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Jenseits von Belgrano, im Wilden Rheingau – ausgerechnet am Feiertag

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

 

Der Autor hat als Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle in Buenos Aires gelebt und ist festes Ensemblemitglied des Argentinischen Theaters Tagebuchs.

 

♦♦♦♦♦

 

Wissen Sie, ich hatte eine Schreibstube in Buenos Aires, am Fuß des Belgrano-Hügels.

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Die Äquatorlinie zog sich 2460 Meilen weiter nördlich durchs Tiefland, doch meine Stube lag 19 Stockwerke über dem Fluss. Der Himmel war unfasslich blau, die Züge unfasslich kaputt, doch wir hatten unser Auskommen und die wöchentliche Mordrate war erträglich.

 

»Geh’ für das Argentinische Tagebuch nach Deutschland, als Korrespondent«, hieß es irgendwann. »Da kannst Du was erleben, und vielleicht zahlen wir auch was«, hieß es. Das hatte den Ausschlag gegeben. Heute weiß ich, dass sie mich loswerden wollten. Zu erfolgreich geworden, verstehen Sie? Bei den Lesern. Und bei den möglichen Praktikantinnen. Und im Fußball, natürlich.

 

Jetzt soll ich also aus diesem Deutschland berichten.

 

Na gut.

 

Wir gingen nach Osten, zu den Westgoten.

 

Die Westgoten: leben in Regen & Dunkelheit. In Deutschland regnet es praktisch immer. Die Meteorologen behaupten zwar etwas anderes, aber die haben nur Schiss um ihre gutbezahlten Jobs im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das Wetter ist fast so schwer auszuhalten wie die Tatsache, dass es in diesem Land kein gutesrichtiges Fleisch gibt. Hier haben sie Hühnchen (pollo), Schwein (cerdo) und Tofu (tofu). Und Bio-Rind, das schmeckt, wie eingeschlafene Fußsohlen (pies durmidos). Weil es in einem aus veganem Magerjoghurt destilliertemhandgewalktem Bratfettmittel angewärmt wird.

 

Viele Korrespondenten aus zivilisierten Ländern leiden deswegen unter Mangelerscheinungen und Fehlernährung. Wenn der Herausgeber CW erfährt, dass ich der hiesigen argentinischen Sektion der anonymen Vegetarier beigetreten bin, kürzt er mir die Auslandszulage. Aber irgendwas müssen wir ja essen. Vegetariertum wird in Deutschland übrigens nicht von der Krankenkasse bezahlt. Es gilt sogar als Eintrittskarte in Politik, Gesellschaft und Höhere Kreise.

 

Aba ick schweife ab.

 

An Feiertagen, die hier übrigens immer ›Sonntage‹ genannt werden, auch, wenn sie auf einen anderen Wochentag fallen, was wiederum daran liegt, dass die Deutschen für ihr Geld arbeiten müssen und kaum Feiertage haben – an solchen Feiertagen also: geht der Deutsche gerne in die Natur.

 

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Er nennt das »wild romantisch«. Ich verlange für sowas Schlamm-Zulage (die der Geizhals CW natürlich nicht zahlt).

 

Der Deutsche ist so gerne in der Natur, weil Goethe (JWv, 1749-1832, Nationaldichter, völlig überschätzt, höchstens ein Drittel der Sachen taugt was – um Ihnen den Link auf die Wikipedia zu ersparen, haha!) gesagt hat: »Die Natur versteht keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.« Wenn det Cristina wüsste, wa!?

 

Mein Fehler also, wenn ich nasse Schuhe habe, Ende (!) Mai (!) einen Schnupfen bekomme und die Aufstiegsfeiern von Darmstadt 98 verpasse. Danke für nichts, Goethe!

 

Der Deutsche hingegen hört auf seinen FührerNationaldichter und frönt der Natur, die er auch gerne »Mutter«  nennt, aber das ist ein anderes Thema. Zum Beispiel als kontemplierende Künstlerin

 

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als grimmiger Single mit klarer Perspektive

 

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oder als energisches Paar mit Karriereambitionen

 

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Um es mit dem Dichterwort zu sagen: »Wie es Euch gefällt« (GoetheMadonnaGrönemeyerShakespeare).

 

Doch am Ende des Tages hat auch der Park ein Ende: »Hier riecht’s nach Pferd, hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!« (GoetheWaalkesMK): Im Schatten des Schlosses. In B. bei W.! Das ist ja wie zuhause, joder!! Bár!ba!ro!! Wie, wenn man an der Plaza Italia aussteigt und unter strahlendem Himmel auf das ehrwürdige Portal zuschreitet, um mit der von den üblichen Verdächtigen organisierten Ehren-Eintrittskarte die halbe Familie für umsonst an den wartenden Besuchern vorbei…

 

Aba ick fange zum Heulen an!

 

So ne Art Rural, jedenfalls. Nur halt für das Landleben nahe des Polarkreises. Also ohne Kühe. Dafür mit Handschuhen, Decken und was der Verteidiger der Nordwand sonst noch braucht

 

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Pfingst-Reitturnier in B. bei W. am R.: Champagner. Chapeau. Schale Erdbeeren mit Sahne € 5,20 (= AR$ 52, wenn Sie nicht schwarzgeschickt tauschen). Und es gewinnt? Damas & Caballeros? Im herbstlichen Mai? Mitten in Deutschland? Kein Gaucho. Sondern: ein Mexikaner. Singende caballeros auf’m bombigen Beat!

 

 

In der TexMex-Kneipe um die Ecke meckert der Besitzer (ein Italiener!), dass der Mexikaner für einen katarischen Stall reitet. Aber nicht von Blatter bezahlt wird.

 

Endlich vertraute Töne. Wir essen. Es ist warm. Spesen gehen auf den Herausgeber. Haha!

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Alle Texte aller Gastautoren des Argentinischen Tagebuchs

Der Jesuit, die Ana & die Konda, ihr Gott und die Pauschalreise – Letzte Lieferung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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Der Ausflugsplan sieht die brasilianische Seite dieser geilen Wasserfälle vor. Wir neigen hier ja nicht zu Wortspielen, sonst würde ich sagen, dass der dicke Miguel, der etwas tüttelige Juan und ich völlig nass auf die Fälle sind. »Vielleicht treffen wir da Riesenschlangen«, sagt Miguel. »Oder Gisele Bündchen«, sage ich. »Oder meine Frau«, sagt Juan.

