Archiv für 2013

Männer als Marktfrauen

von CHRISTOPH WESEMANN

Heute Morgen habe ich geschaut, was der Obsthändler meines Vertrauens an meiner gefräßigen Familie verdient. Er beschafft seine Ware nämlich auf dem Mercado Central, dem Riesenmarkt vor den Toren der argentinischen Hauptstadt, und berechnet dafür ordentlich etwas, wie ich jetzt weiß.

Ja, es sind auch ein paar wilde Typen unterwegs, und man sollte keine ganz empfindliche Nase haben, dafür aber einen guten Orientierungssinn. Aber verglichen mit dem Riesenmarkt Priwos, den ich einst in Odessa gern besucht habe, ist der Mercado Central geordnet und ruhig, was wohl auch daran liegt, dass hier keine Kittelfrauen im Babuschka-Alter keifen. Der Handel mit Obst und Gemüse ist Männersache.

Mercado Central

 

Meine Tochter seine Kolumne

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn meine Tochter diese Kolumne geschreibt hätte, was sie mit ihren dreieinhalb Jahren noch nicht kann, heißte der erste Satz bestimmt so. Natürlich frage ich mich, warum sie Verben falsch beugt, mir und mich verwechselt und bei allen vier Fällen patzt. Wäre ihr Spanisch miserabel, könnte ich die Schuld auf mich nehmen. Ihr Spanisch ist aber sehr gut. Und schon in Berlin klang ihr Deutsch ja, als würde sie zu oft mit den harten Jungs abhängen. Dabei war sie nur im russischen Kindergarten.

Es könnte sein, dass wir zu chaotisch gelebt haben. Meine Tochter war als Embryo vor allem in der Ukraine unterwegs. Geboren ist sie in Deutschland, aber drei Wochen nach der Geburt waren wir schon wieder in Odessa. Als sie acht Wochen alt war, ist sie mit uns im Nachtzug 14 Stunden lang auf die Krim gefahren. Kein Ukrainer hat das verstehen können.

Weil ihre Eltern berufstätig waren, hat sie in den ersten fünf Lebensmonaten die Dienstage, Mittwoche und Donnerstage mit Oksana verbracht. Oksana war ihre Tagesmutter und sprach gar kein Deutsch. Dann sind wir nach Berlin umgezogen, und weil in den Kindergärten der Weststadt das Mindestaufnahmealter ein Jahr ist, landete sie wieder bei einer Tagesmutter. Diese Tagesmutter war als junges Mädchen in den siebziger Jahren aus Valencia nach Berlin gekommen und sprach auch nicht sonderlich gut Deutsch. Sie berlinerte, wa.

Dass das negativen Einfluss auf ihre Sprachentwicklung gehabt hat, kann ich ausschließen, weil meine Tochter kaum Zeit mit ihrer Tagesmutter verbrachte. Meist saß sie nämlich auf dem Schoß der Tagesmuttermutter, die logischerweise auch in den siebziger Jahren, aber schon nicht mehr als junges Mädchen aus Valencia nach Berlin gekommen war. Sie sprach Spanisch – jedenfalls mit Spaniern. Mit allen anderen redete sie in einer schwer verständlichen Fantasiesprache, die vor allem aus Babylauten bestand.

Diese Frau, heute 73, hat nie richtig Deutsch gelernt, aber sie vergötterte meine Tochter und weinte hemmungslos, als wir einen Platz im russischen Kindergarten gefunden hatten. Dort verbrachte meine Tochter zwei Jahre. Sie lernte Russisch. Dann kam Buenos Aires.

