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¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch

von DIRK RÜGER

 

Der Autor lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

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»¡Estás igual!«, kräht es jedes Mal aus dem Mund meiner Freundinnen und Freunde. »Du hast dich gar nicht verändert!« Einerseits sind das ja die Komplimente, die man gerne hört mit fast 44. Andererseits ist es immer so eine Sache mit dem »Sich-nicht-verändert-Haben« – selbst wenn das zunächst nur der erste Eindruck ist, vor allem rein äußerlich gemeint.

Eine Ewigkeit − 17 Jahre − ist es her, dass ich Argentinien und vor allem Buenos Aires verlassen habe, wo ich (lediglich) zwei Jahre gewohnt, gelebt, studiert habe. Vor der Wirtschaftskrise (welcher denn?) 2001. Mit meiner damals hochschwangeren argentinischen Exfrau flogen wir im Juni 1998 nach Berlin. Ich wollte nur mein Studium beenden und dann spätestens nach dem Examen wieder zurückkehren nach Argentinien. Dann machte uns die große Krise einen Strich durch die Rechnung. Die Straßen brannten, und das halbe Land versank in Armut.

Juristische Fakultät

> Eine breite Straße in den Norden von Buenos Aires: die Avenida Figueroa Alcorta mit der Juristischen Fakultät (r.)

Ich war 1996 nicht unvorbereitet nach Argentinien gekommen. Ich hatte zuvor schon große Teile Südamerikas bereist, hatte in Perú ein Praktikum in einer Schule gemacht. Ich hatte durch mein Lateinamerikanistik-Studium und argentinische Freundinnen und Freunde Ahnung von Literatur (Sábato, Córtazar, Borges), Rockmusik (Sumo, Charly, Fito), Sozio-Kultur (Perón, Mate, Tango, Gauchos) und den Besonderheiten der Sprache (vos, che).

> Ezeiza, der internationale Flughafen von Buenos Aires

> Buenos Aires und sein berühmter Fluss, der Río de la Plata

Schon als ich das erste Mal in Buenos Aires ankam und mich mein Freund der Reisebürobesitzer (damals noch Student von irgendwas, jetzt in México lebend) in dem alten Fiat seiner Eltern vom Flughafen Ezeiza abholte, fühlte ich mich wie zu Hause. Obwohl ich bis dahin die Stadt nur aus Erzählungen von einem fünftägigen Besuch in Mendoza kannte: »Wenn du Argentinien richtig kennenlernen willst, musst du unbedingt nach Buenos Aires, das ist der Wahnsinn!«. Und das war auch 1996 schon mehr als zwei Jahre her.

Ich erlebte zunächst ein bonaerensisches Klischee: die italienische Einwandererfamilie des Reisebürobesitzers im »Vorort« Olivos, Boca-River-Fußballspiele im Fernsehen, sonntags selbstgemachte Lasagne, meine ersten Milanesas (argentinische Schnitzel, dem Wienerschnitzel nicht unähnlich, aber viel besser!), abends in Palermo Viejo im Auto vor irgendeinem Kiosk mit den Freunden Bier trinkend, die Wochenenden in Tigre mit Bootsfahrten, Asado und Mate.

Asado: Morcillas (Blutwürste), chorizo (Bratwurst) und Pollo (Huhn)

> Asado: morcillas (Blutwürste), chorizos (Bratwürste) und pollo (Huhn)

Danach tauchte ich ins Studentenleben ein, wohnte erst bei einer exaltierten Architektin in einer Designer-Wohnung im Bezirk Caballito, inklusive US-amerikanischen und brasilianischen Mitbewohnerinnen, und brachte argentinischen Yuppies Englisch in einer Sprachschule bei. Danach zog ich übergangsweise ins Barrio Once, in das Zimmer eines mir über zwei Ecken bekannten Dramaturgen (in dessen WG ich das Licht-Double von Brad Pitt in »Sieben Jahre in Tibet« kennenlernte, der damals in Mendoza gedreht wurde), und schließlich zu meiner Freundin der Theater-Lehrerin nach Chinatown. Das bestand damals nur aus drei Blocks der Straße Arribeños im Stadtteil Belgrano.

Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im Norden der Hauptstadt

> Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im im Stadtteil Belgrano

Ich las pro Woche zwei Romane in einem Seminar über argentinische zeitgenössische Literatur an der UBA, bestellte Heiligabend Eis per Liefer-Service, tanzte ein einziges Mal Tango, und zwar auf der Hochzeit meiner Freundin der Schauspielerin, besuchte Vorlesungen bei Beatríz Sarlo über Postmoderne in Argentinien, lernte von meinem Freund dem Dichter die Besonderheiten des Gangster-Slangs »Lunfardo« und ging abends auf Konzerte von Divididos, Illya Kuryaki and the Valderramas oder El Otro Yo und in Clubs wie das »Nave Jungla«, wo das Service-Personal aus Kleinwüchsigen bestand und man vor zwei Uhr morgens noch verbilligten Eintritt bezahlte.

Ich fühlte argentinisch, ich war porteño.

Und dann: 17 Jahre weg.

> Das Microcentro von Buenos Aires und ganz entfernt ein Wahrzeichen der Stadt: el Obelisco

Natürlich hat Argentinien auch danach eine Rolle in meinem Leben gespielt. Ich war in Berlin weitere acht Jahre mit einer Argentinierin zusammen. Ich redete in dieser Zeit mehr spanisch als deutsch. Ich trank weiterhin Mate, Familie und Freundinnen berichteten uns über die aktuelle politische Lage, ich gab eine spanischsprachige Zeitung heraus.

Aber 17 Jahre keinen Fuß auf argentinischen Boden.

Ich war so aufgeregt wie nur was. Und hatte auch Angst.

Die Argentinier so:

17 Jahre? Das ist so, als wärst du noch nie da gewesen! Alles hat sich total verändert. Und die Kriminalität! Alles ist viel schlimmer! Du kannst keinen Schritt mehr vor die Tür machen, ohne dass du Angst haben musst, überfallen zu werden. Und wenn du in Ezeiza ankommst: Pass bloß auf mit den Taxis. Nimm bloß kein Taxi, das nicht registriert ist! Es ist schon so viel passiert!

Ich habe meine argentinischen Freundinnen und Bekannten so gelöchert und genervt, dass ich gut verstanden hätte, wenn sie mich aus ihrem Facebook-Freundeskreis gestrichen und einfach nicht mehr geantwortet hätten.

Aber außerdem war ich auch aufgeregt, weil ich meiner deutschen Ehefrau, die noch nie in Argentinien gewesen war, den Ort zeigen wollte, den ich 17 Jahre nicht gesehen hatte. Ich hoffte natürlich, dass sie Buenos Aires genauso liebte wie ich.

Es hat sich nichts verändert. Als unsere Freundin die Schauspielerin uns in den Arm nimmt und »¡Pero estás igual, che!« zu mir sagt; als wir das erste Mal in einen »bondi«, den Stadt-Bus, steigen und ich sofort, ohne Stadtplan, wieder weiß, wie Buenos Aires funktioniert, wie die Stadt tickt, wie man in diesem Geschoss freihändig stehen muss, um bei dem rasenden Tempo durchs Verkehrs-Chaos nicht umzufallen, worauf man achten muss, um die Ziel-Haltestelle nicht zu verpassen: Da ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Die Freude darüber, dass Freundschaften, die quasi 17 Jahre auf Eis gelegen haben, sich nach nicht mal einer Minute wieder so anfühlen, als hätten wir erst gestern zusammen Mate getrunken − diese Freude lässt sich kaum beschreiben.

Und, na klar, es hat sich auch vieles verändert. Meine Freundinnen von damals sind keine Studenten, Biochemikerin, Bonaerenser, Argentinier mehr, sondern jetzt Reisebürobesitzer, Schauspielerin, Cordobesen, Mexikaner und Pariserin, alle sind älter und bis auf einen auch Eltern geworden. Aber die italienischen Reisebürobesitzer-Eltern wohnen immer noch in Olivos, und die Mutter hat extra für uns frische Pasta handgemacht. Das Barrio Chino, also Chinatown, ist nur ein paar Blocks gewachsen, und die alte Gänsehaut, die ich jedes Mal hatte, wenn ich am Río de la Plata stand und bis zum Horizont nur Süßwasser sah, stellt sich auch sofort wieder ein.