Aber: Vor die brasilianische Seite hat irgendein bescheuerter Tourplaner den Ausflug in einen Vogelpark gesetzt.

»Oooch…«, wimmern die mitreisenden Gattinnen und das Radio mit der Riesennase: »Tukane gucken. Haben die aber einen großen Schnabel. Und gelb ist er auch! noch!! Und die ganz! Kleinen!, wie! süß! die! pic!ken! Und dahinten der, mit dem leuchtend roten Rücken, wie der Marta gerade auf ihre hellrosa Kunst!leder!jacke! kackt. Und sie merkt es gar nicht. Ist!das!nicht!: süüüüßßßß?!!«

Meine neuen Kumpels und ich überlegen, den Vogelpark zu schwänzen. Aber Reiseleiterin Aldana, die inzwischen alle ›Aldi‹ nennen (nur ich nenne sie ›Lidl‹), sagt: »Wer nach Brasilien will, muss!auch!den!ersten! Ausflug mitmachen. WIRFAHRENDOCHNICHTDOPPELT&DREIFACH!!« Sie rät, zum Überbrücken der Wartezeit ein Mate-Equipment mitzunehmen.

Da bekommt Juan so ein Leuchten in den Augen. Er sagt, wir könnten doch am Eingang des Parks, in dieser Bar, ein Bier…? So, wie neulich? Als wir uns doch auch davongeschlichen …. Nee, sagt Miguel, Alkohol um 9:30 Uhr morgens habe ihm der Arzt verboten. Auch im Urlaub. Mich? Fragt ja wieder Keiner.

Wo wir gerade unter uns älteren Männern sind, versuche ich, einen Witz nach dem Muster »Das Fangen von Fliegen und Vögeln in diesem Park ist verboten« zu machen. Aus den spanischen Wörtern ›ave‹ (Vogel!) und ›follar‹ (Haha!!) einen Gag zu machen, der auf der Homophonie der verwendeten Lexeme besteht, ist aber leider nicht möglich. Nicht mal einem Flachwitzer wie mir.

Wir sind dann doch zum Vö….. also, in diesen Vogelpark gegangen.

Dort war es erwartungsgemäß überaus gefährlich: Neben Anakondas (die übrigens unangenehm riechen, kennen Sie das? Aus Ihrem örtlichen Tierpark? Gardelegen? Göttingen? Gladbach?), zuckersüchtigen Riesenschmetterlingen

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und randalierenden Papageien

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gibt es nämlich auch noch solche Kameraden:

 

Das Radio mit der Riesennase, Cristina und meine Gattin fanden das natürlich: Süüüüüßßßßß!!!

Mittagspause. In einer Churrascaria in Foz do Iguaçu. Gleiches Kaff, anderer Name. Aber der Brasilianer hat ja auch seinen Stolz. Bei der Ausreise aus Argentinien wurden wir übrigens kontrolliert, als seien wir eine Bande international gesuchter Drogenbosse. Und nicht ein paar vergnügungssüchtige argentinische Pauschalreisende. Bei der Einreise in Brasilien wurden wir kontrolliert, als seien wir ein paar vergnügungssüchtige argentinische Pauschalreisende. Und nicht eine Bande international gesuchter Drogenbosse.

Die Grillbude am Rande eines nahe zur Autobahn gelegenen Industriegebietes ist – nun ja – sehr freundlich zu uns: Argentinier gelten ja mittlerweile als die potientiellen Hartz-IV-Empfänger Südamerikas. Deswegen müssen wir nur den halben Preis für’s Mittagsbuffet zahlen. Aber auch unsere Kellnerinnen tragen schicke Schuhe.

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Unsere Reisegruppe ist natürlich konservativ und isst argentinisch: Also: Nudeln. Fleisch. Nachtisch. Und noch mehr Nachtisch. Juan fragt, wie das Bier sei. Als seine Frau ihren dritten Teller Lasagne mit Extra-Sahnesauce auf frischen Walderdbeeren holen geht, bestellt er schnell auch eines und prostet mir verschwörerisch zu. Alter Schleimer. »Netter älterer Herr«, flötet meine Gattin, während sie immer noch überlegt, ob sie Bambus- oder Kressesprossen zu ihrem Salatblatt nimmt.

Dann: Der Grenzübergang. Richtung Paraguay. Ciudad del Este. Schmugglerstadt, steuerfrei & staubig. Hier gelten andere Gesetze…. An die sich auch niemand hält. Mundharmonika. Rostige Türangeln. Schnarrende Stimmen…..

»Wo ist Frank?«

»Frank konnte nicht kommen!«

»Habt Ihr einen Bus für mich?«

»Wenn ich mich so umschaue, kann ich nur drei sehen. Sollten wir denn tatsächlich einen vergessen haben?«

»Ihr habt zwei zu viel!«

Dann fallen Schüss…: Ach nee, falscher Film. Die Busfahrer Rubén und Carlitos haben nur mit einem Kollegen über einen Parkplatz gestritten. Jetzt sollen wir also shoppen. Sagt Aldana. »Aber VORSICHTIG!! Denn die Stadt ist vol!ler!Be!trü!ger! Zwie!lich!ti!ge! Gestalten!! Und die Paraguayanerin! steht! auf! argentinische! Männer! Also meiner kommt hier!nicht!rein!«

Die beiden kräftigen Racing-Anhängerinnen dösen weiter, der dicke Miguel schnappatmet, Juan hält die Luft an. Seine Frau guckt krass.

Dann stehen wir aber nicht vor knackigen Paraguayanerinnen, sondern vor einem Shopping Center. Der Mann davor küßt Aldana. Sehr innig, würde Aldanas Mann sagen. Aber der ist ja nicht da, haha! Und wir petzen nicht. Vielleicht nicht. Aldana sagt, das sei der Besitzer. Der sei vertrauenswürdig. Da ist die Reisegruppe aber beruhigt. Gestern haben sie noch mit dem Rentnerpass und Sozialamtsstempeln den Parkeintritt runtergehandelt. Heute kaufen sie Sachen, die sie in Argentinien fast so lange nicht mehr gesehen haben, wie guten Fußball: Markenartikel, funktionierende Haushaltsgeräte, sortenreine Whiskeys. Am meisten aber: Batteriebetriebene Puppen, die heulen und »Hola Mama« krähen. Für die Enkel. Der Hit im Bus. Bis die Batterien und meine Nerven ausgehen.