Jetzt beginnt ihr Tag damit, dass sie sich auf dem iPad eine zu knapp bekleidete Russin anguckt, die sich als Sprachlehrerin ausgibt und die kyrillischen Buchstaben vorstellt. Wenn ich nach zehn Minuten (und noch schnell das russische Fahrgestell inspizierend) einschreite, motzt sie zunächst auf Spanisch und dann, damit ich’s auch verstehe, auf Deutsch.
»Oh Mann, Papa! Du hast mich gestern versprecht, dass ich ganz lange gucken darf.«
»Papa versprecht hier gar nix, damit das mal klar ist.«
»Das sag ich meine Mama. Dann schimpft sie dich.«

Dann bringe ich sie in den Kindergarten, wo ausschließlich Spanisch gesprochen wird – oder eben das, was Argentinier daraus machen. Meine Tochter hatte zunächst eine Liaison mit Juani, der ihre Leidenschaft für Karate teilt; Väter tun sich ja angeblich schwer, den ersten Freund zu akzeptieren. Ich aber mochte Juani sehr und war sogar ein bisschen traurig, als meine Tochter dann was mit Vicente angefangen hat. Juani ist freilich selbst schuld, und ich hab ihm das auch gesagt: Er kommt immer erst gegen zwölf in den Kindergarten – tja, vormittags hatte Vicente freie Bahn. Seine Neue sagt dazu übrigens: »Ich hab mich mit ihn heute gut gehaut. Juani hat mich manchmal auch gebeißt. Das willte ich nicht mehr.«

Meine Tochter und ich haben wohl noch Mühe, unsere Rolle in Argentinien zu finden. Bei mir ist absehbar, dass ich sie nie finden werde, weil mir Brusthaare fehlen. Ich meine das durchaus auch im übertragenen Sinne: Mit welcher Verachtung mich die Bauarbeiter von gegenüber anschauen, wenn ich auf der Terrasse die Wäsche aufhänge!

Meine Tochter wiederum kann mit Puppen nicht so viel anfangen. Sie hat vier, alle namenlos. Ab und an legt sie einer eine Windel um, vergisst aber das Wechseln, weil sie längst mit ihrem Bruder Fußball spielt oder ihm beim Legobauen die Steine reicht. Sie trägt auch keinen Ohrschmuck, was hier ein Problem ist. Argentinischen Mädchen werden nämlich, kaum, dass sie den Kreißsaal verlassen haben, die Ohrläppchen durchstochen und mit meist erbsengroßem Gold gefüllt. Am Anfang habe ich gedacht, man mache das, weil nach dem Geburtsstress das Lochen nicht als Schmerz empfinden wird. Nach allem, was ich jetzt weiß, ist es so, dass die Babys doch eher nicht so gelassen reagieren.

Ihr mieses Deutsch macht mir wirklich Sorgen. Frank Schweizer, ein Philosoph und Autor von Fantasyromanen, schreibt in seinem Buch Seltsame Sprache(n): Oder wie man am Amazonas bis drei zählt:

Eine Untersuchung hat gezeigt, dass im Alltag 250 bis 500 Wörter ausreichen, damit sich ein normaler Mensch über alles unterhalten kann.

Das hat mich zunächst ein bisschen beruhigt. Dann aber habe ich im Auto festgestellt, dass sich die Grammatikschwäche ausbreitet und auch andere, bislang intakte Bereiche der Sprache befällt. Es ist wie ein Geschwür.
»Papa, können wir die CD hören?«
»Klar.«
»Das dreihe ist mein Lieblingslied.«
»Das Dritte, Schatz.«
»Nee, Papa, drei!«
»Dritte gleich drei.«
»Okay.«
»Ja?«
»Hab ich verstanden, Papa.«
»Toll. Wo ist denn die CD, Mäuschen?«
»Gestern liegte sie noch auf dem Sitz.«
»Jetzt aber nicht.«

Und dann sagt sie ihren Lieblingssatz:  »Wenn nicht, dann nicht.«

Ach, was soll’s, sie ist ein wunderbares Mädchen. Sie zickt niemals rum, nicht mal bei Pedro. Pedro arbeitet in dem Kinderfrisörladen bei uns im Viertel und hat Arme, Beine und vermutlich noch andere Stellen seines Körpers tätowiert: Schlangen, Totenköpfe, Drachen, Feuer, Diego Maradona, das ganze Programm. Ich hätte mir mit dreieinhalb Jahren von so einem nicht die Haare schneiden lassen. Aber ich wurde ja auch, damals in den Achtzigern, von meiner Oma dauernd vor »Punkern« gewarnt. Ich hatte absolutes Punkeranguckverbot. Das muss man sich vorstellen: Da steht ein Kerl mit rot-grünem Hahnenkamm und Nasenring neben einem Fünfjährigen mit DDR-Kinderstandardrundschnitt an der Ampel, und Oma zischt: »Nicht hingucken!«

