Wir ziehen das Tempo an. Bisschen Busfahren und Bergegucken in Salta, Jujuy, Purmamarca, nee, meine Herren, das war bislang nichts. Da ist’s ja mit Oma im Harz aufregender. Wir schicken Herrn T. und CW, unsere zwei Helden aus Buenos Aires, die nach Bolivien zur größten Salzwüste der Welt wollen, heute auf 3442 Meter. Endlich werden sie gefordert – und scheitern prompt. So wie sich das für eine gute Geschichte gehört. Auf geht’s! Anschnallen! ¡Vamos chicos!

(cw) Der Mann, den wir am Abend in Purmamarca treffen, ist ein Peronist der ersten Stunde, also ein alter Anhänger jener politischen Bewegung, die Argentinien seit mehr als einem halben Jahrhundert bestimmt, kontrolliert und beherrscht. Er hat Juan Domingo Péron, ihren Stammvater, den zweimaligen Präsidenten des Landes (1946-1955, 1973-1974), einst sogar getroffen. Jetzt zerlegt er direkt auf der Tischdecke ein Alfajor mit dem Messer in Einzelteile.

(Herr T.) Eine schöne Sauerei ist das. Die nächsten zwei Stunden wird er mit den nicht gegessenen Krümeln spielen, sie mit der Hand zusammenfegen und aufs Neue über die Tischdecke verteilen. CW hat sich Mate bestellt, unser Gastgeber trinkt Tee und ich Kaffee.

(cw) Ich weiß, dass Herr T. auf ein Abendessen spekuliert hat, als wir um halb acht ankamen. Er wird es in seinem Jahr in Buenos Aires nicht einmal zum Viertelargentinier bringen. 19.30 Uhr – das ist in diesem Land Kaffeezeit.

(Herr T.) Wir haben doch erst vor zweieinhalb Stunden gegrilltes Lamafleisch gegessen. Wie köstlich! Also ich denke nicht schon wieder ans Essen.

(cw) Wir sind mitten in der Geschichtsstunde. Unser Gastgeber erzählt, wie das in den dreißiger Jahren – ohne Radio, Fernsehen, Telefon, Internet – als kleiner Fußballfan in Purmamarca so war. Einmal die Woche, immer mittwochs, kam ein Zug aus Buenos Aires vorbei und brachte die Zeitung vom Sonntag mit. Darin standen die Ligaergebnisse vom Wochenende. Erst jetzt erfuhren die Jungen und Alten in Purmamarca, wie ihr Klub gespielt hatte. Den Rest des Tages verbrachten die Kinder damit, auf der Plaza die Spiele zu diskutieren.

(Herr T.) Ich trage mal nach, dass immer ein Mann aus Purmamarca, ein purmamarceño, zum Bahnhof ritt und die Zeitung holte.

(cw) Schon gut. Weil meinen Kopf das Übersetzen ungeheuer anstrengt, brauche ich manchmal eine Pause und schalte ein paar Minuten ab. Ich nicke nur noch, sage »ja … ja … ja … hmmm«, und als wäre ich Homer Simpson, klappert ein Affe in meinem Kopf mit zwei Topfdeckeln.

(Herr T.) Es ist auch nicht ganz leicht, unseren Peronisten der ersten Stunden zu verstehen. Er hat die linke Backe voller Koka, eine tischtennisballgroße Beule, die natürlich nicht unbedingt die klare Aussprache erhöht.

(cw) In der Wohnung stehen 50 Pokale, weil der Mann Präsident eines Fußballklubs in Jujuy ist. Sie seien bei ihm sicherer als im Vereinshaus, sagt er. Viele sind bis zu einem Meter groß und wunderschön. Es funkelt von allen Seiten. Ich habe früher auch ein paar Jahre im Verein Fußball gespielt, aber nie was gewonnen. Ich besitze nur eine Tüte voller Medaillen von meiner Karriere als Schachspieler (1984 bis 1990). Ich war ein paar Mal Schul- und Kreismeister meines Jahrgangs – aber solche glitzernden Pokale, nein, die gab es nicht.

(Herr T.) Habe ich mich verhört, oder hat CW soeben tatsächlich gefragt, ob er nicht einen dieser goldenen Staubfänger mitnehmen könne?

(cw) Mein Gott, es fiele doch gar nicht auf, wenn eine Trophäe – nur eine, die große dort oben – fehlen würde. Auf die leere Stelle kann unser Mann ja das Glas Salta-Marmelade stellen, das wir als Gastgeschenk mitgebracht haben.