18 Stunden später rollen wir im Busbahnhof von Buenos Aires aus. Vorher haben wir schon Juan & seine Frau, den dicken Miguel mit Familie, die beiden sympathischen (echt jetzt!) Racing-Mädels und das Radio mit der Riesennase in diversen Vororten bei ihren Wohnungen abgegeben. Die Daheimgebliebenen haben sich gefreut. Auch über die Heul-SusenPuppen.

Meine PuppeHeulsuseGattin hat ganz feuchte Augen. Das ist ja auch immer ganz schlimm bei Pauschalreisen – diese Tränenseligkeit, wenn man heimkommt. Aldana (ach! Die Lidl….) würde sagen: Weich!ei!er!! Aber…naja….schön war’s ja. Schon. Irgendwie. Doch. Und in meiner Hosentasche knistert der Zettel mit den ganzen Telefonnummern. Kaum einer von diesen Pauschalreisenden hat ja Email. Nächstes Mal geht’s nach Patagonien. Gletscher gucken. Im Bus. Pauschal.

Wir berichten.

 

 

Der Jesuit, die Ana & die Konda, ihr Gott und die Pauschalreise – Zweite Lieferung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Den ersten Teil des Reiseberichts gibt es hier.

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Um 5:12 Uhr am Morgen zerreißt eine ohrenbetäubende Explosion die doppelstöckige Ameise, die durch die Provinz Misiones donnert. Ich schrecke auf, knalle gegen die Lichtleiste und komme ausgestreckt im Mittelgang mit traumatisierten Trommelfellen, Tachykardie und Tinnitus aurium zum Liegen.

Ich warte darauf, dass der Notarzt kommt. Oder wenigstens meine Gattin. Aber die schläft. Stattdessen kommt: Reiseleiterin Aldana, leicht erkältet, vermutlich wegen der saukalten Klimaanlage in diesem Bus. Sie räuspert sich noch mal ihren beachtlichen Resonanzraum frei und flötet in das Busmikrophon: „HOLA!HOLA!HOLA!BUENDÍA,GENTE!!WASGUCKTIHRSOKOMISCH?

ESISTFRÜH,ABERDASISTEINEFANTASTISCHEREISE,IHRWERDET WELTWUNDERSEHENUNDWIRSINDINSANIGNACIO!“

San Ignacio? Ah ja, klar: Die Jesuiten-Reduktion. Im Jahre des HErrn 1750. Sklavenhändler. Indianer. Sie beschützende Ordensmänner aus dem Laden vom Papst.

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Jemand mal den Film »The Mission« gesehen? Wie der erste Priester, von RömernGuaraní an ein Holzkreuz genageltfesselt, den Fluss runter..? Und wie dann der andere Priester hoch…? Und danach olle Robert de Niro die Klippe nach oben, mit der ganzen Rüstung, nachdem er seinen Bruder, mit dem Messer, wegen dieser Frau? Ja? Ne? Geil, oder!!? Deswegen sind wir in Südamerika!! Und nicht wegen des Fußballs!

Aba ick schweife ab…..

Das Lästige an Gruppenreisen ist ja, dass man nie sein eigener Herr ist. Ich will JETZT! diese Jesuiten-Trümmer anschauen.

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Aldana aber will, natürlich auch JETZT!, DASSWIRINDIEBARGEGENÜBERGEHEN!UNDFRÜHSTÜCKEN! Die verfressene argentinische Reisegruppe stimmt für Aldana. Zuhause vermisst mich mein Kater.

Ein paar Stunden später sind wir im Hotel in Puerto Iguazú. Der Check-In geht so reibungslos, das ich kurz nachschaue, in welchem Land wir gerade sind. Das Haus: Zwei gegeneinander verschobene Viertelkreise, die ein häßlichesfunktionales Wasserbecken halb umstellen, würden Architekten sagen. »Neiinnnnn, wie hübsch! Und wirklich Palmen am Pool!! Genau, wie M. es beschrieben hat!!«, sagt meine Gattin. Später versucht sie, das uns zugewiesene Zimmer zu wechseln, zieht aber zurück, nachdem sie die Alternative gesehen hat. Haha!

In der Nacht wird ihr eine schwarze Riesenameise ins Knie beißen.

Um 6.45 Uhr am nächsten Morgen klingelt der Wecker. Was soll schon aus einem Tag werden, der mit Aufstehen anfängt? Ich habe übrigens Urlaub. Am Eingang zum Nationalpark Iguazú wartet Silvia, die Spezialreiseleiterin für die Wasserfälle. Die Mutigen gehen Raften, die Memmen trampeln hinter Silvias Regenschirm im CSD-Design zu den Fällen. Ich rafte nicht. Meine Kamera und mein Telefon vertragen das nicht. Aldana hat gesagt, dass man da klatschnass wird. Deswegen.

Silvia erzählt, dass sich dieser Dschungel hier botanisch gesehen bis nach La Plata erstreckt. Das sagt die jetzt! Nach 18 Stunden im Bus!! La Plata liegt keine 30 Minuten hinter Buenos Aires. Und ich hätte abends wieder bei meinem Kater sein und Sportschau gucken können…..

Silvia: Erklärt gleich mal den ersten Baum am Wegesrand. UNd erklärt. Und erklärt. Miguel, der dicke Herzkranke, überschlägt kurz die Zahl aller Bäume von hier bis zu unserem eigentlich Ziel und röchelt: »Wir sind wegen der Wasserfälle hier, mi amor«!!! Haha! Klare Kante! Ich nehme mir vor, ihn mal auf ein Bier einzuladen. Später erzählt er mir, dass ihm der Piratenfilm mit Tom Hanks letzte Nacht im Bus gut gefallen habe. Spitzentyp, der dicke Miguel, irgendwie.

Als er am Nachmittag in einem Touri-Rip-Off, in den uns Aldana arglistig geschleppt hat, Halbedelsteine, Indio-Tand und alberne Armreifen zur Seite schiebt, auf mich zuwalzt und schnauft: »No sé vos, yo me saco una cerveza« (»Keine Ahnung, was Du machst. Ich kippe jetzt n Bier«), klingt das wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Was wir aber jetzt hören, ist nicht der schwere Atem von Miguel. Dieses Rauschen sind: die: Wasser:fälle: von: Iguazú! Da schweigt sogar die Reiseleitung.