Meine Tochter ist viel weiter als ich damals, so weltoffen und furchtlos, wie ich es nie sein werde. Vor meinem ersten Flug zum Beispiel war ich schon älter als sie bei ihrer Luftpremiere und wahnsinnig aufgeregt. Die Stewardess hat mir helfen müssen, den Anschnallgurt zu schließen. Ich hatte eine Handvoll Bonbons gegen den Ohrendruck dabei.

Ich war 26 und flog von Berlin nach Wien.

Das Schlangenphänomen

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Argentinier liebt das Schlangestehen. Je länger die Schlange ist, um so eher gesellt er sich dazu. »Wenn wir auf der Straße eine Schlange sehen, nähern wir uns mit dem unbewussten Wunsch, uns einzureihen«, schrieb neulich ein Ex-Wirtschaftsminister in der Zeitung. Vielleicht erklärt das auch, warum Buenos Aires weltweit die Stadt mit der höchsten Dichte an Psychologen und Psychiatern ist. Jeder Fünfte geht regelmäßig zum Seelendoktor.

Die häufigste Schlangenart ist die im Supermarkt. Es empfiehlt sich, Verpflegung und Wechselwäsche einzupacken. Der Kunde zahlt selten bar und zeigt deshalb allerhand Karten vor, Personalausweis inklusive. Da das Laufband kaum länger ist als eine deutsche Kreuzotter, wird aufgetürmt, während die Kassiererin gemütlich scannt und einpackt. Ich sehe die Gefahr, dass ich meine Einkäufe bald stehle – und die Kinder würden mich nicht mal vermissen: Papa wäre aus dem Gefängnis schneller zurück als aus dem Supermarkt.

Leben in Buenos Aires bedeutet: warten. Warten auf einen der 150 000 Busse, die durch die 13-Millionen-Metropole fahren. Warten auf die Subte, die erste U-Bahn Südamerikas (1913), eine stets überfüllte Sauna auf Gleisen. Einmal fuhr sie wegen eines Streiks zehn Tage gar nicht. Die Porteños, die Bürger der Hauptstadt, warteten auf den Bus, der sich anschlich, aber nicht anhielt, weil er längst vollgestopft war. Danach warteten sie auf ein Taxi. Irgendwann stiegen sie auf ein Transportmittel um, das ihnen niemand streitig machen konnte: Sie gingen auf eigenen Beinen heim.

Wo der Porteño nicht aufgehalten wird, hält er sich selbst auf. Er befragt Fremde, bis die zugeben, in der tollsten Stadt der Welt zu leben, er geht sowieso keinem Geplauder aus dem Weg. Aber eigentlich hat er keine Zeit. Erstaunlich, dass die Seelendoktoren in dieser Stadt nur jeden Fünften kriegen.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

Epilog: Nie wieder nicht

von CHRISTOPH WESEMANN

Hätten am letzten Abend, als wir am Strand von Valparaísos Nachbarort Viña del Mar den Sonnenuntergang erwarteten, nicht diese drei chilenischen Jungs versucht, uns zu beklauen, wäre Herr T. wahrscheinlich noch viel genervter von mir gewesen.  Aber so war ich nur auf Platz vier. Herr T. ärgerte sich weniger über die Absicht des Trios, uns ein paar Sachen abzunehmen, sobald wir ins Wasser gegangen wären. Wütend machte ihn vor allem, dass die Bande von Kleinganoven – keiner älter als 14! – hinter unserem Rücken vor anderen Badegästen damit geprahlt hatte, uns auszurauben. Dass sie sich ihrer Sache so sicher war. Dass sie keinen Respekt vor uns hatte. Dass sie uns für so dämlich hielt.