(Herr T.) CW gibt nicht auf. Könnten wir vielleicht das Thema wechseln? Immer nur Fußball.

(cw) Jetzt müssen wir natürlich noch über den argentinischen Fußballs von heute reden. Ja, die Nationalmannschaft ist gut drauf und wird im nächsten Sommer in Brasilien Weltmeister. Aber ringsum: eine Katastrophe. Die Barras Bravas (Wilde Horden), vergleichbar mit der Ultra-Bewegung in deutschen Stadien, bedrohen Spieler und Trainer, prügeln sich mit der Polizei, mit der gegnerischen Horde oder untereinander, sie sind häufig in kriminelle Geschäfte verwickelt, handeln mit Drogen und werden dabei gern von Klubpräsidenten und Politikern gedeckt. Sie sind die heimlichen Herrscher des Klubs. Und es wird nicht besser, sondern schlimmer. Es ist Schande! Der Herr Präsident ist ganz meiner Meinung.

(Herr T.) Der Herr Präsident hat auch gar keine Zeit zu widersprechen. CW labert und labert.

(cw) Die argentinische U20 hat übrigens gerade die Qualifikation für die Nachwuchs-WM in der Türkei verpasst. In der ersten Liga ist das Niveau zum großen Teil unterirdisch. Selbst die bekannten Mannschaften kommen selten über Gebolze hinaus. Es fehlt überdies das Geld, um gute Spieler zu halten. Wer in Argentinien mit dem Ball was kann, geht nach Europa, wo er mehr verdient. 

(Herr T.) Ja … ja … ja … hmmm.


(cw)
Am nächsten Morgen wollen wir zu den Salinas Grandes fahren, dem 12 000 Hektar großen Salzsee. Von Purmamarca sind es dorthin nur 65 Kilometer bergauf. Zweieinhalb Stunden später werden wir zurückkehren und gleich den ersten Bus weiter gen Norden besteigen, so dass wir noch am Abend die bolivianische Grenze erreichen. Wir haben zum ersten Mal einen Plan.

Leider ist das Auto zu den Salinas Grandes schon voll. Aber das nächste fährt in 40 Minuten, und wir melden uns an.

(Herr T.) Nach diesen 40 Minuten fährt das Auto dann in weiteren 40 Minuten …

(cw) … und wir sind mittlerweile lang genug im Land, um zu wissen, dass es nach diesen weiteren 40 Minuten heißen kann: Gleich geht’s los …

(Herr T.) … also irgendwann. Sobald das Auto voll ist. Die Typen sind auch seltsam. Stehen einfach an der Straße und rufen: »Salinas, Chicos. Salinas.« Kein Büro, kein Schild, kein Firmenname. Nur Männer mit Autos, die man in Deutschland Familienkutschen nennen würde. Kein Wunder, dass sich niemand so recht dazu gesellen will.

(cw) Wenn wir es heute noch bis zur Grenze schaffen wollen, sollten wir jetzt aufbrechen. Wir müssen doch ein paar Meter hinauf. Purmamarca, wo wir jetzt sind, liegt auf 2192 Metern – unser Tagesziel, der argentinische Grenzort La Quiaca, auf 3442. Wir verschieben die Salinas-Tour auf unsere Rückkehr und verabschieden uns von Alfredo, unserem Kontaktmann vom Vortag. Er steht vor einem Souvenirladen, einem eher teuren allerdings, ja, er ist der Inhaber und inzwischen etwas aufgetaut. Er reckt den Daumen und freut sich auf ein Wiedersehen in drei, vier Tagen. »¡Buen viaje, chicos!«

(Herr T.) Wir müssen jetzt zu einer Stadt, deren Namen wir bis ans Ende unserer Reise nicht werden korrekt aussprechen können: Humahuaca. (Man sagt: Umawacka.) Angeblich soll dieser Ort, 2989 Meter hoch gelegen, der schönste der ganzen Schlucht von Humahuaca sein.

(cw) Die meisten der 15 000 Einwohner sind Quechua. Wir haben zwei Stunden Aufenthalt, bis der Bus nach La Quiaca fährt, wir essen Choripán und gehen zum Unabhängigkeitsdenkmal mit den 103 Stufen hinter der Plaza Gómez. Ein recht vulgäres Werk des hiesigen Bildhauers Ernesto Soto Avendaño soll es sein, habe ich gelesen. Vulgäres interessiert mich immer.

(Herr T.) Das kann ich bestätigen.