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Das andächtige Schweigen hält natürlich nur ein paar Minuten: Jemand fragt Silvia, ob die Fische denn vor der Kante des Wasserfalls auch bremsen könnten? Das Gesicht der Reiseleiterin könnte als Vorlage für jedes Photo-Booth-Programm dienen. »Bremsen? Die Fische? Nein, cariño, nicht immer.«, orakelt sie. Da gellt ein #Aufschrei durch das Rauschen der Fälle: Das Radio mit der Riesennase schnappatmet: »Wenn die Fische da runterfallen – sind sie dann: tot?« Silvia macht Anstalten sich den Wasserfall runterzustürzen. Dann sagt sie, dass die Fische oben ein ganz anderes genetisches Muster hätten als die unten. Da ist das Radio mit der Riesennase aber beruhigt….

Cristina & Hugo, unsere Busbank-Nachbarn, kommen vom Raften zurück. Klatschnass. »Wenn ich das vorher gewusst hätte«, zetert Cristina. Und fragt mich, ob ich das vorher gewusst hätte…..

 

 In der nächsten Folge

  • wie der alte Juan zum Verschwörer wird
  • wie der Busfahrer und ich eine Schießerei in einer Schmugglerstadt haben
  • und warum Vogelparks in mehrfacher Hinsicht gefährlich sind

Der Jesuit, die Ana & die Konda, ihr Gott und die Pauschalreise – Erste Lieferung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Ich habe das Werk von M’boi gesehen. M’boi, das ist nicht etwa der hip-hoppende neue Lover von Heidi Klum. M’boi ist Gott. Also, einer von vielen. Zuständigkeitsgebiet: Schlangen. Und Eifersucht. Sagen die Guaraní, die im Dschungel zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay leben.

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M’boi, der alte Schlangengott, kann übel fies werden, wenn es um Frauen geht: Die Guaraní-Prinzessin, auf die er mal scharf war, stand eher auf einen tapferen Krieger. Dummerweise sind die beiden … hach!, »Liebenden«, würde Fontane  auf’s holzige Schreibpapier kratzen … vor dem Gott in einem Kanu auf dem Fluss Iguazú abgehauen.

Da hat M’boi aber zugeschlagen. Mit seinem Mörder-Schlangen-Schwanz. Mitten ins Flussbett. SLAM!CRACK!CRASHBOOMBANG! TUTTIFRUTTI! − und die Wasserfälle von Iguazú waren da.

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Dafür waren die Prinzessin und ihr Krieger weg: Er in einen Baum verwandelt, der auf ewig zusehen muss, wie das Wasser über den Stein fließt, in den M’boi die Prinzessin transformiert hatte. Cool, oder?: Er: ein Baum. Sie: ein Stein, von schaumbrodelndem Wasser überspült. Baum. Stein. Wasser. Ü!ber!spült! Noch Fragen, Freud? Und jetzt haben sie da diese Wasserfälle, die als Naturweltwunder gelten und jährlich von Millionen Menschen angestarrt werden, die viel Bana-na-na in der Gegend lassen.

Ich bin jetzt einer von denen.

Anderer Männer Gattinnen treffen sich nachmittags mit ihren Freundinnen zu Tee & Torte in den Cafés des vornehmen Hauptstadtviertels Belgrano. Und blicken auf ihr Leben zurück.

Meine Gattin trifft sich nachmittags mit ihrer Freundin M. zu Tee & Torte in den Cafés des vornehmen Hauptstadtviertels Belgrano. Und macht Pläne.

So bin ich in diesen Bus gekommen.

Denn M. hatte meiner Gattin erzählt: Der fährt toootaaal günstig nach Iguazú. Dauert nur 18 Stunden. 1500 Kilometer. Alles organisiert. Pauschalreise. Alle Naturwunder inbegriffen. Unterkunft auch. Ab!so!lu!tes! A!ben!teuer!. Spo!ttend!billig! Sagte M., und nippte an ihrem Tee. Bu!che! ich! Sagte meine Gattin. Und nippte an meiner Kreditkarte.

Im Reisebus. Das zweigeschossige Monster, das wir im Busbahnhof Retiro besteigen, flößt sofort Vertrauen ein: Wie eine überdimensionale, dreiachsige Ameise, gesteuert vom kleinen & kettenrauchenden Carlitos und einem, der aussieht wie Hulk Hogan, aber »Rubén« genannt werden möchte. Mit den Jungs könnten wir in der langen Nacht der argentinischen (Hat eben jemand »Autobahn« gedacht?? Haha! Naivling! Oder Regierungsanhänger?) Landstraße bestehen. Gegen die dahinstürmenden 40-Tonnen-Trucks und die Rinder, die auf der Piste gerne mal ein Päuschen machen, hat ein normales Auto eher keine Chance.

Der Bus mäandert durch Buenos Aires. Wir laden ein:

  • in Tres de Febrero die rüstige Marta, wachshäutig, blond und hochtoupiert, mit einem Konzertabo für’s Colón
  • in Ciudadela zwei junge Frauen im Racing-Trikot, die aussehen, als würden sie zum Frühstück eine frisch gepresste Kuh nehmen
  • in Morón den dicken Miguel, der es am Herz hat, seine Frau und deren Schwester.

Am Ende sind wir 34. Argentinische clase media, wie man so sagt. Von allen guten Geistern und der Regierung verlassen, von den Finanzbehörden und der Inflation verfolgt. Aber jetzt ist WochenJahresurlaub. Keine Politik!

Nordwärts, gegen Abend. Durch diese unendlich weite Pampa. Links legt sich die Sonne auf eine Wolke, der es unten rot raustropft.

Sunset Pampa

Der Bus ist ein coche cama. Auf Deutsch: Bettauto. Das ist sowas wie Business Class auf Rädern. Ziemlich bequem. Und nachher gibt es Filme. Und Bier habe ich auch reingeschmuggelt! Ha! Die in der Sitzreihe hinter uns heißen Cristina & Hugo. Sie hält mich für einen Nerd, weil ich noch vor der Stadtgrenze den Schalter für ihre Leselampe gefunden habe. Er hält mich für nicht ausgelastet. Wenn der wüßte … N paar hübsche Mädels an Bord, die mit Mutti reisen, aber ohne Papa. Schwiegersohnsuche im Dschungel? Die mit der großen Nase wird es schwer haben: Redet wie ein … nun ja: Wasserfall. Sehr kommunikativ. Ein Radio mit Riesennase, sozusagen.