Viña del mar

Ach Chile! Ich wurde ja als Argentinier gelegentlich diskrimiert. Einmal verstand mich die Frau am Metroschalter absichtlich nicht, so dass der urdeutsche Herr T. unsere Fahrkarten nach Viña del Mar kaufen musste. Dort angekommen, war es mir unmöglich, den Bahnhof zu verlassen. Wieder und wieder führte ich meine Metro-Chipkarte am Ausgangsdrehkreuz ein, um den Fahrpreis abbuchen zu lassen und gehen zu dürfen. Nichts geschah. Hinter mir ein Stau von neunmalklugen Chilenen: »Need money!« Längst auf der Treppe, schon beschienen von der Sonne, der grinsende Deutsche. Pure Schikane eines Argentiniers, gespeist offenbar aus einem chilenischen Minderwertigkeitskomplex. Irgendwann handelte ich mich am Schalter frei und durfte außen ums Drehkreuz herum.

Vorgeschichte und erster Teil: Exil in Chile

Zweiter Teil: Drei Erdbeben, zwei Deutsche und ein René in Chile

Dritter Teil: Die Vermessung des Paradiestals

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(Der dritte Mann) Und, meine Herren, verreist ihr noch mal gemeinsam?

(cw) Mit dem?

(Herr T.) Nie wieder!

(Der dritte Mann) Paraguay?

(Herr T.) Wann?

(Der dritte Mann) Vielleicht im Februar.

(cw) War ich noch nie, in Paraguay.

(Herr T.) Ich auch nicht.

Müll, Zoff, Erbrochenes

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T., der Streber, hat natürlich noch einen eigenen Chile-Reisebericht angefertigt. Nicht drei Teile, sondern fünf Kapitel: Die Fahrt, Die Ankunft, Von Bergen und Kraken, Hola Linda!, Paradiestal.

Meine drei Lieblingsstellen:

In der Fußgängerzone kauft sich CW einen … ich weiß gar nicht richtig, wie das heißt. Ah! Mote con Huesillos. Danke Wikipedia! Es handelt sich dabei um einen Saft aus Getreide, mit Getreide und Pfirsich. Wie wild trinkt CW den Saft, rührt das Getreide jedoch nicht an. Es sei ihm suspekt, sagt er. Warum dann überhaupt kaufen? Ich esse es auf.Es schmeckt nach nichts, Konsistenz von Müsli. CW will sich später noch einen kaufen, sieht aber, wie ein Obdachloser sich selbst einen Becher mixt und stellt dann erschreckend fest, dass Mote con Huesillos in seiner Optik von Erbrochenem nicht zu unterscheiden ist.   Nun spuckt er aus, sobald wir einen Stand passieren. (…)

Mit CW gehe ich noch essen, wir plaudern. Man versteht sich. Ist das etwa Harmonie?Am Abend bin ich erschöpft. Zu viele Eindrücke, zu viel CW die letzten Tage. Ich schlafe mit Klamotten auf meinem Bett ein. Im Halbschlaf höre ich CW mehrfach fordern, mich doch bettfertig zu machen…Ich wache mitten in der Nacht auf. Um mich herum Müll, den er mir scheinbar ins Bett geworfen hat, um seinen vorherigen Argumenten Ausdruck zu verleihen. Danke Cw! (…)

An der Grenze das große Drama. CW schreit mich an. Ich hätte seine letzten Sandwiches gegessen. Habe ich auch. Aber warum schreit er mich an? Habe ich ihn doch vorher darauf hingewiesen, dass er die essen müsste, bevor wir an die Grenze kommen, grunzte nur zurück, dass ich machen solle, was ich will… Er müsse arbeiten…

Reisebericht (III): Die Vermessung des Paradiestals

von CHRISTOPH WESEMANN

Die letzten Tage in Chile. Langsames Abschiednehmen für unsere zwei Helden, von unseren zwei Helden. Vorher aber noch ein Aufbruch: Valparaíso! Das Paradiestal, bejault von Sting, ein Sehnsuchtsort, den der Liedermacher Reinhard Mey seine Ulla, die durchgebrannte Jugendliebe, nie erreichen lässt. Die Vermessung der Welt wird als bekannt vorausgesetzt, Wandererfahrung ebenfalls.