(cw) Das Denkmal ist dann aber nur »ein Beispiel für den indigenismo«, wie der Reiseführer schreibt, »eine weit verbreitete Mode in der lateinamerikanischen Kunst, in der auf romantische, aber herablassende Art die Tugenden der indigenen Bevölkerung angepriesen werden, die vom Kolonialismus überrollt wurde«.

(Herr T.) Wir platzen ohnehin hinein in den Karneval. Es wird nicht der letzte sein auf dieser Reise, sondern: der erste von vielen anderen. Kinder bespritzen sich mit Dosenschaum, es wird gesungen und sich mit Talk eingeschmiert.

(cw) Wir sind, zugegeben, ein bisschen deplatziert: Ich mag Karneval nicht, und Herr T. hat keinen Humor.

(Herr T.) In CWs Augen ist ein seltsames Leuchten. Es scheint, als würde er sich geradezu wünschen, auch mit Talk eingeseift zu werden. Er ist sowieso seit gestern merkwürdig. Er streunt jetzt dauernd um die Verkaufsstände mit den Ponchos herum. Er befühlt minutenlang die Alpaka-Wolle, lässt sich ausgiebig beraten, wie ein italienischer Herrenausstatter auf der Suche nach neuen Stoffen – und kauft im letzten Augenblick doch wieder nichts.

(cw) Noch 150 Kilometer sind es bis zur Grenze. Wir haben diesmal keinen Sitzplatz bekommen, lassen uns deshalb auf der Treppe zum Oberdeck nieder und schauen direkt ins Cockpit des Busses. Fünf Männer halten sich dort auf. Sie teilen sich erst einmal eine gebroilerte Ziege; während sich der Fahrer ein Stück abreißt und verspeist, hält er das Lenkrad wegen der fettigen Hände mit seinen Ellenbogen.

(Herr T.) Vor uns stillt eine Frau ihr Baby. Da mach ich mal die Augen zu. Es reicht ja, wenn CW glotzt.

(cw) Herr T. und ich sind übrigens die einzigen Weißen im Bus, wenn ich das richtig sehe. Und jetzt schläft er fest und pendelt dabei immer ein bisschen hin und her. Der Copilot sieht das gar nicht gern, er hat Angst, dass ihm der Blasse ins Cockpit fällt. Er gibt mir ein Zeichen, dass ich Herrn T. wecken soll, und reicht uns eine Handvoll Kokablätter.

(Herr T.) Ein Stück von der Ziege hätte ich genommen, aber Koka – nein, danke. Das überlasse ich dem Überintegrator CW.

(cw) Schon die Liebesgöttin der Inka hielt übrigens auf Bildern Kokablättern in den Händen. Koka steigert die Wachsamkeit, verringert die Wahrnehmung von Hunger, Schmerz und Kälte und hilft angeblich auch gegen die Höhenkrankheit Sorroche. Und nein, es ist keine Droge.

(Herr T.) Dass Koka Hunger, Schmerz und Kälte weniger stark erscheinen lässt, habe ich auch gelesen. Aber beim Probanden CW ist davon nichts zu spüren. Er klagt und schmatzt, er schmatzt und klagt. »Ich will einen Poncho und einen Pancho«, sagt er. Und riecht dabei immer strenger nach der Pflanze.

Das mit der Droge stimmt freilich. Um ein Gramm Kokain herzustellen, braucht man zehn Kilogramm Kokablätter, hat uns der Peronist der ersten Stunde gestern erzählt. Dennoch ist es nur im Norden Argentiniens erlaubt. Wahrscheinlich auch wegen der Tradition.

(cw) Weil wir ja gleich in Bolivien sind: Das Land wird von einem früheren Koka-Bauern regiert, der gerne Pullover und Lederjacke trägt. Evo Morales ist nicht nur der erste bolivianische Präsident indigener Herkunft, sondern auch eine der seltsamsten Figuren eines mit seltsamen Figuren reich ausgestatteten Kontinents. Morales wuchs mit sechs Geschwistern in Armut auf, von denen nur zwei überlebt haben, und arbeitete in seiner Jugend als Lama-Hirte, Bäcker und Maurer. Berühmt gemacht hat ihn sein Slogan: »¡Coca sí! ¡Cocaína no!« Er hat die Vernichtung von Kokaplantagen ausgesetzt, er will den Anbau verstärken und sucht nach Exportmöglichkeiten. Dabei geht es allerdings um alternative Kokaprodukte und nicht um Kokain.

Andererseits verstaatlicht der Linkspopulist, was sich verstaatlichen lässt, tanzt den Vereinigten Staaten auf der Nase herum und hat, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisiert, »die Gewaltenteilung praktisch ausgehebelt und vor allem die Justiz fast in die Handlungsunfähigkeit getrieben. Das Oberste Gericht ist nicht existent, die Zentralbank, der Rechnungshof und die Staatsanwaltschaft sind von ihm an die Kandare genommen worden«.