Wegdösen. Das gleichmäßige Bamm-Ba-Bamm, wenn der Dreiachser durch’s nächste Schlagloch kracht. Dazu das SchrappSchrappSchrapp der ausgerissenen Achsgelenkmanschette vorne rechts . So eine … boahwiemüde … Pauschalreise … sss … ga’nich … unangenehm … schnarch … einschlaf …

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KOMMENWAAA,NEIEEEEEN!!!!!!!

»Señoras y Señores, hola! hola! hola! gente«: Hier spricht ihre Reiseleiterin: Aldana (Echt jetzt! Ohne »i«!).

Aldana gibt Anweisungen. In charmantem Argentinisch, übrigens. Kommt nicht oft vor, dass ich sowas sage! Schöne Stimme. Bisschen laut, vielleicht. Inhaltlich wie die Mähdrescher-Kommandantin einer nordkoreanischen Kolchose: »Immer schön zusammenbleiben! Wir sind eine Gruppe! Keine Extratouren! Wenn Gott will, kommen wir an! Mor!gen! früh! Ihr seid hier nicht zum Ausruhen! Wir machen keine Pausen! Wir machen ›paradas tecnicas‹ − technische Stops! Ihr werdet Welt!wun!der! seh!en! Auf dem Bus-Klo: Nur pinkeln! Pipi unten! Popo draußen! Ver!stan!den?« (Sie macht den Eindruck, als würde sie das kontrollieren). Dann verteilt sie das Abendessen: Auch das ist irgendwie nordkoreanisch.

Schickt China etwa keine Kredite mehr nach Argentinien?

 

In der nächsten Folge:

  • wie das Radio mit der Riesennase plötzlich Angst bekommt
  • wie der dicke Miguel der Reiseführerin einen Wasserfall über den Kopf kippt
  • und wie der alte Juan seine Frau beim Bier besiegt

Nachtstück, beim Schein einer Petroleumlampe zu lesen

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Das Monumental. An einem Winterabend. Im August. (Ja, Mann! Wir sind hier auf der Südhalbkugel!) Der Tag hat gegen die Nacht den Kürzeren gezogen. Sieht scheiße aus: Gruselig-graue Nebelschwaden. Mäandernde rote Lichter von der Autobahn dahinter. Lächerlich gelbe Lampen auf dem Dach. El Más Grande in Winterpausenstimmung.

Vorletzte Woche haben wir Grondona zu Grabe getragen. Er ruht jetzt in einer Gruft. In Avellaneda. Im Süden von Buenos Aires. Als ich das letzte Mal dort war, ist einer auf der Hauptstraße überfahren worden. Warum auch nicht. Ist doch ’n schöner Ort dafür.

CW, der immer noch in Europa ist, hat noch einen Grund zur Trauer. »Unser bester Mann«, jammert er. Und dass sie doch schon vorher um den WM-Titel beschissen worden seien. So sind sie, die Argentinier. Könnten immer und überall die Besten sein. Wenn die anderen sie nur ließen.

Sagte ich schon, dass man das Selbstbewusstsein des Argentiniers am besten mit dem Satelliten von Google Maps misst?

Aba ick schweife ab.

Julio Humberto Grondona also war 35 Jahre lang der Präsident des hiesigen Fußballverbandes. Sowas wie ein DFB-Chef, nur ohne Adiletten. Sein Wahlspruch war auf seinen Siegelring graviert und lautete: »Todo pasa«. Anillo Grondona1 Auf Deutsch: »Alles kann passieren«. Was ja irgendwie eher an einen argentinischen Zollbeamten erinnert, als an einen Fußballpräsidenten. Oder an die Gemeinsamkeiten der Beiden: Grondona wurde – wie jedem Zollbeamten, der was werden will in diesem Land – eine gewisse Begabung beim Thema »Durchlässigkeit« nachgesagt. Solche Talente wecken natürlich die Aufmerksamkeit vieler Menschen: Derjenigen zum Beispiel, die von Staats wegen Millionen von Pesos ausgeben, damit auch im letzten Winkel eines gerade für zahlungsunfähig erklärten Landes Fußball geschaut werden kann. Hier, zum Beispiel

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Oder derjenigen, die sich fragen, wieso der Vorsitzende einer Balltretervereinigung sieben Tage Staatstrauer bekommt und wie ein König zu Grabe getragen wird.

Und meine Aufmerksamkeit war natürlich auch hellwach.

Olle Grondona war noch nicht unter der Erde, da interviewten sie im hiesigen Qualitätsfernsehen schon einen Mann, der ein Buch über den mächtigen Fußballfunktionär geschrieben hatte. Und über seinen Einfluss auf die Politik. Und über die ganzen K-Wörter, die dieses Land regieren: Kirchnerismo. Ketchup. Kilmes. Korrup….. naja, so halt. Der Titel des Werks ist übrigens von Grondonas Siegelring geklaut: »Todo pasa«. Musste ich haben. Sollte auch kein Problem sein: Buenos Aires nennt sich ja gerne Hauptstadt der Literatur, weil Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein paar übellaunige

Borges

und kettenrauchende

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Männer ein paar ganz ordentliche Texte geschrieben haben. Deswegen gibt es ja auch einen Haufen schöner Buchhandlungen hier. Voll mit Büchern.

»Hola, pelotudo, ich möchte dieses Buch über Grondona«

»Du meinst Todo Pasa

»La concha de tu madre, genau das!«

»Ist nicht da«

»Dann bestelle es bitte«

»Geht nicht, boludo. Ausverkauft. Versuch’ es in einem der Antiquariate auf der Avenida Corrientes«

Antiquariate!!! Das Ding ist von 2012. Aber so geht mir das immer: Kaum will ich ein Buch kaufen, ist es weg. Selbst wenn es gestern rausgekommen ist. Nur die Biografien der Präsidentin und Sachbücher, die beweisen wollen, dass die Falklands argentinisch sind, gibt es immer. Und natürlich Messi-Bildbände und Krimis.

Jetzt werde ich also nie erfahren, wie man so wie Grondona wird. Der Zeitpunkt wäre gut gewesen: Die Liga beginnt gerade wieder. Und der Verband braucht einen neuen Präsidenten.

Ich hätte kandidiert.