Auf dem Gipfel

Vorgeschichte und erster Teil: Exil in Chile

Zweiter Teil: Drei Erdbeben, zwei Deutsche und ein René in Chile

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  • Mittwoch: Santiago → Valparaíso

(cw) Ich komme endlich dazu, die Wikipedia-Einträge über Chile und Santiago zu lesen; ich habe sie nicht ausgedruckt, sondern zu Hause in Buenos Aires im pdf-Format gespeichert und dann auf meinen Kindle gepackt. Ich würde mich wie ein Nerd fühlen, wären da nicht die Schriftgröße (dreipunktfünf) und Herr T. Der ist richtig multimedial. Vor drei Tagen im Bus hat er mit seiner Kamera die Anden geknipst (meine ist größer!), mit seinem Smartphone gefilmt (beide gleich groß), mit mir geplaudert (mehr Unsinn von ihm) und bekanntlich meinen Mate gehalten. Das wirkt auf mich so übermenschlich, dass ich manchmal denke: Herr T. ist ein Avatar.

Blick auf Valparaíso vom Hügel Bellavista

Ich lese, dass der Erfinder des Fallrückziehers ein Chilene war, weshalb der Fallrückzieher in Südamerika auch la chilena heißt. Außerdem hat Chile das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Kontinents und ist von Norden nach Süden 4300 Kilometer lang. Das Land hat 15 Regionen, die mit römischen Zahlen durchnummeriert sind, wobei es die 13 nicht gibt. Ich nehme an: Aberglaube. Santiago ist übrigens die Partnerstadt von Buenos Aires und Kiew. Und man erreicht von der Hauptstadt den Pazifik zum Baden genauso schnell wie die Anden zum Skifahren.

Aber jetzt sind wir schon in Valparaíso, der berühmten Hafenstadt, 120 Kilometer oder zwei Busstunden entfernt von Santiago. Haben wir denn schon ein Zimmerchen, Herr T.?

Standseilbahn zum Bellavista

(Herr T.) Jetzt zitiert er auch noch ständig Wikipedia-Einträge. Naja, manchmal doch ganz interessant.

Wir sind gerade auf dem Hügel Bellavista gewesen, den man mit einer Standseilbahn erreicht. Nun laufen wir bergab und wollen im Pazifik baden. Wo lang? CW quatscht einen älteren Herrn an, der in seinem Vorgarten die Rosen gießt. Es wird nicht klar, wer wen mehr braucht und redseliger ist. Keiner der beiden Männer scheint einen Frisör zu haben (bei CW ist’s offensichtlich), um sich mal auszusprechen. Jeder wirft dem anderen seine halbe Lebensgeschichte über den Gartenzaun.

(cw) Der Mann versteht unseren Wunsch, baden zu gehen, einfach nicht. Also, entweder ist er ein bisschen schwer von Begriff. Oder der Pazifik ist noch nicht so warm, wie wir glauben.

(Herr T.) Ich mache eine furchtbare Entdeckung: CW ist Exhibitionist! Kaum am Strand angekommen, entkleidet er sich. Aus Rücksicht auf die anderen Strandbesucher biete ich CW an, ihm das Handtuch zu halten. Doch er lehnt bestimmt ab und wechselt schutzlos Badehose gegen Schlüpfer. Weitere Details erspare ich mir.

(cw) Ich bin doch keine 16 mehr. Und außerdem verheiratet.

(Herr T.) CW steht jetzt bis zum Knie im Wasser, weit und breit kein anderer, kommt aber nicht so richtig voran. Ich mache kurz die Augen zu, und als ich nach fünf Minuten wieder den Kopf hebe, taucht CW für einen Wimpernschlag bis zur Brust ab. Dann sprintet er heraus, zieht mir mein Handtuch weg und winselt.