Río de la Plata

> Die direkteste Verbindung nach Uruguay: über den Río de la Plata

Aber auch: Meine Frau ist von dem 17-Millionen-Moloch anfangs ganz schön überfordert − und nicht erst, als wir direkt an einem Slum vorbei im Dunkeln zur zehn Minuten entfernten Bahnstation laufen müssen, um von dort zum Busbahnhof zu fahren, der neben einem anderen, noch viel größeren Slum liegt. Und das alles vor einer zwölf Stunden langen Busfahrt in Richtung Córdoba.

Argentinisch Reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

> Argentinisch reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

Und ja (ganz realistisch): Buenos Aires ist nicht mehr der verklärte Sehnsuchtsort, an den auszuwandern ich mir vorstellen kann, wenn wir alt sind. Es wird wohl doch eher Uruguay, in das wir uns verliebt haben, insbesondere Colonia del Sacramento. Von dort ist man mit der schnellen Fähre auch in einer Stunde drüben, nur für den Fall, dass sich meine Sehnsucht alle zwei Wochen bei mir meldet und um ein Wiedersehen mit Buenos Aires bittet. Meine Frau begleitet mich sicher auch gern, und sei es nur, um bei unserer Freundin der Schauspielerin auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen und ein helado von der Eisdiele um die Ecke zu essen. Am letzten Tag hat sie, die Quasi-Italienerin, übrigens zugeben müssen, dass dieses Eis (fast) besser schmeckt als das italienische.

Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

> Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

Und noch: Auf die Frage meiner Frau, was denn anders sei als auf der Nordhalbkugel, wusste ich, trotz jahrelangem Aufenthalt und wiederholten Reisen auf die Südhalbkugel, nur zu erwidern, dass ich gelesen hätte, der Strudel im Klo drehe sich in »die andere« Richtung. Außerdem wusste ich, dass man das »Kreuz des Südens« am Himmel sehen kann und die Jahreszeiten »umgekehrt« zum Norden stattfinden.

Meine kluge Frau hat schon am ersten Abend in Buenos Aires gemerkt, dass der Mond spiegelbildlich, in die jeweils andere Richtung hin, zu- und abnimmt und dann später auch, dass die Sonne mittags im Norden im Zenit steht und nicht wie bei uns zu Hause in Berlin im Süden.

Der kürzeste argentinische Witz

von CHRISTOPH WESEMANN

Geht ein Kaiser in Buenos Aires in ’ne Tango-Bar…

Beckenbauer Franz

Foto im Fenster der »Bar Sur«, Stadtteil San Telmo, Estados Unidos 289 (Ecke Balcarce)

 

 

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Krieg im Klassenzimmer, ein falscher Robin Hood und vier Sekretärinnen: Meine letzte Woche mit 34 (Teil 2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Fortsetzung des ersten Teils: Zwischen Che Guevara und Günther Jauch

  • Mittwoch: Franco, eine Pralinenschachtel und die Betrunkenen von der Trbüne

Der erste Schultag nach den Osterferien: Die fast Vierjährige trägt Uniformteile ihres Bruders, es hat sein Gutes, wenn Vorschule und Schule zwar räumlich getrennt, aber doch eins sind. Am Mittag hole ich beide Kinder ab. Es ist ja auch der erste Vorschultag im Leben der Tochter. Neue Kinder, neue Erzieherin, neuer Ort. Außerdem hat es schon für Erstaunen gesorgt, dass wir sie am Morgen nicht hingebracht, sondern zu ihrem Bruder in den Schulbus gesetzt hatten. Sie wollte es so, und ich hatte nichts dagegen: Der Verkehr zwischen sieben und neun in Buenos Aires ist kein Vergnügen.

Der Siebenjährige kommt aus der Schule mit seinem besten Freund, der schon dreimal bei uns übernachtet hat. »Und, Franco«, frage ich, »besuchst du uns bald wieder?«

»Heute!«, sagt mein Sohn.

