Archiv für 2013

Herr T. beim wüsten Tanz

von CHRISTOPH WESEMANN

El Salar de Uyuni, die größte Salzwüste der Welt, Sonnabend, 9. Februar, 14.32 Uhr Ortszeit:

Wüstentanz

Ich ziehe mich jetzt wieder in meine Dichterhöhle zurück und arbeite am zweiten Teil des Bolivianischen Tagebuchs.

Mit Adam Ries an die Atlantikküste

von CHRISTOPH WESEMANN

Ein letztes Mal in diesem Sommer raus aus der Stadt, endlich wieder an die argentinische Atlantikküste. Es sind von Buenos Aires doch nur 350 Kilometer nach Ostende, wo es stiller ist als nebenan in Pinamar. Am Sonnabendvormittag loszufahren ist eine sehr gute Idee – und deshalb haben viele andere die auch. Ja, es ist ein bisschen Verkehr, aber der rollt – jedenfalls so lange, bis die Polizei eingreift. Argentinien ist auch das Land, in dem Polizisten Staus verursachen. Sie sitzen entweder dösend in ihren Pickups, oder sie stehen am Straßenrand und winken Autofahrer heraus. In diesem Fall staut es sich. Und danach rollt es wieder bis zum nächsten Kontrollpunkt. Jedes Mal sind zehn Minuten weg – und weil die Polizei alle 30 Kilometer fischt, summiert sich das bei 350 Kilometern nach Adam Ries auf immerhin … ähm … na, ganz schön viel Zeit.

Was der gemeine Argentinier vielleicht irgendwann lernen könnte: die rechte Spur benutzen, wenn er meint, 90 Kilometer pro Stunde seien ja fast 120, die gerade als Maximaltempo erlaubt sind. Ich habe ein paar Mal versucht, mit Blinker, Lichthupe, Handzeichen, Lärmhupe, Gebrüll und Mittelfingerakrobatik (in dieser Reihenfolge) erzieherisch einzugreifen – und dann rechts überholt, sogar einen Reisebus, der es sich in der linken Spur gemütlich gemacht hatte.

Die Seebrücke von Pinamar ist übrigens – ach, urteilen Sie selbst.

Seebrücke Pinamar 10

Seebrücke Pinamar 6

Seebrücke Pinamar 5

Seebrücke Pinamar 1

Seebrücke Pinamar 2

Seebrücke Pinamar 4

Seebrücke Pinamar 7

Seebrücke Pinamar 8

Seebrücke Pinamar 9

Bolivianisches Tagebuch (I): Mit Kokaface ins Indianerland

von CHRISTOPH WESEMANN

Unsere zwei Helden sind wieder unterwegs. Herr T., der junge Deutsche (24), der ein Jahr in Argentinien lebt und arbeitet, muss das Land nach drei Monaten verlassen und als Tourist neu einreisen. Wieder ist CW dabei, unser Mann in Buenos Aires, der sich doppelt so alt fühlt, wie er ist (also 68), und Herrn T. zehnmal mehr nervt, als er glaubt.

Diesmal geht es nicht, wie im Dezember 2012, nach Chile. Nein, ein größeres Abenteuer soll her: Bolivien, das Armenhaus des Kontinents, ein Land der Extreme. Im Buch Südamerika für wenig Geld, das Herr T. auf dieser Reise bei sich hat, ist Bolivien das »höchstgelegene, am schwersten zugängliche und raueste Land der südlichen Hemisphäre – und eines der kältesten, wärmsten, windigsten und schwülsten«. Außerdem: der indianischste Staat Lateinamerikas. Mehr als 60 Prozent der 10,4 Millionen Bolivianer sind indigener Herkunft.

Die geplante Route (nur die Flüge sind vorab gebucht): Buenos Aires (Flugzeug) → Salta (Bus) → Jujuy (Bus) → Grenzübergang La Quiaca/Villazón (was mit Rädern) → 250 Kilometer durch Bolivien bis zur Salzwüste von Uyuni (was mit Rädern) → Salta (Flugzeug) → Buenos Aires

  • Erster Teil: Salta – Jujuy – Purmamarca

(cw) Saltas Plaza 9 de Julio mit ihren Palmen, Araukarien  und Johannisbrotbäumen  soll sehr hübsch sein, steht im Reiseführer. Ja ja, hübsch, das Plätzchen. Ich habe Hunger, und gleich geht die Sonne unter. Hach, bin ich gespannt auf die regionale Küche: Ob in Salta Superpanchos, die argentinischen Hotdogs, anders schmecken als in Buenos Aires?

(Herr T.) CW hat mich so schnell aus dem Hostel gescheucht, dass ich gerade noch meinen Rucksack abwerfen konnte. Bei Hunger kennt er kein Pardon.

Plaza 9 de Julio, Salta

Plaza 9 de Julio, Salta

(cw) Mein Superpancho mit geriebenem Käse, Mais, Oliven und zwei unbekannten Soßen aus Plastikspritzflaschen schmeckt besser als in Buenos Aires. Aber an die Dinger mit Avocadopaste in Santiago de Chile und Valparíso – dort completos genannt – kommt er nicht heran. Ich esse in meinem chilenischen Tempo, das Herr T. noch im Dezember 2012 als grotesk empfunden hatte. Ich zitiere: »Japsend, mehr schluckend als kauend, braucht er für einen ganzen completo keine 60 Sekunden.« Herr T. isst heute trotzdem schneller. Ich kann gar nicht so schnell gucken, wie der Superpancho zum Problem seines Verdauungsapparats geworden ist. Ich werde jedes Fressduell auf dieser Reise verlieren.

(Herr T.) Merke: »Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel. Der Teufel verändert dich!«

(cw) Herr T. hat keine innere Ruhe. Jetzt fängt er schon wieder damit an, dass er ganz schnell weiter will. Sein Ziel ist der Südwesten Boliviens mit dem Salar de Uyuni, der größten Salzwüste der Welt. Dabei haben wir doch so viel Zeit: elf Tage. Wir sind diesmal im Flugzeug angereist und haben uns so eine 24 Stunden und 1600 Kilometer lange Busfahrt von Buenos Aires nach Salta erspart. Warum hetzt der Kerl mich so?