Zentrale der chilenischen Marine

(cw) Fest steht: Schwer von Begriff war der Alte am Gartenzaun nicht. 13 Grad, höchstens 14. Die chilenische Marine hat in Valparaíso übrigens ihr Hauptquartier. Und immer am 21. Mai ist der Staatspräsident in der Stadt, um vor dem Nationalkongress zu sprechen, der am Ende der Pinochet-Diktatur hierher verlegt wurde.

(Herr T.) CW und sein fundiertes Halbwissen. Ich geh dann auch mal planschen.

(cw) Wie heißt dieser Vogel, der immer auf einem Bein steht? Richtig. Herr T. macht jetzt den Flamingo und hebt abwechselnd ein Bein aus dem Wasser. Er geht nicht weiter. Großer Fehler. Nach drei Minuten im Pazifik beginnen die Beine fürchterlich zu brennen, man spürt die Füße kaum noch. Drei Meter neben Herrn T. taucht ein Chilene ab und fünf Meter weiter wieder auf, macht einen Handstand und treibt eine Weile auf den Rücken. Ich glaube, gleich rasiert er sich. Herr T. sieht sich um, schaut erst zum Horizont und dann eine Ewigkeit auf die Wasseroberfläche; entweder hat er irgendwas verloren, oder kommt von seinem Spiegelbild nicht los, der Pfau.

Der Chilene schwimmt jetzt ein bisschen raus. Herr T. kommt raus, die Badehose staubtrocken, wird von mir mit Hühnerlauten empfangen und dreht gleich wieder um. Und dann ist er tatsächlich mit dem Kopf unter Wasser. Das Ein- und Auftauchen geschah ein bisschen zu schnell für meine Augen, sind ja gerade auf 3punkt5 eingestellt. Aber ich denke, wir können den Versuch werten.

(Herr T.) Woher soll ich wissen, dass das Wasser wirklich so kalt ist? CW übertreibt doch sonst immer.

(cw) Eine Stunde gemeinsam schweigen.

(Herr T.) Endlich.

Große Melonen

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  • Mittwochabend: Valparaíso

(cw) Wikipedia schwärmt von der Altstadt mit den Künstlervierteln Alegre und Concepción, die auch auf einem Hügel liegen. Auf geht‘s!

(Herr T.) Wir haben die ersten 100 Treppenstufen gemeistert, als ein Wunder geschieht. Zum ersten Mal auf dieser Reise – vielleicht auch in seinem Leben, wer weiß das schon? –, sagt CW die Wahrheit. Im Angesicht des Uniformierten, der uns aufhält, behauptet er nicht länger, ein Argentinier oder gar ein Porteño zu sein.

»Wo kommt ihr her?«, fragt der Polizist.

»Wir sind Deutsche«, sagt CW wie aus der Pistole geschossen und fügt ganz leise, kaum verständlich hinzu: »Aber ich lebe in Buenos Aires.«

Der Polizist schickt uns zurück. Viel zu gefährlich für Touristen um diese Uhrzeit, sagt er. Zittert der falsche Porteño? CW wird fortan ständig auf der Hut sein, sich umsehen und manchmal vor seinem Schatten erschrecken.

Treppen

(cw) Ich habe dem freundlichen Polizisten ja gleich die Hand geschüttelt, ich meine, ich habe gewissermaßen Brücken gebaut – über zwei Kontinente und zig Kulturen hinweg. Der Ordnungshüter und ich waren kurz davor, ein Bier trinken zu gehen. Herr T., der Untertan, aber hat mit seinen handschellensüchtig nach vorn gestreckten Armen alles zerstört.

(Herr T.) Brücken bauen? CW hätte den kaputten Bürgersteig neu pflastern können, so tief hat er gekniet. Na ja, wir nehmen’s sportlich und drehen um, gehen die 100 Stufen wieder hinab, laufen eine Straße weiter und gehen wieder 100 Stufen hinauf.