»Nein.«

»Bitte, Papa!«

„Geht nicht, Oma und Opa sind da. Wir haben kein Bett frei.«

»Dann morgen. Bitte.«

»Oma und Opa sind auch morgen noch da.«

»Wie lange sind sie denn da?«

»Bis Freitag!«

»Franco, dann kommst du am Freitag zu mir und übernachtest bei uns.«

Ich setze die Schwiegereltern und meinen Sohn in den Zug, es sind nur zwei Stationen nach Hause, und versuche noch mal, mit meiner Tochter die Vorschuluniform zu kaufen. Das Geschäft ist halb dunkel, aber geöffnet. Erst am Nachmittag, nach zwei Tagen, wird das Viertel wieder Strom haben. Im Kindergarten der Eineinhalbjährigen gebe ich einen Beutel ab. Die Erzieherinnen hatten die Eltern gebeten, Kinderkleidung zu spenden. In vielen Ecken der Hauptstadt wird an diesem Tag für die Überschwemmten in der Provinz Buenos Aires gesammelt.

Was machen argentinische Fußballfans, wenn die eigene Mannschaft schlecht spielt und die Partie sehr langweilig ist? Sie machen sich lustig über den Erzfeind, und der muss dafür nicht mal mitspielen.

Zum ersten Mal erlebe ich ein Spiel der Boca Juniors. Das Stadion – Traumziel vieler Groundhopper – heißt, wie es aussieht: La Bombonera, die Pralinenschachtel. Barcelona Sporting Club, Ecuadors Rekordmeister, ist zu Gast in der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions-League.

Boca schießt ein frühes Tor und bekommt danach nichts mehr hin. Also wird gesungen, und immer wieder dasselbe Lied, noch nach dem Schlusspfiff ist es im Treppenhaus des Stadions zu hören. Es macht ja auch Spaß, den großen Rivalen dafür auszulachen, dass der am 26. Juni 2011 erstmals in seiner 110-jährigen Vereinsgeschichte in die Zweite Liga abgestiegen war. Ein Jahrhundertereignis im argentinischen Fußball. Vergleichbar mit einem Abstieg der Bayern, mindestens. »Niemand, absolut niemand, wird in der Lage sein, diesen Tag zu vergessen«, schrieb damals Clarín, die größte Zeitung des Landes.

Schon nach der Niederlage im ersten Entscheidungsspiel drei Tage zuvor in Córdoba hatten Fans von River ihre Spieler über den Platz gejagt. Im Rückspiel begannen Hooligans des berüchtigten Fanclubs Los Borrachos del Tablón (Die Betrunkenen von der Theke Tribüne1) noch vor dem Abpfiff, das eigene Stadion zu zerlegen. Der Schiedsrichter beendete die Partie nach 89 Minuten.

 

Draußen gab es stundenlange Straßenschlachten mit mehr als 2000 Polizisten, Autos brannten, Restaurants wurden geplündert. Ein Jahr später kehrte River Plate aus der Primera B Nacional zurück – doch die Schmach bleibt. Und bei Boca, das selbst eine schwer kriminelle und gewaltbereite Fanszene hat, erfreut man sich bis heute am in jeder Beziehung peinlichen Abschied des Feindes aus der Ersten Liga.

(Ich danke meiner Leserin Mónica und Andreas von Argifutbol für die Tipps beim Übersetzen.)

  • Donnerstag: 100 Pesos und die Sache mit den Inseln

Ich habe heute Euren Sohn am Schulkiosk erwischt. Er hatte 100 Pesos in der Hand und wollte Süßigkeiten kaufen, um sie mit seinen Kumpels zu teilen. Wir sagen den Kindern immer, dass sie kein Geld mitbringen sollen, um sich irgendwas zu kaufen. Es gibt bei so etwas nur Probleme und Missverständnisse. Bitte helft uns und vermeidet es, ihm so viel Geld mitzugeben. Vielen Dank! Grüße, Juan.