(Herr T.) Fürs Protokoll: Es war CW, der es in seinem Gram schaffte, sowohl über das Zeit- als auch über das Geldersparnis zu seufzen, weil er ja lieber Busfahren wollte. Elf Tage sind schnell um (dachte ich jedenfalls). Außerdem: Wer, bitte, sorgt denn für Stress? Wer lässt im Taxi vom Flughafen Salta zum Hostel sein Mobiltelefon liegen?

(cw) Unser Taxifahrer, Mitte fünfzig, hatte erzählt, dass er seit 20 Jahren in Salta lebe, aber aus Buenos Aires stamme. Ein Porteño! So wie ich. Man erkennt sich, man mag sich, man versteht sich. Und vergisst alles um sich herum.

(Herr T.) Jedes Gespräch mit einem Fremden – wirklich jedes! – beginnt CW damit, dass er sich nach dem Lieblingsfußballklub erkundigt. »¡Che! ¿Tenes un equipo favorito? ¿Sos de Boca o de River?« Unser Taxifahrer war Fan von River; und CW gab sich entrüstet und wirbelte mit den Armen. Eine perfektionierte Geste. Dabei basiert doch sein ganzer Wortschatz darauf, die Todfeinde seiner geliebten Boca Juniors zu treffen. Er spult dann einstudierte Sätze ab. »Paaaah, una gallina! Millonario!« Ich frage mich, was passiert, wenn CW einen Boca-Fan trifft – dann hat er nämlich gar keine Worte.

(cw) Unser Taxifahrer, der Porteño, hat mir, dem Porteño, das Mobiltelefon selbstverständlich zurückgebracht.

(Herr T.) Ist doch sowieso nur eine Attrappe. Klingelt nie.

Übrigens hat CW auch in seiner Muttersprache einen rudimentären Wortschatz. Er kommt nahezu ohne Verben aus und beschränkt sich aufs Ausspucken von Substantiven, wenn er etwas sucht oder braucht und auf meine Hilfe angewiesen ist. »Cola!« – »Shampoo?« – »Scheiß Handtuch?« – »Dreckstelefon?« – »Kohle!« Jetzt, nachdem wir auf der Plaza 9 de Julio zu Abend gegessen haben, ruft er: »Mate!« Er braucht einen neuen Becher, weil er aus Buenos Aires keinen mitgebracht hat, und kauft schließlich einen silbernen Touristenmate von Salta.

(cw) Noch vorm Einschlafen denkt Herr T. an den Salar de Uyuni, und in der Nacht wirft er sich und her. Woher kommt eigentlich diese Wüstenfaszination bei den Deutschen? Hat die mit Rommel zu tun?

(Herr T.) Ich kann nur nicht schlafen, das ist alles. Wir haben zwar ein nettes Hostel gefunden und natürlich wieder die teure Pärchensuite genommen, weil CW ja nicht mit Fremden im günstigeren Achtmannzimmer übernachtet.  Aber unser Bett ist so eng, dass mich CW nachts mit seinen langen Fußnägeln kratzt.

(cw) Ja, tut mir leid, ich habe die Fußpflege in Buenos Aires nicht mehr geschafft. Länger als der Nagel vom großen Onkel rechts ist nur noch diese Nacht. Dafür sorgen auch die Kopfkissen, die eigentlich bezogene Gartenmöbelpolster sind: fünf Zentimeter flach und sehr hart. Ich erwache um fünf und bin trotzdem gleich topfit. Ich will jetzt Salta sehen. Die Argentinier nennen die Hauptstadt und ihre Provinz la Linda, die Schöne. Und für das Schöne bin ich ja immer zu haben. Aufstehen, Herr T.!

(Herr T.) Wer mit CW übernachtet, braucht keinen Wecker. Alles bereitet dem Mann Mühe: das Zähneputzen, das Duschen, das Anziehen. Er kämpft sich allmorgendlich ins Leben zurück und lässt mich gern daran teilhaben. Bei CW wird in den ersten 15 Minuten nach dem Aufstehen heftiger gestöhnt als in jedem zweistündigen Porno.

(cw) Zweistündige Pornos. Es gibt zweistündige Pornos?

(Herr T.) Ja. Hab ich jedenfalls gehört.

(cw) San Bernardo heißt der Stadthügel, 1458 Meter über Salta. Wir fahren mit dem Teleférico, der Seilbahn, hinauf. Oben erkennt man, was man unten bestreitet: dass in der achtgrößten Stadt Argentiniens 465 000 Menschen leben. Es ist ziemlich warm, und trotzdem treiben ein paar Irre Sport. Männer stemmen Gewichte, die Frauen fahren Hometrainer und machen Gymnastik. Ich schwitze schon vom Spannen.

(Herr T.) Ein bisschen Sport könnte CW nicht schaden. Dann müsste er nicht immer schwarze Klamotten tragen, um seine Fettpolster zu verbergen. Ich schlage also vor, dass wir am Stand mit der Aufschrift »Downhill« Mountainbikes mieten und uns den San Bernardo hinunterstürzen.  Das Tempo würde gleich CWs Falten glattbügeln.

(cw) Welche Falten? Vorschlag abgelehnt. Ich will gondeln. Herr T. geriert sich ja gern als Filmexperte; gucken wir mal, ob er mehr kennt als den Sauffurzundbumsklamauk der amerikanischen Collegefilme. He, Cineast: Filmtitel, in dem das Wort Gondeln steckt?

(Herr T.) Puh, war das schwer. Wäre es doch mit CW immer so einfach. Seit unserer ersten Tour nach Chile weiß ich, dass er sich gerne entblößt. Ich bin also nur mäßig überrascht und trotzdem erschrocken, als er sich auf der Abfahrt vom San Bernardo entkleidet. Alleine in einer engen Gondel, gefühlte 100 Meter über dem Erdboden mit einem halbnackten, zehn Jahre älteren Mann: Kein Wunder, dass wir von den anderen, die hinauffahren und ans uns vorbeiziehen, fotografiert werden.