(cw) Es hat sich gelohnt, wir entdecken ein tolles Restaurant mit Terrasse in luftiger Höhe und schauen, wie die Sonne im Pazifik versinkt.

Herr T. übersieht geiles Restaurant (links).

(Herr T.) Ach ja, wir haben ein Zimmer, wieder in einem Hostel, wieder viel zu teuer, aber diesmal beherrscht von einer strengen Herbergsmutter statt von netten Damen aus Deutschland. CW hat sie schon kennen gelernt, als er am Nachmittag mit der Kreditkarte unsere zwei Übernachtungen bezahlen wollte. Die Alte holte tief Luft, bleckte ihre Zähne und schnaufte: »Solo en efectivo!« Frei übersetzt: Nur Bares ist Wahres.

(cw) Ich beginne, Die Vermessung der Welt zu lesen.

(Herr T.) Ich begrüße CWs Interesse an den Büchern Daniel Kehlmanns.

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  •  Donnerstag: Valparaíso

(cw) Auf zum Haus des größten chilenischen Dichters. Jeder in diesem Land kann angeblich ein Gedicht von Pablo Neruda (1904-1973), dem 71er-Literaturnobelpreisträger, zitieren. Auf nach Isla Negra! Wo die Menschen sind. Viele Menschen! Oder doch nicht? Ach, wir geben uns heute zivilisationsmüde, wir laufen lieber los in die Einsamkeit, kehren der Stadt den Rücken, wollen hoch bis zum letzten Haus auf einem dieser Hügel.

Paradies im Tal

(Herr T.) Schon wieder Wikipedia. Und nun auf den Berg? Ich habe keine Ahnung, was das soll.

(cw) Ich führe die Expedition an.

(Herr T.) Die sonnenverbrannte Nase des Expeditionsführers beginnt zu pellen. Sein Hemd ist am Rücken nass. Wir sind erst 20 Minuten unterwegs und schnaufen schon. Taxis fahren an uns vorbei und kommen fünf Minuten später von oben zurück.

(cw) Immer weiter! Es tut so gut. Ich fühle mich wie Alexander von Humboldt. Ich würde gern ein paar Pflanzen aufschneiden. Der Ojos del Salado, mit 6893 Metern der höchste Berg Chiles, ist übrigens auch der höchste Vulkan der Welt. Vielleicht besteige ich den heute auch gleich noch. Immer weiter! Immer weiter!

Aufstieg

(Herr T.) Zum Schrecken der Chilenen, die uns kritisch beäugen, entkleidet sich der Expeditionsführer jetzt und präsentiert seine Hühnerbrust.

(cw) Die ersten Telefone des Landes gab es 1880 übrigens in Valparaíso. Bis 1914, als der Panamakanal eröffnet wurde, war Valparaíso der erste größere Hafen, den Schiffe ansteuerten, nachdem sie Kap Hoorn gemeistert hatten. Die Oberleitungsbusse von Valparaíso sind heute die letzen ihrer Art in ganz Chile. Rodrigo Andrés González Espindola ist in Valparaíso geboren. 1968. Rod! Die Ärzte! Und ein schwarzer Hund läuft uns hinterher.

(Herr T.) Goethe hat zu Recht seinem Mephisto die Gestalt eines schwarzen Hundes gegeben. Irgendwas stimmt mit dem Tier nicht. Mit CW sowieso nicht. Wieso quatscht der eigentlich so viel? Ärzte? CW wird doch nicht schlappmachen, oder? Ich krieg hier doch niemals einen Krankenwagen hoch.

Herr T. fingert nach rotem Auto.

Am roten Auto

(cw) Ein Kiosk, vermutlich die letzte Verpflegungsstation vor dem Gipfel. Ein Junge spielt Fußball gegen den Berg. Er tritt den Ball und wartet, dass er zurückrollt. Herr T. hält ein Schwätzchen mit der Kioskbesitzerin und kauft Cola. Der Kerl ist ja wirklich mit allen Abwassern gewaschen. Hat er wahrscheinlich bei der Tour de France gesehen: Cola vor dem letzten Anstieg gibt noch mal einen richtigen Schub.