Eintrag des Klassenlehrers im Mitteilungsheft

Ich befrage gleich den falschen Robin Hood, der’s dem Armen nimmt und den Reichen gibt, also von unten (Kolumnenschreiber) nach oben (Anwaltskinder) umverteilt. Beim Sprechen muss ich mein Gesicht immer wieder wegdrehen, um mein Grinsen zu verbergen. Ich sehe vor mir, wie dieser Zwerg auf dicke Jogginghose macht und breitbeinig zum Kiosk marschiert. Er gibt auch gleich alles zu und hat kein schlechtes Gewissen.

»Ich hatte Hunger.«

»Was wolltest du denn kaufen?«

»Wieso wollte?«

»Du hast gekauft?«

»Ja.«

»Was denn?«

»Eis, Chips, ein Sandwich, eine Fanta. Ich hatte Hunger, Papa!«

»Du hattest Brot mit.«

»Ich hatte großen Hunger.«

Las Malvinas an der Wand des Präsidentenpalasts

Ich frage, was es sonst Neues gebe.

»Wir haben über diese Inseln gesprochen.«

»Die Malwinen

»Ja.«

»Und? Erzähl mal!«

»Ähm, also, die Engländer … «

» … die verdammten Engländer, mein Sohn … «

» … haben Inseln, die eigentlich Argentinien gehören. Und da hat Argentinien einen Krieg angefangen … «

» … am 2. April 1982, gestern vor 31 Jahren … «

» … und den verloren. Deshalb haben die verdammten Engländern immer noch die Inseln.«

»Aber die Malwinen waren, sind und bleiben argentinisch! Las Malvinas fueron, son y serán argentinas! Merk dir das!«

»Weiß ich doch. Hat Juan auch gesagt.«

»Ist ein guter Lehrer! Und warum gehören die Inseln Argentinien?«

»Weil sie neben Argentinien sind.«

»Bist ein guter Junge!«

Ein Arbeitsblatt aus dem Schulheft des Sohnes. Der Erklärtext oben lautet übersetzt: »Vor langer Zeit wurden unsere Malwineninseln von Großbritannien besetzt. Am 2. April 1982 wollte die argentinische Regierung sie militärisch zurückholen. So begann ein Krieg, in dem unser Land besiegt wurde.« Anmerkung von mir: Die argentinische Regierung zu dieser Zeit war eine sehr brutale Militärdiktatur, die brutalste aller Diktaturen in Südamerika. Die Lehrerin zeigt auf die Weltkarte und sagt: »Das hier sind unsere Malwineninseln.«

 

  •  Freitag: Eine Stirnbeule, vier argentinische Sekretärinnen und Homer Simpson

»Wenn Franco heute kommt, schaffe ich es nicht mehr, das Geschenk zu kaufen, das du dir zum Geburtstag wünschst«, sagt der Siebenjährige am Morgen und ist den Tränen nahe. Ach ja, die Kinder sind aufgeregter als ich.

»Mir fällt schon was ein«, sage ich.

Ich kaufe zwei Homer-Simpson-Plastikfiguren im Trikot der Boca Juniors, eine für meinen Schwiegervater, eine für mich.

Um 13 Uhr, als sich die Schwiegereltern gerade verabschieden, ruft die Schulsekretärin an. Mein Sohn sei im Flur vor dem Klassenraum beim Herumrennen, was selbstverständlich nicht erlaubt sei, von einem anderen Jungen zu Fall gebracht worden und habe sich verletzt. Es gehe ihm aber ganz gut. »Willst du vorbeikommen und ihn abholen?«, fragt die Sekretärin »Oder soll er um vier mit dem Bus nach Hause kommen?«

Ich winde mich etwas. Ich habe meine Schwiegereltern gestern acht Stunden durch die Stadt geführt und sie abends noch zu einer Tangoshow begleitet. Ich habe die vergangenen vier Nächte im Schnitt nur vier Stunden geschlafen. Außerdem ist es heute noch einmal irre heiß. Eigentlich will ich jetzt nicht das Haus verlassen. Ich würde gern ein bisschen lesen und Mate trinken, bis um fünf die Familie einfällt. Es geht ihm doch gut, hat sie gesagt. Er sagt das sogar selbst, ich frage extra noch mal nach.

»Ich muss Bescheid sagen, verstehst du?«, fragt die Sekretärin.