(cw) Herr T. hat über seine Arbeit wieder einen Kollegen aufgetan, der sich um uns kümmern will – wie auf unserer ersten Reise René, der Superchilene. René hatte uns acht Stunden durch Santiago gefahren, ein Armenviertel und ein Museum gezeigt, uns abgefüttert und abgefüllt. Nun sagt ein gewisser Pedro am Telefon: »Kommt nach Jujuy, alles ist vorbereitet, ich warte am Busbahnhof.« Also brechen wir am nächsten Morgen mit dem Bus aus Salta in die Nachbarprovinz auf, ohne zu wissen, was uns in der Hauptstadt San Salvador de Jujuy erwartet. Wir brauchen keinen Plan. Wir haben Pedro.

Herr T. hat ein sehr dickes Reisebuch mit, es heißt Südamerika für wenig Geld und empfiehlt trotzdem nur Dinge, die dem Centavosfuchser aus Deutschland zu teuer sind. Auch umgerechnet acht Euro für eine zweieinhalbstündige Fahrt im Komfortbus findet er unangemessen. Ich lese, dass Jujuy im Unabhängigkeitskrieg eine wichtige Rolle gespielt habe. General Manuel Belgrano  – bis heute Volksheld und Legende – ließ alle Einwohner evakuieren, damit sie nicht gefangen genommen wurden. Der éxodus jujeño, der Auszug aus Jujuy, wird jedes Jahr im August eine Woche lang gefeiert.

(Herr T.) René war echt super; wir werden ihm eine Postkarte schicken. Aber jetzt ist Pedro-Zeit: Er steht, wie verabredet, am Busbahnhof – ähm, mit seiner Frau.

(cw) Unser éxodus jujeño dauert genau 35 Minuten. Herr T. wird von Pedro direkt zum nächsten Reiseschalter geführt. Unsere Tickets sind schon reserviert und müssen nur noch bezahlt werden. Herr T. zögert kurz – und öffnet dann sein Portmonee.

(Herr T.) Wir fahren nach Purmamarca.

(cw) Wohin? Pumucka?

(Herr T.) Pur-ma-mar-ca. Alte Inka-Siedlung.

(cw) Was sollen wir dort?

(Herr T.) Keine Ahnung. Irgendwen unbedingt treffen oder so. Hör auf zu fragen, Pedro guckt schon komisch.

(cw) Die restlichen 20 Minuten schlagen wir mit Nebeneinander-Rumstehen und Einander-Nichtverstehen im Bahnhofslärm tot. Zum Abschied sagt Pedro, dass uns Alfredo vom Bus abholen wird. Alfredo?

(Herr T.) Alfredo. Schnauze, CW!

(cw) Wir fahren von San Salvador de Jujuy direkt hinein in ein Weltkulturerbe der Unesco: die 150 Kilometer lange Schlucht von Humahuaca (Quebrada de Humahuaca), durch die einst die koloniale Postroute in die bolivianische Silberstadt Potosí  führte und heute die Nationalstraße 9. Höhe: 1900 bis 3400 Meter über dem Meeresspiegel.

(Herr T.) CW hat schon vorgesorgt und in Salta Kokablätter gekauft – in einem Souvenirladen, das Tütchen für fünf Pesos. Er riecht jetzt mitunter etwas streng, auch aus dem Mund, und schmatzt fröhlich.

(cw) »Die malerische Landschaft besteht aus farbenprächtigen kahlen Hügeln und winzigen Dörfern«, steht in Herrn Ts. Reisebuch. Meines hat natürlich ein ganz anderes Niveau: »Gesteine marinen Ursprungs aus dem Präkambrium und Paläozoikum mit meist recht dunkler Einfärbung von grünlichem bis bläulichem Grau oder kambrische Gesteine in Rosa, Grün und Braun.«

Fast zwei Drittel der mehr als 600 000 Einwohner der Provinz Provinz Jujuy sind Mestizen, also Mischlinge aus europäischen Einwanderern und Indianern, oder Nachkommen verschiedener Indianerstämme. Die so genannten Quechua-Bauern bauen vor allem Mais an und züchten magere Rinder.

(Herr T.) Mischlinge? CW, der Volkskundler und Abstammungsgelehrte! Aber über Rommel lästern. Nun ja, ich erkenne, dass wir meinem Ziel allmählich näher kommen. Argentinien sieht hier schon aus, wie ich mir Bolivien vorstelle: Die Häuser sind Lehmhütten, und die Menschen haben eine dunklere Haut. CWs Angeberbuch entnehme ich, dass – bevor die Spanier zwischen 1550 und 1580 die Region eroberten – hier die Völker der Omaguaca, der Tilcara und der Tilianes siedelten. Aha. Noch 170 000 ihrer Nachfahren sollen heute in dieser Berglandschaft leben.

(cw) Als wir eineinhalb Stunden später in Purmamarca ankommen, ist kein Alfredo da. Wir warten 45 Minuten, wir sitzen im Staub, weil kein Weg des Ortes befestigt ist, wir wollen uns auch nicht entfernen, es könnte ja Alfredo kommen, der nach zwei Männern sucht. Ich habe kurz die Vision, dass Purmamarca zu unserem Goa wird und wir nie wieder wegkommen. Jedes Mal, wenn deutsche Touristen mit dem Bus anhalten, sagt der Reiseführer: »Die beiden dort drüben mit den langen weißen Haaren, sehen Sie sie? Deutsche. Jeder kennt die hier. Jeder kennt ihre Geschichte. Die warten auf Alfredo. Seit 20 Jahren. Für ein Foto verlangen sie fünf Pesos.«

Um uns herum sind nur Hippies in bunten Hosen, mit Armbändern und aufgeschnallten Gitarren, unterwegs.

(Herr T.) Man möge CW das nachsehen, er ist ja schon älter und kennt die aktuelle Jugendkultur nicht mehr so richtig: Aber das sind keine Hippies. Das sind Backpacker. (Für CW: Rucksacktouristen.)