(Herr T.) Ja, Geduld ist nicht CWs Stärke. Kurzzeitgedächtnis ebenso wenig. Vergisst er doch stets, in welchem Ort wir gerade sind und fragt regelmäßig, damit er beim Posten in Facebook keine Fehler macht. Wir sind noch lange nicht in Bolivien – hat er schon vergessen, was in meinem Reiseführer steht? Bolivien ist das »am schwersten zugängliche und raueste Land der südlichen Hemisphäre«.

(cw) Papperlapapp. Ich habe schon Grenzen schon überwunden, als Herr T. noch in Windeln lag. Neunzehnhundertneunundachtzig!

(Herr T.) Abwarten. Unser Grenzgänger kann gleich zeigen, was er draufhat. Wir sind nämlich jetzt in La Quiaca und mittlerweile 300 Kilometer entfernt von San Salvador de Jujuy. Nach Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, sind es 5121 Kilometer. Ich bin mal kurz weg, fix austreten auf der Bahnhofstoilette. CW hat bestimmt wieder irgendwas zum Zitieren, um die Zeit zu überbrücken.

(cw) Hui, klingt aber gar nicht gut: »Eigentlich gibt es keinen Grund, in La Quiaca länger als nötig zu verweilen«, schreibt der Reiseführer. Wird Herr T. denn noch mal fertig? Er will gerade die Kabine betreten, als er ein bisschen Platz machen muss für die Toilettenfrau. Sie schiebt mit dem Schrubber braunen Schlamm über den Boden zum Ausgang. Herr T. guckt, als sei der braune Schlamm das, was ich vermute.

(Herr T.) Nur noch weg. Ich! Muss! Das! Ganz! Schnell! Vergessen! Hallo Würgreflex! Lange nicht gesehen, so was.

(cw) Wir brauchen zum Grenzübergang nur zehn Minuten zu Fuß. Aber schon von weitem sehen wir die Warteschlange. Das kann dauern.

(Herr T.) Es ist kalt hier oben, und es fängt an zu regnen. Nach 20 Minuten hat sich die Schlange drei Schritte bewegt. Bleiben noch 149 bis zum Schalter.

(cw) Wir müssen jetzt handeln. Dort im Reisebus sitzt ein Junge, ich klopfe mal an die Scheibe und frage, ob sich das Überqueren der Grenze auf irgendeine Art beschleunigen lasse. Es gebe Männer, die helfen könnten, sagt er. Und wie lange dauert es ohne die? »Drei bis vier Stunden.« Also gut, was kosten die Männer? »Weiß nicht.«

(Herr T.) 148 Meter.

(cw) Der Junge aus dem Bus geht zu einem Mann, der eine rote Schirmmütze des Fußballklubs Independiente – Argentiniens Rote Teufel – trägt und weiter vorne neben der Schlange auf der Mauer sitzt. Sie reden miteinander, und der Junge scheint auf uns zu zeigen. Die beiden haben aber keine Eile.

(Herr T.) 147.

Grenze

(cw) Dann geht alles ganz schnell. Das Rotkäppchen holt uns aus der Schlange, führt uns zu zwei Frauen, die mit einem Baby an der Mauer lehnen; der Busjunge ist auch noch da, und wir geben Rotkäppchen unsere Reisepässe.

(Herr T.) Äh ja, der fremde Mann hat unsere Reisepässe und ist weg.

(cw) Stimmt.

(Herr T.) Ich habe noch eine Kopie in meiner Hosentasche.

(cw) Ich nicht.

(Herr T.) Wir haben das Baby.

(cw) Gewissermaßen. Es schläft, dick eingewickelt, vor uns im Arm der Mutter.

(Herr T.) Ich gehe mal ein Stück näher ran. Sicher ist sicher.

(cw) Mir scheint, das ist eine Schleuserfamilie.

(Herr T.) Die Mutter und diese andere indigene Frau, vielleicht ihre Schwester, reden abwechselnd auf uns ein. Der Busjunge hält auch nicht immer die Klappe. Ich verstehe kein Wort.

(cw) Wir haben keine Pässe mehr, uns ist kalt, könntet ihr bitte langsamer sprechen?

(Herr T.) Und aus dem Nichts sagt CW: »Ich glaube, ich bin der erste in Deutschland geborene indigene Porteño der Welt.«

Fortsetzung folgt