(Herr T.) CW hat sich inzwischen mit dem Jungen bekannt gemacht. Sie spielen Fußball miteinander, der Junge schießt bergauf, CW bergab. Man muss sich das vorstellen: Dieser Junge wird wahrscheinlich niemals Deutschland sehen. Sein Bild von Deutschland, das ihn ein Leben lang begleiten wird, ist dieser Mann. Wenigstens hat CW sein Hemd wieder angezogen.

  Alexander von Humboldt (am Ball) mit Alejandro

(cw) Wenn das kein Zeichen ist: Der Junge heißt Alejandro. Alexander! Und er ist Fan des Klubs Colo-Colo, von dem ich in Santiago für meinen Sohn und mich Trikots gekauft habe. Ich frage ihn, wie oft der Ball schon den Berg hinabgerollt sei. Er weiß es nicht.

(Herr T.) Oh je, der Aufstieg ist echt nicht ohne. Ich muss mich selbst daran erinnern, mich hin und wieder umzudrehen, um die Aussicht zu genießen. Aus Asphalt wird Sand, aus Straßen werden Feldwege. Je höher wir kommen, desto provisorischer werden die Häuser. Je höher wir kommen, desto verständnisloser schauen die Leute. Wo wollen die Zwei bloß hin?

(cw) Wenn ich stehen bleibe, zittern meine Beine. Ich frage Herrn T. jetzt alle 500 Meter, wie er heiße. Herr T., sagt er, so heiße er. Er scheint noch fit zu sein. Der Expeditionsführer in mir ist beruhigt. Keine Verluste.

Hund wech

(Herr T.) Mir scheint, CW steigert sich da in etwas hinein.

(cw) Der Hund bleibt zurück. Ganz plötzlich. Den Hund, sagt Herr T., habe er nie leiden können.

(Herr T.) Endlich bleibt das Viech zurück. Ich hatte schon Angst, dass CW es mit ins Hostel nehmen will. (Ich hab den Hund noch nie leiden können.)

(cw) Ich mache mir Vorwürfe, ich hätte dem Hund etwas von meinem Wasser geben müssen. Ich habe ihn nicht gut behandelt. Den Hund, sagt Herr T., habe er nie leiden können.

(Herr T.) Jetzt faselt der seit einer Viertelstunde nur vom Hund. Ich will endlich oben ankommen. Unser Wasservorrat wird knapp. Die Flasche ist fast leer. Und die Sonne kennt wirklich keine Gnade.

Letzte Meter

Fast oben

(cw) Die letzten Meter. Rechts und links nur noch Hütten, an deren Türen manchmal ein Weihnachtsmann hängt. Ich schaue zurück und meine, den Hund ganz weit entfernt zu sehen. Von überall Gebell. Den Hund, sagt Herr T., habe er wirklich nie leiden können.

(Herr T.) Weihnachtsdekoration bei den Temperaturen hat etwas Seltsames. Es passt nicht ins Bild. CW legt erstaunliches Tempo vor. Plötzlich bleibt er stehen und versucht, ein Foto zu machen. Ich frage ihn, was so lange dauert. Es tue ihm leid, sagt er, aber er habe Schwierigkeiten, sich zu sammeln.

Ganz oben

Ganz oben 2

(cw) Mein Leben zieht an mir vorüber. Der Kleinstadtjunge, der immer Unterschätzte, der Ungeliebte, Verstoßene, Ausgestoßene, Abgestoßene, für verrückt Erklärte, der Unterdrückte, Weggedrückte, der Ungewollte, fortwährend Ausgelachte, der schaut jetzt herab auf Valparaíso und steht auf dem Dach der Welt. Hahahahahaha! Vielleicht vertrage ich auch einfach die Höhenluft nicht. Oder habe einen Sonnenstich.

(Herr T.) Ein paar Meter haben gefehlt, wir waren nicht ganz oben. CW sagt, wir könnten behaupten, ganz oben gewesen zu sein.

(cw) Das habe nicht ich gesagt.

Epilog folgt.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)