Wir schicken jetzt doch mal eine SMS: »Hallo Pedro! Sind gut angekommen. Purmamarca ist wirklich sehr reizend. Tolle Berge. Hat sich gelohnt. Klitzekleines Problemchen: Wo ist Alfredo?«

(cw) Und dann kommt ein Mann in Zeitlupentempo auf uns zu. Er scheint mir etwas sagen zu wollen, er öffnet die Lippen ungefähr zwei Millimeter und lässt etwas hindurch, mutmaßlich spanische Wörter, ich verstehe aber nur das letzte: alemanes. War es eine Frage? Ich nicke mal und folge ihm.

(Herr T.) Ich habe gerade den Berg der sieben Farben angestarrt und gar nichts mitbekommen. Im Gehen frage ich CW, ob das Alfredo sei. »Glaub schon«, sagt CW. Dann frage ich den Mann, der Alfredo sein soll: »Bist du Alfredo?« – »Sí.« Er ist nicht sehr gesprächig, er zeigt uns ein Haus, in dem wir uns irgendwann, heute oder morgen, ganz egal, einfinden sollen, um jemanden zu kennen zu lernen, er bringt uns in ein Zimmer und geht grußlos ab.

(cw) Ich schlage vor, dass wir uns jetzt den Berg der sieben Farben aus der Nähe anschauen. Wer glaubt: Der Legende nach soll Gott hier die Farben zur Erschaffung der Welt erfunden haben.

(Herr T.) Wir klettern auf einen Hügel, der gegenüber vom Farbenberg liegt, und machen Fotos. Ich muss wieder aufpassen, dass CWs großes Riechorgan nicht mit aufs Bild kommt, als er sich mit dem Rücken zu mir stellt und posiert. Übrigens auch eine ganz schöne Berglandschaft, seine Nase. Nur weniger farbenreich. Aber wenn die Sonne weiter so glüht, dann hat er sie morgen rot.

(cw) Dort unten ist das Haus, das uns Alfredo gezeigt hat. Gehen wir mal hin und schauen, wen wir kennen lernen sollen. Hoffentlich ist der Mann kein Fan der Boca Juniors. Aber vorher setze ich mir noch schnell – grüne Blätter in die linke Backe, bis sie sich beult – mein Kokagesicht auf.

Fortsetzung folgt

Nachtrag: Bei Herrn T. haben wir es übrigens erst bis Salta geschafft. Sein Text heißt »Reise nach Bolivien: Teil 1 – Salta-stisch« und beginnt so:

Der Flug war schnell um, die Gespräche drehten sich erneut um Politik (CW wollte mit Wissen glänzen), Frauen (CW wollte auf dem Laufenden bleiben) und Essen (CW hatte Hunger).

Bolivianisches Duell

von CHRISTOPH WESEMANN

Während meines zehntägigen Höhenflugs mit Herrn T. nach Bolivien zum Salar de Uyuni, der größten Salzwüste der Welt, die in der Regenzeit zum größten Salzsee der Welt wird, haben sich Arbeit und Vaterpflichten angesammelt. Herr T. und ich werden uns trotzdem recht bald zum Duellieren in unsere Dichterhöhlen begeben und dann hier – wie einst aus Chile – einen gemeinsamen Reisebericht abliefern. Bis dahin gibt es ein paar Bilder unserer Tour. Und um Zeilen und Zeit zu schinden, kopiere ich einen eigenen Facebook-Beitrag von gestern Nacht, obwohl mir Herr T., der Germanistikstudent, beim Frühstück zwei Grammatikfehler angekreidet hat. Pfffff, ich schreibe doch nicht für Germanisten. Jaja, Herr T. und ich können uns immer noch nicht leiden.

Welch ein Abschied aus Salta. Der letzte Abend der großen Reise: eine Argentinierin, ihre zwei erwachsenen Töchter und ein Deutscher, der schlaflos durchs Hostel streunt, ins Wäschewaschen am Hinterhofspülbecken platzt, halb bleiben will, halb bleiben soll und um 23 Uhr die selbstgemachte Pizza vom Grill abzulehnen versucht.

Die Señora schaut genau einmal, fünf Minuten vor Mitternacht, auf die Uhr, schenkt Cola nach und sagt: «Ach, ist ja noch früh.»

Natürlich wird über Politik geredet. Worüber denn bitte sonst?

Am Ende, um kurz nach zwei, noch lernen, worauf es beim argentinischen Streifkuss auf die Wange, dem beso, ankommt: nicht auf die Präzision. Was zählt, ist der Klang. Der beso muss zu hören sein.

Falls Ihnen zwischendurch langweilig ist, können Sie gern die Reportage lesen, die ich – vor meiner Abreise – für die Schweriner Volkszeitung über die Argentinien-Tour junger Bläser aus Mecklenburg-Vorpommern geschrieben habe.

Auszug:

Es passt eigentlich ganz gut, dass Konrad Söffky gerade an diesem Morgen die Brille in seine Tuba gefallen ist. Jorge Ludueña wird sich am Abend darum kümmern. Der Argentinier baut und repariert Trompeten, Tubas und Hörner seit seinem elften Lebensjahr. Inzwischen ist er 72 und hat die elf Musiker vom Jungen Bläserkreis Mecklenburg-Vorpommern zu sich nach Hause eingeladen. »Jorge ist der René Favaloro der Blasinstrumente«, sagt Martin Huss, der Landesposaunenwart der Nordkirche. Favaloro, Argentiniens berühmtestem Arzt, gelang 1967 die erste Bypass-Operation am Herzen. Jorge Ludueña soll nur die gelbe Plastikbrille aus der Tuba holen, die Konrad Söffky trägt, wenn sie »Der rosarote Panther« spielen.

Vieles ist anders, und deshalb klappt noch nicht alles. Aber die dreiwöchige Tour durch Argentinien – mit einem Abstecher nach Chile – beginnt für die sieben Mädchen und vier Jungen auch gerade. Die erste Probe nach der Ankunft in Banfield, einem Vorort von Buenos Aires, empfand Chorleiter Martin Huss als »Katastrophe«. Seine Bläser standen unter der Eiche, die Huss’ Vater 1939 als Pflänzchen mit aufs Schiff genommen hatte, als er mit seiner ungarischen Frau Deutschland verließ, um fortan in Argentinien zu arbeiten und zu leben. Huss, Jahrgang 1960, eine Riese von 1,95 Meter, liebt diesen Baum, und er liebt das Haus davor, in dem er mit fünf Brüdern und seiner Schwester Ili aufgewachsen ist. Ili lebt bis heute hier, und jetzt ist das Haus endlich wieder voll.