Stiere, eine Ente, meine Oma und ihr Einkaufsnetz

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Ich bin ja eher so der Typ Stadtaffe – ich verdiene nur nicht genug Bana-na-na. Ha-ha-ha! Das platte Land ist mir eher fremd: Da liegt immer das Laub so unordentlich rum, man beschmutzt sich entsetzlich schnell, und der HErr hat dort Tiere werden lassen, die man einfach nicht braucht …

Andererseits ist CW, der große alte Mann unter den Blogherausgebern, im komplett unverdienten Urlaub. Die Sekretärin hat sich krank gemeldet – sie hat schönes Wetter. Der neue Praktikant lümmelt mit einer Volontärin von der Konkurrenz rum. Und ich muss meiner ebenso ehrenwerten wie schlecht bezahlten Rolle als Chefreporter gerecht werden. Also mal einen auf Argentinier gemacht, gezogen und aus der Hüfte geschossen – und nach La Rural gegangen!

La Rural, das ist die jährliche Leistungsshow des Campo mitten in der Hauptstadt: Campo nennt der Argentinier alles, was mit der Bewirtschaftung dieses unendlich weiten Feldes … sorry, Günter G.  … äh: Landes zu tun hat: Wenn der Argentinier was richtig gut kann, dann sind das Ackerbau und Viehzucht: Da ist er Bauer, da darf er’s sein (wenn Monsanto ihn denn lässt!). Veranstaltet wird La Rural von der Sociedad Rural Argentina. Das klingt nicht nur nach den handballgroßen Eiern eines schwarzen Pampa-Stieres

 

Stier

 

– das ist auch so: Das Campo vertritt robust-gemütliche Auffassungen von traditionellen Werten wie Familie, Frauen, Tiere und Steuern. Seit 2008 gehört es zum guten Ton, La Rural mit einer Regierungsbeschimpfung zu beginnen.

 Aba ick schweife ab.

 Also, viel Geld

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gezahlt und rein in die Hallen. Erster Eindruck: Riecht streng! Zweiter Eindruck: Wow! Denn da steht überall mein Lieblingsessen rum!!! Und wenn Sägespäne auf meinem Essen sind, werden sie weggeblasen

 

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Danach kommen Lederstiefel, Silberkram

 

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und Mate-Orgien

 

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und natürlich Reitgerten… – so Gaucho-Folklore halt (Jaja, getanzt wird auch. Aber aufrecht. Echt jetzt!). Nett. Aber nichts gegen diese Geräte, die sogar aus Starship Troopers einen guten Film machen würden

 

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Und dann: Ent!dec!ke! ich meinen neuen Lieblingssport!!! Wir sprachen ja schon darüber, dass argentinischer Fußball in der Liga, die jetzt wieder beginnt … naja … also. Ne?! Und da sehe ich auf der Freifläche von La Rural doch drei Jungs auf drei Pferden. In Blau. Und nochmal solche. In Gelb. Zwischen denen ein Ball, den jemand in ein Korbgeflecht gezwungen hat, und der jetzt Griffe hat. Der muss in etwas, was aussieht wie das Einkaufsnetz meiner Oma, auf einen Stahlring aufgezogen. Das Runde muss ins Runde, sozusagen. Geiles Spiel, jedenfalls. Ist seit 1953 argentinischer Nationalsport. Heißt Pato. Pato bedeutet Ente. Denn früher war der Ball eine Ente. Nur ohne Griffe.

 

 

Meine Gattin sagt, die Spieler sähen jasowasvontollaus. UndwiedieihrePferdebeherrschen. Undwiesuperdie … Schnauze, Süße!

 Am Ende haben die Blauen 5:4 gegen die Gelben gewonnen. Oder so. Wenn hier wieder die Liga ausbricht und CW mich nach (setzen Sie hier Ihren argentinischen Lieblingsclub ein) mitnehmen will – gehe ich zum Pato. Denn eine Regel beim Pato sagt: Ein Tor darf erst gemacht werden, wenn das Team vorher sieben komplette Pässe gespielt hat. Nacheinander!

 Und sowas kommt in der argentinischen Primera Divisón ja eher selten vor.

Der Mann Wese und der monotheistische Fußball

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

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— von Dr. S. F. Roit —

(Vorbemerkung der Redaktion: Seit Tagen beobachten wir seltsame Veränderungen an unserem Herausgeber CW. Wir haben einen der vielen Seelenklempner in Buenos Aires gebeten, sich das mal anzuschauen, und gefragt, ob es ansteckend ist. Hier ist sein Bericht.)

Dass sich der Patient ebenso gerne wie wahrheitswidrig als Argentinier bezeichnet, ließe sich immerhin dadurch erklären, dass er die hervorstechendsten Charaktereigenschaften dieses liebenswerten Pampavolkes wie kein anderer in sich vereint: Er ist bescheiden, zurückhaltend, fleißig und prinzipienfest.

Beunruhigender allerdings erscheint, dass seine Hinwendung zum argentinischen Fußball, die seine Mitarbeiter und Familienmitglieder beklagen, inzwischen verhaltensauffällige Formen angenommen hat. Beispielsweise wird er nicht müde, das Halbfinale #NEDARG zu loben. Natürlich den argentinischen Anteil daran. Zur Erinnerung hier noch einmal die Höhepunkte der Partie:

 

Nein, Ihr Gerät ist nicht kaputt.

Angehörige des Patienten berichten, dass er wiederholt mit schlammigen Schuhen von unterklassigen Fußballspielen nach Hause gekommen sei. Dort habe er sich hinter die hauseigene Parrilla gekauert und seinem Sohn fremd klingende Lieder vorgesungen:

 

Schon aus diesen wenigen Indizien erhellt, dass die empfundene Zurückweisung durch den Schwiegervater (man beachte auch den Titel dieser zweifellos vom Patienten als therapeutisch erachteten Schrift!: „Drei offene Rechnungen“!!!), dieser Schwiegervater also, der, obgleich viel älter, mühelos eine Schwalbe von einem fälligen Strafstoß unterscheiden kann, nicht alleine Grund für die aktuelle Störung ist.

In seiner vielbeachteten Studie »Das Tabu des Totems als Torpfosten« (Manchester 1962) schreibt der sympathische Autor W. Rooney mitfühlend: »Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen, und man darf ja auch von der Klärung eines Sachverhalts einen Gewinn für unsere Einsicht erwarten.«

Wir haben bereits an anderer Stelle nachgewiesen, dass Moses kein Argentinier, sondern Ägypter war. Und so wie Moses sich seines Bruders Aaron bedienen musste, wenn er zu den Argentiniern sprechen wollte, so muss sich der Patient heute seiner Kinder bedienen, wenn er sich mit Argentiniern verständigen möchte.

