und wenige Boxenstopps.

Der Asador bringt das Fleisch. »Woher seid ihr?«, fragt er. »Frankreich?«
Also, bitte.
»Beckenbauer! Äh, wie nennt ihr ihn: Kaiser?«
Fußballwissen wird abgefragt. Daniel Passarella, den Namen schon mal gehört? Sag mal, wo spielt Carlos Tévez noch mal? Ach ja, stimmt, ein guter Stürmer. Warum ist Messi, als er 13 war, mit seiner Familie nach Barcelona ausgewandert? Unglaublich.

Irgendwas schlägt auf den Magen. Das Fleisch? Die Fliegen? Die Musik aus dem Lieferwagen draußen? Auf die Zunge und die Eingeweide verzichtet man jetzt doch. Und um den Asador nicht zu beleidigen, reicht man die unverzehrten Steakreste an die Hunde unterm Tisch weiter.

Die Toilette ist auf dem Hof. Damals, nach dem Mauerfall, wusste man nicht, wie das Westwasser aus dem Hahn kommt, weil es nichts zum Drehen gab. So ist das hier auch. Man fuchtelt mit den Händen herum und hofft auf ein Wunder. Tja, dann eben nicht.

Der Flan als Nachspeise schmeckt trotzdem.
»Von der Señora zubereitet?«
»Jaja, von der Mutter vom Dickerchen da.«

Der Junge, vielleicht 17 Jahre alt, hat die Statur eines Gewichthebers, er sieht aus, als hätte man Manfred Nerlinger den Schädel abgenommen und einen Indianerkopf raufgeschraubt. Seit einer halben Stunde schleppt er Kisten aus dem Transporter vor der Parrilla, meist drei auf einmal, ohne dass es ihn anstrengt.

Und dann geht es zurück auf die Ruta 14. Die Straße entlang der Grenzen zu Uruguay und Brasilien beginnt in der Provinz Entre Ríos, führt durch die Provinz Corrientes und endet nach 1127 Kilometern in der Provinz Misiones kurz vor den Wasserfällen von Iguazú hoch im Norden. Ruta 14 heißt: oft nur eine Spur in jede Richtung, viele Berge, viele Lastwagen, viele Baustellen, viele Polizeikontrollen, viele Unfälle.

Eine Strecke mit einem fürchterlichen Spitznamen: »ruta de la muerte«, »Straße des Todes«.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

Themen

Suchen

Suchbegriff eingeben und «Enter»


Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)