Martin Huss ließ Stücke anspielen, er unterbrach und beschwerte sich, dass die hohen Töne »klappern«, er sang »da-da-di« und »dagga-dagga-daaa«, so sollte es klingen, er sang »traka, traka, trika, trika, tru« – und so bitte nicht. Bei »Schlomo tanzt«, einem Stück, das der Bläserkreis noch nie im Konzert gespielt hat, hörte der Dirigent »Intonation null« und korrigierte sich dann auf »minus 15«. Weiterlesen (pdf)

Erfrischung

von CHRISTOPH WESEMANN

Neulich in Buenos Aires:

Ich bin dann mal eine Weile im Norden. Herr T. muss wieder außer Landes.

Ein Argentinier und die Blasmusik

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich werde in Buenos Aires niemals Tangounterricht nehmen. Ich verspreche es. Ich will das keinem Argentinier zumuten, und außerdem hat die Integration auch Grenzen. Ich trinke schon mehr Mate als meine Nachbarn – und wenn er mir zu bitter schmeckt, denke ich an die Kaffeepreise in Buenos Aires. Ich komme an keinem Imbissstand vorbei, ohne mir Choripán mitzunehmen. Ich esse zum Frühstück Superpanchos und abends vor dem Schlafengehen Dulce de leche pur. Und natürlich wird Argentinien 2014 Fußballweltmeister. Wer soll uns denn bitte besiegen? Aber das Tangotanzen werde ich nicht lernen. Es spielt doch auch kein Argentinier, den es nach Deutschland verschlagen hat, Blasmusik.

Augenblick, es gibt ja einen Blasmusik-Argentinier. Martin Huss lebt mit seiner Familie in einem winzigen Dorf in Mecklenburg und trägt einen Titel, der deutscher kaum sein könnte: Landesposaunenwart. Der Sohn eines Deutschen und einer Ungarin, die 1939 nach Argentinien auswanderten, ist verantwortlich für 1300 Kirchenmusiker. Wenn er die Posaunen dirigiert, trägt er gern einen Poncho.

Mecklenburg, im Nordosten Deutschlands gelegen, ist Santa Cruz minus Pinguine und die Kirchners: eher dünn besiedelt, von Leuten, die man verschlossen, stur oder bodenständig nennt. »Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg“, hat der Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 bis 1898) einst gesagt, „denn dort geschieht alles 50 Jahre später.« Gestorben ist er dann aber in einem Dörfchen namens Friedrichsruh, ein paar Kilometer entfernt von der mecklenburgischen Grenze.

Vor sechseinhalb Jahren, im Sommer 2006, traf ich Martin Huss, um für die Zeitung eine Geschichte darüber zu schreiben, wie sich ein Argentinier in Mecklenburg auf das WM-Viertelfinale seiner Nationalmannschaft gegen Deutschland freut. Die meisten Menschen auf dieser Welt müssen erst ein bisschen auftauen, wenn jemand von der Presse kommt und Fragen stellt. Martin Huss, gehört zu den wenigen anderen. Und so erzählte er gleich von seiner Armeezeit mit Diego Armando Maradona. Argentiniens Goldjunge hatte natürlich Wichtigeres zu tun, er musste Fußball spielen und durfte sich drücken. Der Soldat Martin Huss sah den Kameraden Diego genau zweimal: am ersten und am letzten Tag ihrer Armeezeit. Trotzdem schimpfte er nicht auf die Privilegien der berühmten Nummer 10, er verstand das vollkommen. Hätte das Genie denn seine Zeit damit vergeuden sollen, mit dem Gewehr zu schießen oder zu marschieren?

Martin Huss war der erste und einzige Argentinier, der mir in Deutschland jemals begegnet ist.  Er plauderte über sein Land, erzählte vom Asado und stellte mit zwei Kaffeetassen, einem Zuckerstreuer und einer Kastanie Traumtore der Albiceleste nach. Nach zwei Stunden in seinem Garten hatte ich, der junge Journalist, einen vollen Notizblock und hätte drei Zeitungen füllen können. Und ich war verliebt in Argentinien.

Vielleicht überlege ich mir das mit dem Tangolernen noch einmal

(Diese Kolumne ist erstmalig im Argentinischen Tageblatt erschienen.)

Söhnlein Brillant (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Sohn (6)

  • klärt auf dem Weg zu seinem Schulfreund, bei dem er übernachten wird, letzte Details:

»Franco ist nicht Deutscher, Papa, der ist Argentinier. Und das bedeutet: Wir trinken ganz viel Cola.«

  • macht Zukunftspläne:

»Wenn ich später nicht bei Barcelona spiele, baue ich ein großes Legoland auf.«

»Gibt’s doch schon

»Aber nicht in Argentinien.«

  • liegt mit seinen kleinen Schwestern im Planschbecken auf der Terrasse und erkärt, warum er als einziger eine Badehose trägt:

»Ich will doch nicht, dass mich die boludos von gegenüber nackt sehen.«

Cristinas Sonnenbrille und Merkels Handtasche

von CHRISTOPH WESEMANN

Es ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, im Land des weltbesten Fußballers zu leben. Mein sechseinhalbjähriger Sohn zum Beispiel kommt obenrum mit zwei Kleidungsstücken aus: Er trägt tagelang Leo Messis Nationaltrikot. Wenn das in die Wäsche muss, nimmt er Messis Barcelona-Trikot. Und wenn das schmutzig ist, dann – genau.

Es ist ein nicht zu unterschätzender Nachteil, in der Stadt zweier weltbekannter und tief verfeindeter Fußballvereine zu leben. Als wir vor einem halben Jahr von Berlin nach Buenos Aires gezogen sind, mussten mein Sohn und ich entscheiden: River oder Boca? Der Nobelklub aus dem Norden oder der Arbeiterklub aus dem Süden? Mein Sohn hat Boca gewählt, obwohl sein Vater wirklich kein Arbeiter ist. Ich weiß gar nicht mehr genau, was für die Bosteros sprach. Gegen die Gallinas sprach jedenfalls das Trikot mit dem roten Diagonalstreifen.