An dieser Stelle bricht der Bericht ab, der Seelenklempner musste Fanartikel fürs Finale kaufen gehen. Gerade ruft der Hausmeister im Büro an. Keine Heizung bis zum Tag nach dem Finale, schafft er nicht mehr. Ist ja auch nur Juli. Aber Weltmeister werden wollen. Der Herausgeber CW schaut sein argentinisches Lieblingsspiel auf DVD. Seine Augen leuchten wie die Fenster brennender Irrenhäuser. Fußball ist schön.

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Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

Unter Geiern … äh … Brasilianern

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

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Argentiniens Hauptstadt, gestern Abend: WM-Halbfinale. Ein Deutscher und seine Mannschaft. Viele Brasilianer und ihre Mannschaft. 

1.-16. Minute

Krawallende Glotze, kreischende Kinder, klingende Gläser, coole Caipis, Samba im Hintergrund. Alberne Schminke. Fingerfood ganz ok, Bier kalt und nicht von Quilmes. Schönes Spiel.

Die Brasilianer, als ob sie aus den Deutschen gleich einen Oliver-Kahn-Gedächtnisauflauf machen wollten: Luiz guckt, Hulk kratzt, Marcelo spuckt. Ich: nervös. CW, zu Hause: malt entspannt weiß-himmelblaue Papierstreifen. Und twittert.

11. Minute

Gol! GooooooooooooooooooooooooooooooolTomáßmuller.

17. Minute

A. (Name von der Redaktion geändert), der Brasilianer aus São Paulo, kommt rein, seinen fiebernden Dreijährigen auf dem Arm, seine unlustige Fünfjährige an der Hand und seine reizende Gattin an der Seite.

A. schaut auf den Fernseher. Ob das ein Scherz sei? BRA-GER 0:1? Ne Montage, oder sowas?

23. Minute

A. hat seine Plagen zu den anderen ins Kinderzimmer geschickt und will sich gerade mit seinem Bier setzen – da kommt Opa Klose. Null-zwo. A. lacht. Sein Sohn will noch eine von diesen Deutschlandfahnen haben, die einer zur Party mitgebracht hat.

24. Minute

Kroos. Das Dritte. Einfach so. Meine Frau heult. Wie Julio César und David Luiz. Im Gegensatz zu denen aber vor Rührung. Dass sie das noch erleben darf, sagt sie. (Im Viertelfinale ist sie noch Shoppen gewesen. Mit der Gattin von Hausherr CW!)

26. Minute

Kroos. Nochmal. Keine Wiederholung! Haha!

29. Minute

0:5. Ich finde, wir sollten jetzt gehen. Immerhin sind auch hier die Gastgeber Brasilianer.

Touristenführer Jogi Löw

Aber Merte hatte unrecht: Unter den letzten 16 war doch eine Karnevalsmannschaft.

Interessant: Einer, den ich nicht kenne, aber für einen Argentinier halte, stülpt die Nase über den linken Mittelfinger, hält sich den Zeigefinger an die Schläfe, legt die Stirn in Falten – und schweigt. Sehr ungewöhnlich für einen Argentinier. Klarer Fall: Die haben Angst! Jetzt schon! Ach, der Mann ist Bolivianer?! Ok, ok, ok: »Kannst du dich an Deutschland-Bolivien erinnern, WM 1994? Das 1:0?« Kann er. Will er nicht drüber reden. Fast ein Argentinier, irgendwie.

Halbzeit

Wir machen Späße. Mit den Brasilianern. Zum Aufheitern. So: »Hey, in der zweiten Halbzeit stellt sich Neuer in euer Tor. Zum Spaß. Haha!« Finden die nicht witzig.

Unser Gastgeber. Steht in der Küche. Im Glas: Cola. In der Hand: Veganerschnitte. Im Auge: eine Träne. Wir versuchen, zu trösten. Seelische Betreuung. Notfallseelsorge. Betreutes Fernsehen, sozusagen.

Zweite Halbzeit

Huy, die drücken. Ich twittere an CW: »Brasilien dreht das noch.« A., der Brasilianer, mantrat auf dem Teppich: »CincoGolesCincoGolesCincoGoles.«

69. Minute

Lahm. Und Schürrle. »Macht das halbe Dutzend voll«, würde Rubi wortmetzen. A. sitzt im Halbdunkel hinter dem Sofa und singt seinem Sohn melancholische Volkslieder aus Brasilien vor. Das Kind schwenkt die D-Fahne und grinst verzückt.

Ich lege mich fest: Brasilien dreht das Spiel nicht mehr.

70. Minute

Ich habe es geschafft. Ich habe den jüngeren Brasilianern von Zico, Sócrates und Pelé (kommt schon: Den kennt sogar ihr!) erzählt – jetzt sind sie wieder glücklich und lachen. Ach nee, es ist nur, weil Fred, der brasilianische Fußballer mit den sieben linken Füßen, endlich ausgewechselt wird.

79. Minute

Schürrle. Der alte Bruchwegboy! 0:7. Und A., der Brasilianer, so: »Deutscher Fußball ist geil.« Schon, A.! Eine deutsche Zuschauerin fragt: »Kommen wir jetzt ins Endfinale?«

90. Minute

Ja. Kommen wir.

Abpfiff

Beim Rausgehen treffe ich einen argentinischen Freund.

Bild 3 Brasilien

Ich frage: »Was steht an?« – Er: »Wir spielen gegen Holland.« – Ich: »So ein Zufall: Wir am Sonntag auch!«

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Weitere Text von Marc Koch

Van Gaal, der Rasputin von Máxima

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

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Ich habe neulich mit Holländern Fußball gespielt.

Ja!

Na und??!!

Was gucken Sie denn jetzt so indigniert?

Erstens fehlte bei denen ein Mann, und zweitens sagt meine Frau immer, ich solle mich mehr bewegen, anstatt für umsonst für ein unterklassiges Fußballblog zu schreiben. Außerdem sind die Argentinier, zu denen mich der Hausherr CW manchmal mitnimmt, damit er nicht der schlechteste Spieler auf dem Platz ist, eigentlich zu schnell für einen Mann in meinem Alter.