»Ja, klar.«

»Und die meisten Eltern kommen in solchen Fällen sicherheitshalber vorbei.«

»Okay, ich muss noch was erledigen, bin aber in eineinhalb Stunden da.«

Ich kann gar nicht so viel Mate trinken, wie ich kotzen möchte.

Mein Sohn hat eine rote Beule auf der Stirn und ist total gut drauf. Franco steht neben ihm und freut sich auch schon, er darf nämlich, weil er bei uns übernachtet, die letzte Stunde mitschwänzen. Seine Mama hat es erlaubt, erfahre ich von der Sekretärin.

Augenblick, wieso noch Unterricht? Ich dachte immer, nachmittags wird nur Fußball gespielt.

»Unterricht ist bis 16 Uhr.«

Plötzlich stehe ich im Sekretariat, vier Frauen um mich herum, vier junge Frauen, vier argentinische Frauen. Ich soll jetzt schnell entscheiden, was mit den beiden Schülern wird, und bin natürlich überfordert. Vier! Frauen!

Wenn ich die beiden Jungs gleich mitnähme, so kalkuliere ich, wären wir gegen drei zu Hause. Zehn nach drei wäre Chaos in der Bude; die erste Randale gäbe es um halb vier. Gegen halb fünf wäre ich eingekesselt.

»Die bleiben!«

Dem Simulanten und seinem Helfershelfer wird das sogleich mitgeteilt. Sie haben schon ihre Schultaschen geschultert und stehen abmarschbereit vor mir. Nix da, Freunde. Proteste. Tränen. Androhung psychischer Gewalt. Ich flüchte ins Café.

Eine E-Mail von Tomás, der die Karten für das Boca-Spiel besorgt hatte.

Estimado Christoph, como andan? Fue muy grato el momento pasado juntos en la cancha, junto al pequeño y tu suegro, un caballero al igual que vos. Te agradezco mucho las fotos, y también la pasión por los colores de nuestro querido equipo. Volveremos a la cancha. Ustedes son buenas personas con valores y un gran corazón, son nuestros amigos muy queridos.

Un gran abrazo. Tomás.

Geschätzter Christoph, wie geht’s Euch? Die Zeit mit euch im Stadion war großartig, mit dem Kleinen und deinem Schwiegervater, einem Gentleman, wie es Du es bist. Ich danke Dir sehr für die Fotos – und für die Leidenschaft für die Farben unserer geliebten Mannschaft. Wir gehen bald wieder zusammen ins Stadion! Ihr seid wunderbare Menschen mit Werten und einem großen Herzen, ihr seid unsere geliebten Freunde.

Sei fest umarmt. Tomás.

Ich könnte das nicht so poetisch formulieren, fühle mich aber sehr gut beschrieben.

  • Sonnabend: Zwei Geschenke zum 35. und ein Hosenkauf

Sind heute mehr Haare als sonst nach dem Duschen in der Badewanne? Ich bin jetzt 35 und fühle mich keinen Tag jünger.

Zum Geburtstag bekomme ich von meiner Familie ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten Pinguin, der eine Krawatte trägt, und die Homer-Simpson-Figur im Trikot der Boca Juniors. Ich bin gerührt.

Mir wird überdies versprochen, dass ich im Laufe des Tages statt einer Geburtstagstorte noch eine kleine Tüte meiner Lieblings-Medialunas überreicht bekäme, was freilich auch im Laufe des Tages vergessen wird. Ich komme sowieso nicht zum Essen, sondern muss die fast Vierjährige und den schon Siebenjährigen zum Russischunterricht ans andere Ende der Stadt bringen. Sie haben diese Sprache gelernt, richtig gelernt, erst in der Ukraine, dann in einem deutsch-russischen Kindergarten in Berlin, nicht wie ich einst in der Schule kurz vor dem Zusammenbruch der DDR. Mein Sohn spricht akzentfrei Russisch, und ich empfinde das als Privileg, das es zu bewahren gilt.