Seine Schulfreunde sind, so weit ich das überblicke, River-Fans – und deren Väter und Großväter natürlich auch. Er hält sich aber bislang tapfer. Nein, er hält dagegen. Ich bin da viel opportunistischer. Sobald ich mit einem River-Fan in Streit gerate und erkenne, dass ich mangels Sprache untergehen werde, bringe ich die argentinische Präsidentin ins Spiel. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen zwei Kontrahenten ist im Augenblick Cristina Fernández de Kirchner.

Für jemanden, der aus Deutschland kommt, ist diese Frau ein Rätsel. Uns Deutschen wäre ihre Art nicht zuzumuten. Zu laut. Zu giftig. Zu grell. Vielleicht will sie manchmal nur Macht demonstrieren, aber der Eindruck, der entsteht, ist eben auch: Die macht, was sie will. Und ein Staatsoberhaupt sollte das gerade nicht: tun, was es will.

Cristina mit Sonnenbrille

Als die Präsidentin neulich Venezuelas erkrankten Staatschef Hugo Chávez in Havanna besucht hat, behielt sie auch in geschlossenen Räumen ihre Sonnenbrille auf. Ich habe zweimal hingeschaut. Cristina, eine Sonnenbrille, keine Sonne weit und breit. In Deutschland würden Politiker, die so etwas tun, für arrogant, verrückt oder betrunken, wahrscheinlich aber für alles auf einmal, gehalten. Das Extravaganteste, das Journalisten an Angela Merkel in mehr als sieben Jahren als Bundeskanzlerin entdeckt haben, ist eine orangefarbene Handtasche, und selbst die kommt nur sehr dosiert zum Einsatz.

Aber vielleicht lerne ich auch, mich an diese extravagante Präsidentin zu gewöhnen, so wie ich ja vieles noch lerne. Manches habe ich auch schon gelernt: dass man Heiligabend in Buenos Aires ohne Strom feiern kann oder dass die Jungs, mit denen ich mittwochs im Parque Norte Fußball spiele, unbedingt mit besos zu begrüßen sind. Bei anderen Dingen hilft es, drei Kinder zu haben, die das Castellano nebenbei erlernen. Wenn ich mit ihnen in der Hauptstadt im Auto unterwegs bin und ein Schimpfwort brauche, weil ich irgendeinen Porteño zurück beleidigen will, wird mir von der Rückbank souffliert. Man kann ja nicht immer boludo rufen.

(Diese Kolumne ist erstmalig im Argentinischen Tageblatt erschienen.)

Wo der Urin verkauft wird: Unterwegs im Elendsviertel von Monte Grande

von CHRISTOPH WESEMANN

Am Ende, nach vier Stunden in Monte Grande, bleibt ein Satz, der vieles erklärt. Der erklärt, warum das Elend nicht weicht, sondern wächst, Jahr für Jahr um zweihundert Meter, obwohl es doch immer wieder von einigen verlassen wird. Der erklärt, warum Carlito und seine Freunde in die Kapelle Medalla Milagrosa de Monte Grande kommen, wo es eine Bibliothek gibt, mit Schulbüchern sogar, Fußbälle, eine Sporthalle, eine Spielzeugkiste und heute Schokoladenkuchen. Der erklärt, warum in Buenos Aires an jeder dritten Ecke ein Polizist steht – und man hier in vier Stunden nicht einen sieht.

»Der Staat existiert nicht.«

Den Satz, der vieles erklärt, sagt ein zwölf Jahre altes Mädchen.

Monte Grande 9

Monte Grande 5

Das Elendsviertel von Monte Grande ist eines, wie es viele gibt in Argentinien. Es gibt größere Villas Miserias in Gran Buenos Aires, der Hauptstadt mit ihrem Speckgürtel, in Gran Rosario (Provinz Santa Fe) und anderswo. Vielleicht leben hier, eine halbe Stunde entfernt vom Zentrum der Metropole, ein paar Tausend. Warum sollten sie gezählt werden? Wer sollte sie zählen? Der Staat? Hilfe wird in Argentinien vor allem in der Familie gesucht und danach bei Freunden. Doch was, wenn Familie und Freunde als Problemlöser ausfallen, weil sie selbst mehr Fragen als Antworten haben?

Es ist Ferienzeit. Carlito und seine Freunde machen in der Halle Frühsport. Sie werfen und fangen Bälle, es wird getobt und gelacht. Aber da sind auch die roten Plastikhütchen auf dem Betonboden, und da ist ein Mann mit Trillerpfeife. Hütchen und Trillerpfeife, man kennt’s von Jogi Löw, bedeuten immer auch: Unterricht in Taktik und Philosophie.

Eine Regel für Besuche im Elendsviertel lautet: niemals allein hineingehen, nie ohne eine lokale Autorität, die den Leuten signalisiert, dass der Fremde bitte nicht angefasst werden darf. Rein kommt man immer…

Monte Grande 2

Monte Grande 1

Nicolás Falcone arbeitet in der Kapelle, dem einstöckigen Freizeit- und Bildungszentrum der katholischen Wohlfahrtsorganisation Cáritas. Er wird dafür sorgen, dass man auch wieder rauskommt.

Carlito laufen die Schweißperlen aus dem schwarzen Haar, als er den Raum betritt, der Büro, Bibliothek und Spielecke zugleich ist. Einer seiner Freunde liest im Biologiebuch. Auf dem Boden sitzt ein Sechsjähriger, legt Wörter aus Holzbuchstaben und baut dann Türme aus bunten Plastiksteinchen. Zum Warmwerden ein bisschen Fußball verbal. Carlito, wer ist dein Lieblingsspieler? Man kennt die Antwort schon: Natürlich, Leo Messi ist auch in Monte Grande ein Idol. Doch Carlito wählt Carlos Tévez, den Apachen. Der ist einer von ihnen: Kindheit im Schatten der Hochhäuser von Ejército de Los Andes im Großraum Buenos Aires, die Haut vernarbt von einem Unfall mit kochendem Wasser. Heute: Millionär. Und die Deutschen? Die zwei Spieler, die der 13-Jährige schätzt, sind wie überall in Argentinien Helden ohne Umlaut: Ozil und Muller.