 

Es war auch nicht teuer, wir hatten so eine cancha gemietet. Das sind kleine Fußballplätze, die man in dieser wunderbaren Stadt an jeder Ecke finden kann, sogar unter Autobahnbrücken und sogar als Ausländer (was zum Beispiel bei Handyverträgen oder städtischen Mietfahrrädern völlig ausgeschlossen ist.)

Und ich hatte ein lustiges Trikot. Was da drauf steht, ist natürlich gar nicht mein Name. Das ist spanisch und heißt: »Ihr werdet verlieren.« Klingt aber holländisch. Gut, oder!!?

Van a perder

Als jemand, der seinerzeit die Aufnahme in die Ajax-Schule nur haarscharf verpasst hat, schätze ich ja den eleganten Angriffsfußball nach ausführlichem Kurzpass-Vorspiel. Die Älteren erinnern sich: 1972, Finale Europacup der Landesmeister: Ajax Amsterdam, 2:0 gegen Inter. Der Sieg des totalen Fußballs. Der Tod des Catenaccio. Seitdem war das 4-3-3-System in Holland heilig.

Dann kam van Gaal. Dieses sympathische Feierbiest. Der sich von seinen Kindern siezen lässt (was ich CW für seinen Nachwuchs auch mal empfehlen sollte!). Der seine Spieler nicht mit Namen, sondern mit Nummern anspricht. Und verlangt, dass sie tun, was er sagt. Der perfekte Pädagoge also. Ein Mann mit Prinzipien. Einer, der irgendwie nicht nach Argentinien passt. Dachten wir.

Doch der alte Aloysius hat es drauf: Da muss er mit einer Truppe zur WM, die es – na ja, sagen wir mal – nicht so richtig gut kann, das Fußballspielen. Und dann kicken die sich locker durch dieses Turnier. Wie das jetzt? Weil van Gaal den Argentinier in sich entdeckt hat! Er wechselt das System, wie es ihm gerade passt: Stundenlang lässt er 5-3-2 spielen. Das braucht nicht nur kein Mensch, das kapiert auch kein Gegner. Aber zehn Minuten vor Schluss: Heißa, die Waldfee, 4-3-3, Robben rennt fünftausend Meter in einer halben Minute, trifft und Holland gewinnt.

Dazu kommt, und auch das ist ja argentinisch gedacht, dass van Gaal schon mit einem 1:0 zufrieden ist. Früher waren argentinische Fußballer da anders: »Fußball ohne Tore ist wie ein Tag ohne Sonne«, hat der sehr große Don Alfredo di Stéfano immer gesagt. Aber der ist dann ja auch Spanier geworden.

Apropos Waldfee und Nationalitätenwechsel: Die Holländer haben sich ja vor ewigen Zeiten eine Argentinierin ins Königshaus geholt. Wahrscheinlich, damit das Protestantenvolk mal ein bisschen lockerer wird. Kein Festhalten an sogenannten »ewigen Wahrheiten«. Und schon gar nicht am 4-3-3. Wenn Holland demnächst Republik wird, ist Máxima schuld!

Wenn Argentinien nicht Weltmeister wird, allerdings auch.

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Weitere Texte von Marc Koch im Argentinischen Tagebuch:

Rumpelfußball reloaded

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

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Die zugegeben attraktive Dienstkleidung der Argentinier war noch kein bisschen beschmutzt, da hatten die Kommentatoren von Canal 7 schon die Erklärung parat: Der Boden im Stadion von São Paulo sei viel zu hart. Keineswegs liege es an den begnadeten argentinischen Fußballern, wenn der Umgang mit dem Spielgerät bisweilen etwas ungewöhnlich wirke. Wenn man zum Beispiel mal wieder nicht wusste, ob der Mann in weiß-himmelblau jetzt stoppen oder einen weiten Pass spielen wollte.

Dazu muss man wissen, dass Canal 7 das hiesige Staatsfernsehen und gleich nach Mate und Fernet-Cola eine der übelsten argentinischen Erfindungen ist. Zwischen Videoclips mit Regierungspropaganda senden sie ein bisschen Fußball und reden den schön, sofern es sich um das eigene Team handelt. Natürlich auch den Grottenkick gegen die Schweiz.

 

Nach diesem Spiel schickte der Hausherr CW, der von Fußball noch mehr versteht als von Marketing, eine SMS: »Noch dreimal so eine Scheiße, und wir haben den Pokal!«

Das klang irgendwie erschöpft. Aber Erschöpfte neigen ja dazu, große Dinge gelassen auszusprechen – unser MC Merte in der Eis-Eis-Tonne kann sozusagen ein Lied davon singen:

 

Und schon sind sie wieder da, die alten Geister.

Mit freundlicher Genehmigung von Härringers Spottschau (c)                              zum Vergrößern aufs Bild klicken

Keine zehn Tage ist es her, dass die Holländer gemeinschaftlich mit den Chilenen die Erfinder des schönen Fußballs getötet haben. Und schon ist er wieder salonfähig: der Rumpelfußball. (Es lohnt sich übrigens, Wikipedia nach »Rumpelfußball« zu fragen. Ich konnte nicht glauben, was ich da gesehen habe. (Grüße an die Kameraden von heftig.co!)

Hauptsache gewonnen ist wieder schick: zur Not auch mit einem »0,5 : 0«, wie Brasiliens Heulboje Neymar Junior gerade erklärt hat. Thomas Müller brandredet für »irgendwie gewinnen«, und das Fachblatt für den langen Ball in die Spitze lobt den »Schrottfußball«. Solange er erfolgreich ist. Die Rehabilitation des Rumpelfußballs feiert fröhliche Urständ.

Nur noch eine Frage der Zeit, wann die Fachpresse eine Wildcard für Griechenlands Finalteilnahme fordert.

Doch während wir dem Spirit von Mexiko, Chile und den USA nachtrauern und uns fit machen, Kolumbien und Belgien in die nächste Runde zu singen, kommt plötzlich Zuspruch von einer Seite, von der wir es nie erwartet hätten: von IHM. Dem, den sie hier für den ALLERGRÖSSTEN halten. ER also spricht zu uns: »Ich aber sage Euch: Wir können nicht immer nur der Sportclub Messi sein!« Und dann liest ER dem Übungsleiter Alejandro Sabella mal so richtig die Leviten.

ER will auch keinen Rumpelfußball. Dass ich das noch erleben darf!

Gracias, Diego!

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Härringers Spottschau hat uns freundlicherweise erlaubt, seinen Cartoon zu benutzen. Vielen Dank!

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)