Franco kommt natürlich mit, er bleibt ja bis Sonntag bei uns, vielleicht auch bis Montag, alles ist möglich. Seine Mutter sagt am Telefon: »Wie ihr wollt. Wenn ich ihn abholen soll, ruft an.«

Ich hetze ihn durch die Straßen, weil ich zwei neue Hosen brauche. Erst friert Franco und teilt mir das alle zwei Minuten mit. Er trägt aber weder Jacke noch Socken. Ich versuche, Franco in meinem Windschatten gehen zu lassen, die Radrennfahrer machen das doch auch so, Belgischer Kreisel, und verlaufe mich dabei. Und der argentinische Wind pfeift auf meinen Belgischen Kreisel und dreht die ganze Zeit. Ein Hosengeschäft finden wir auch nicht.

Erst auf dem Nachhauseweg kommen wir zufällig an einem Laden vorbei. Zwei alte Herren bedienen. Man kann so was gar nicht erfinden: Der eine ist Fan von Racing Club, der andere von Independiente. Wohl nirgendwo auf der Welt sind sich zwei verfeindete Fußballklubs so nahe wie in Avellaneda, einem Vorort von Buenos Aires. Nur 300 Meter trennen die beiden Stadien, von der Tribüne des einen kann man das andere sehen. Maximal vier Meter trennen den Racingfan vom Independientefan, größer ist der Hosenladen nicht. Sie arbeiten jeden Tag miteinander und teilen vielleicht noch mehr, ich würde das nicht ausschließen. Die Vierjährige beginnt gleich, die Frontscheibe des Kassenschranks abzulecken, und die beiden Siebenjährigen wollen unbedingt den Krawattenständer umstoßen.

Der Racingfan legt seine Zigarette beiseite, reicht mir zwei schwarze Hosen und raucht weiter. Die eine passt sofort, die andere wird in drei Tagen gekürzt sein. Die drei Kinder, die ich mitgebracht habe, sind inzwischen ein schreiendes Knäuel auf dem Boden. Ich ermahne sie, ich erpresse sie mit McDonald’s, ich bitte um Ruhe, nichts hilft. Die armen Hosenverkäufer.

Zum Glück bin ich fertig und habe das Geld schon in der Hand. Der Racingfan lässt mich nur noch ganz schnell und absolut unverbindlich eine Strickjacke anziehen, die wunderbar zu meinen neuen Hosen passen würde. Und einen Gürtel, auf dem Argentina steht und zwei Pferde abgebildet sind, findet er auch zufällig. »Halt den mal an, muchacho, ist doch irgendwann eine tolle Erinnerung an dein Leben in Buenos Aires.« Che, und dieses T-Shirt, das ganz neu reingekommen ist, fühl mal, 100 Prozent irgendwas, wahrscheinlich Baumwolle, das schenkt er mir fast, ich wäre regelrecht blöd, das hier zu lassen.

Dann zündet er sich eine neue Zigarette an und tippt auf dem Taschenrechner alles zusammen, zwei schwarze Hosen, schwarzer Gürtel mit zwei Pferden, schwarzes T-Shirt, schwarze Strickjacke, er nennt eine Summe und fragt sicherheitshalber, ob ich schon einen guten Anzug hätte. Ich überlege tatsächlich einen Augenblick.

»Ich habe drei und trage keinen davon«, sage ich, und das stimmt sogar.

Kann sein, dass ich am Ende, mit all den großzügig gewährten Rabatten und Fast-Geschenken, mehr bezahle, als wenn der Racingfan die offiziellen Preise einfach addiert hätte. Aber zum einen wälzt sich das Knäuel immer noch schreiend, nun aber auch Schimpfwörter ausspuckend, über den Boden. Ich weiß wirklich nicht, was das für Verrückte sind, die sich vier Kinder anschaffen. Zum anderen: Gute Geschichten gibt es nun mal nicht umsonst.

Ende.

  1. Oh, wie peinlich: »Maestro, ich muss Dich schweren Herzens korrigieren«, schreibt mir Andreas von Argifutbol. »Los tablones sind Holzelemente/-bretter oder -dielen, aus denen früher die Stadien errichtet wurden. Dementsprechend sind Rivers .. .die gehen ja auch ins Stadion und nicht in die Bar.« []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)