Monte Grande

Monte Grande 6

Aufbruch. Vor der Schule Nummer 13 warten Kinder aufs Mittagessen. Noch ist das Gitter vor. Es geht vorbei an den typischen Villahütten, die über den Rohbau nicht hinausgekommen sind – von Weitem schon leuchten die unverputzten roten Steine. Es liegt Müll herum, aber es scheint eine gewisse Ordnung zu geben, und man versucht, gegen alle Unbill seine Würde zu verteidigen. Draußen wird gegraben und drinnen gewerkelt. Die vom Leben zerrupften Lumpengestalten, die durch Buenos Aires streuen – hier sind sie nicht. Wer an der Bushaltestelle steht, um in die Stadt Lomas de Zamora zu fahren, trägt, was die Herkunft versteckt. Keiner wäre draußen als Villa-Bewohner zu erkennen.

Ein paar Autos und viele Hunde sind unterwegs. Es gibt kleine Kioske mit Klingel an der Fensterscheibe. An der Straße, vor den Häusern, stehen Kanister. Urin. Literweise. Wird von Pharmaunternehmen fürs Labor gekauft. Wofür genau? Achselzucken.

Monte Grande 7

Reif wirken sie, Carlito und seine Freunde, sogar ein bisschen stolz. Niemand beklagt sein Leben. Zweieinhalb Stunden zeigen sie ihr zu Hause, ohne einmal zu murren, was vielleicht auch daran liegt, dass dieser Spaziergang heute aufregend ist. Fremde, Ausländer zumal, kommen sonst nicht hierher – und wenn doch, dann: um zu bleiben. Dieses Stück von Monte Grande ist Südamerika in Miniaturformat: Paraguayer und Peruaner, Bolivianer und Argentinier leben zusammen.

Armut wird in Argentinien über Generationen vererbt. Der Aufstieg ist schwierig – auch, weil die Unterschicht von einem stetigen Wirtschaftswachstum wie im vergangenen Jahrzehnt nach dem Fast-Bankrott von 2001/02 kaum etwas abkriegt. Im Elendsviertel von Monte Grande ist eine Familie mit vier, fünf Kindern eher Normalfall als Ausnahme – gewiss auch, weil der Nachwuchs mitunter die einzige Einnahmequelle ist. Der Staat macht nicht viel, aber Kindergeld zahlt er. Für jedes Kind gibt es umgerechnet 55 Euro. Spielzeug hat es trotzdem selten.

Manchmal arbeiten die Männer, als Fahrer, auf dem Bau oder als Cartonero, der Pappe und anderen Müll von der Straße sammelt und verkauft. Doch viele Väter haben sich, wenn sie nicht gestorben sind, irgendwann aus dem Staub gemacht, was durchaus wörtlich verstanden werden darf. Der Wind spielt mit dem Sand, und weil Straßen kaum asphaltiert oder gepflastert sind, gibt es viel davon. Zurück bleiben Mütter, alleinerziehend, fünf Kinder. Dass die Löhne steigen, bringt ihnen nichts.

Monte Grande 8

Im blauen Haus wohnt einer von Carlitos Freunden. Es riecht in diesem Teil der Straße ein bisschen nach verstopfter Kanalisation, wobei eine Kanalisation ja nur verstopfen kann, wenn es sie gibt. Die Oma hat gegenüber ihr Häuschen, an das der große Bruder für seine junge Familie angebaut hat. Er hat Arbeit. Deshalb sticht sein Anbau auch heraus und lässt Omas Hütte noch ärmlicher aussehen. »Aaabueeelaaaa!«, ruft eines der Mädchen. Oma öffnet das Tor, freut sich über den Besuch, sie verschenkt jedenfalls ein Lächeln. Die Armut hat sich bis in den Mund geschlichen. Es fehlen Zähne, viele Zähne.

An der Stubenwand hängen Familienfotos und eine Urkunde der Peronistischen Partei, die in Wahrheit eine Bewegung von links bis rechts ist, Argentinien seit Ewigkeiten beherrscht und selbst eine Orthodoxe wie die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner erträgt. Die Urkunde bescheinigt dem Opa, ein militanter Peronist, nun ja, gewesen zu sein. Er lebt nicht mehr. Militanz ist für Peronisten eine Art Großes Verdienstkreuz, die Anerkennung für Treue und – mitunter körperliche – Hingabe. Politik wurde und wird in Argentinien immer auch auf der Straße gemacht.

Monte Grande 3

Die Diözese Lomas de Zamora der Cáritas hat einen Plan de Inclusión Educativa entwickelt. Bildung solle armen Schichten den sozialen Aufstieg und Teilhabe ermöglichen, erzählt Nicolás Falcone. »Davon hängt alles ab. Ohne Bildung keine Zukunft.« Der Plan umfasst allerlei: wirtschaftliche Hilfe, eine gemeinsame Mittagpause mit gesundem Essen, das Angebot, die Räume zum Lernen, Spielen und Reden zu nutzen, Nachhilfe, Hochschulstipendien. Im vergangenen Jahr habe man die Erwachsenen im Viertel eingeladen, Schreiben und Lesen zu lernen. »Wir waren überrascht, wie viele nicht mehr als ein paar Buchstaben kritzeln konnten«, sagt Falcone. »Sie hatten es nie gelernt. Vielleicht hatten sie gar keine Chance.«

Argentinien ist zwar stolz auf seine Alphabetisierungsrate von mehr als 97 Prozent, die höchste des Kontinents, und auf seine kostenlosen Schulen und Universitäten. Nur: Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder auf private Schulen und Hochschulen. Und die geringe Zahl von Analphabeten verdeckt, dass viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und deshalb auch keine Arbeit finden, die sie für zumutbar halten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent – in Deutschland sind es acht. Vielen bleibt die Straße, die schnelles Geld verspricht und nicht nach einem Zeugnis fragt. Wie in allen Villas Miserias, wird auch in Monte Grande, wenn das Licht ausgeht, gedealt. Und es gibt die Süchtigen, die nach einem halben Jahr auf der Armutsdroge Paco nur noch Zombies sind.

Monte Grande 4

Doch selbst wenn zwei von fünf Kindern in jeder Großfamilie einen Abschluss machen und das Elend verlassen, was ein großer Erfolg wäre – es blieben immer noch drei, die es nicht schaffen. Nicolás Falcone nickt. Er weiß das alles, er ist kein Träumer. Er sieht auch, dass jedes Jahr Hütten hinzukommen – zweihundert Meter neue Armut. »Manche Kinder haben fünf Klassenlehrer in einem Schuljahr«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Die Lehrer bei uns kommen und gehen.«

Trotzdem soll das Haus hinter der Kapelle Medalla Milagrosa de Monte Grande einen zweiten Stock bekommen. Die Grundmauern aus leuchtend roten Steinen stehen ja schon. Im Augenblick fehlt: Geld fürs Dach.

Carlito verabschiedet sich genauso, wie er den Fremden vor vier Stunden begrüßt hat, wie man’s macht in Argentinien, egal, wo man zu Hause ist: mit einem Kuss auf die Wange.

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Cáritas Lomas Zamora

Plan de Inclusión Educativa

Facebook: Emaus Lomas de Zamora

 

¡Qué interesante! (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit drei Kindern zwei Tage und zwei Nächte allein. Das Bad überschwemmt; bei Facebook alles beschmiert. Ah, nur schlecht geträumt. In Wirklichkeit: Die Kleine fiebert. Die Mittlere erbricht sich vorm Schlafengehen. Der Große kriegt den Mittelfinger kaum noch runter.

Im Kindergarten freuen sich die Erzieherinnen mit mir, dass ich zum vierten Mal Vater werde. Ich kollabiere augenblicklich. Die Mittlere hat erzählt, dass sie ein Schwesterchen bekomme. Mit einem Anruf bei der angeblich Schwangeren kann ich sie der Lüge überführen.

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Gute Nachrichten aus Hamburg: Sohn I von Herrn Buddenbohm wird bald Schüler I, was schaurig-schöne Texte aus dem Klassenraum verspricht. Herr Buddenbohm macht sich schon mal Gedanken, landet wie alle großen Väter irgendwann bei sich selbst und katalogisiert die Lehrer seiner Schulzeit in den Siebzigern: Altnazi, 68er, Exot.

Dann biegt noch der Großschriftsteller Thomas Mann um die Ecke, dessen Hanno Buddenbrock den gleichen Schulweg geht, den Herr Buddenbohm immer gegangen ist. Oder umgekehrt. Egal. Lesen!

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Meine Thomas-Mann-Lieblingsanekdote habe ich neulich im Buch 1913 von Florian Illies gefunden.  Der berühmte Dichter steht immer um 8 Uhr auf. Er braucht keinen Wecker und muss auch nicht geweckt werden. Er erwacht immer um acht. Ein einziges Mal wird er schon um halb acht wach – und bleibt, völlig verstört, noch eine halbe Stunde im Bett liegen.

Einer der Literaturdozenten in meiner Studienzeit konnte sich immer furchtbar aufregen über Thomas Mann. Ein Langweiler sei das gewesen, ein stocksteifer Spießbürger und politisch Blinder. »Sein Bruder Heinrich ist doch viel interessanter. Hat das mit Hitler auch viel schneller begriffen.«

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Herr T., mein Reisebegleiter nach Chile, liegt mir seit Wochen in den Ohren, dass er mal wieder zum Asado vorbeikommen will. Ich weiß jetzt, warum. Er schreibt:

Ich gehe oft mit Hunger ins Bett. Ich habe nämlich fast nie etwas im Kühlschrank, außer Wasser. Ich könnte einkaufen gehen, aber ich tue es nicht. Es ist weitaus schlimmer, als etwas hungrig ins Bett zu gehen. Einkaufen in Argentinien ist anstrengend.

Sag bloß.

Dann leistet er sich eine fiese Nummer. Fantasiert erst irre: «Für jede überarbeitete Kassiererin in Deutschland wären 2 Wochen Buenos Aires Schichtdienst wie Sommerurlaub.«  Ich finde ja, man sollte immer sachlich bleiben. Dann bemüht Herr T. auch noch mich als Zeugen:

Auch mein Reisegefährte CW erkennt als »Deutschlatiner« das Problem:  »Ich sehe die Gefahr, dass ich meine Einkäufe bald stehle – und die Kinder würden mich nicht mal vermissen: Papa wäre aus dem Gefängnis schneller zurück als aus dem Supermarkt.«

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Wiederentdeckt habe ich gerade einen Text, der bald drei Jahre alt wird. Es ist ein Jammer, dass mein Freund Axel so selten schreibt, seit er so laut singt.  Im April 2010 hat er herrlich übers Bloggen sinniert.

Da berichtet dann Herr Glumm von seiner Drogensucht während seiner früheren und späteren Jugend und Herr Meyer, alias Don Alphonso, der uns einen Blick in seine Jugend vom gleichen Zeitabschnitt aus Sicht der Upper-Class gewährt, kommentiert trocken unter einem Beitrag seines FAZ-Blogs Stützen der Gesellschaft: Drogensucht hatten wir einfach nicht, das war in Bayern nicht möglich.

So etwas will ich lesen. Ein Leben ohne Rauschgiftsucht und ohne High Society habe ich selbst. Aber ich will wissen, wie es ist. Andere wollen das nicht, aber sie wollen wissen, wie man einen Garten bestellt oder Kinder erzieht, einen Kuchen bäckt oder richtig glaubt. Die lesen dann Mutti- oder Katholenblogs. So einfach ist das und so sollten Blogs auch draußen ankommen.

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Der Sportjournalist  Jonathan Sachse hat ein wirklich sehr altes Video, nun ja, entdeckt. Ich habe dieses wirklich sehr alte Video bei Jonathan Sachse, nun ja, entdeckt. Bei Facebook habe ich es schon angepriesen, aber dort ist ja nun alles verschmiert weil einer der Durchgeknallten Argentinier ist, zeige ich es hier noch mal.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)