Schwerin sagt dem Argentinier natürlich erst einmal nichts, und falls doch, kann er die Stadt nicht aussprechen. S, c, h, w, vier Konsonanten am Stück also, überdies gleich am Anfang, sind für argentinische Zungen nicht zu bewältigen. Das ist kein Name, sondern ein Unfall, ein Zusammenstoß und Ineinanderverknautsche von Buchstaben. Man dichtet sich in solchen Fällen einen Vokal hinzu, der die Aussprache ermöglicht. Seit ich in Buenos Aires lebe, habe ich mal in E-Schwerin gelebt.

Im vergangenen Sommer waren wir mit argentinischen Freunden in Warmunde. Herrlich war’s. Der riesige und so saubere Strand. Die Ostsee. Der Alte Strom. Das Neptun-Hotel. Hohe Düne. Ich musste fünf Tage lang Matjesbrötchen (mit ordentlich Zwiebeln) an die vierköpfige Familie aus Buenos Aires verfüttern, bis aus Warmunde so etwas Ähnliches wie Warnemünde wurde. Inzwischen heißt Warnemünde wieder Warmunde.

Dass Schwerins Bekanntheit ausbaufähig ist, hat natürlich auch mit dem Fußball zu tun. Allein in Buenos Aires gibt es ja derzeit sechs Erstligaklubs; mit dem Conurbano, dem Speckgürtel, sind es sogar zehn, und Independiente, einer der großen Fünf des argentinischen Fußballs, ist im vergangenen Jahr zum ersten Mal abgestiegen – ein Jahrhundertereignis hierzulande – und spielt derzeit bloß zweite Liga. Der FC Mecklenburg Schwerin kickt in der Verbandsliga. Noch, aber nicht mehr lange, weiß ich doch.

Alle Vergleiche hinken ja sowieso. Im Großraum Buenos Aires leben 13 oder 15 Millionen Menschen, das ist eher Nordrhein-Westfalen. Immerhin habe ich neulich beim Heimspiel eines Zweitligisten aus dem Stadtviertel Caballito (Pferdchen) einen Mann im Shirt von Hansa Rostock gesehen. Es ist also durchaus was möglich.

Mit der Aussprache ist es umgekehrt selbstverständlich auch nicht immer leicht – vor allem, wenn man seinerzeit in Mecklenburg viel herumgefahren ist: Barkow und Bützow, Dargelow und Dassow, Malchow und Mirow, Suckow und Sukow, das prägt ja doch. Humahuaca zum Beispiel, ein sehr hübsches Städtchen hoch im Norden, gelegen auf 2950 Metern und nahe an der bolivianischen Grenze, ist für jede argentinische Zunge ein Vergnügen: Vokale, wohin man guckt. Nichts zischt. Für einen Deutschen freilich liegt der Ort nahe Kieferbruch. Versuchen wir es mal: Uh-ma-wak-ga. Schon ganz gut. Wirklich. Noch einmal, bitte. Uhmawaka. Danke. Das wird.

Stau ist in Schwerin in meiner Erinnerung, wenn man mit dem Auto auf dem Obotritenring zwei Ampelphasen brauchte. Was habe ich mich aufgeregt! Der Porteño, der Bürger der immer verstopften argentinischen Hauptstadt, würde da nicht einmal hupen, und der Porteño hupt eigentlich pausenlos. Das Hupen unterbricht er bloß zum Fluchen, was man wiederum nicht persönlich nehmen darf. Im Prinzip finden wir uns alle gegenseitig toll – im Stolz vereint, in dieser großartigen Stadt zu Hause zu sein. Das Zusammenleben ist sowieso weniger förmlich als in Deutschland. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon einmal gesiezt worden wäre oder gesiezt hätte. In Buenos Aires gilt: duzen und duzen lassen.

Wenn ich Freunden hier von Euch erzähle, denken sie seltsamerweise gleich an Santiago del Estero, die dünnbesiedelte Provinz im Norden, die für den Hauptstädter schon mehr Paraguay als noch Argentinien ist. Der dortige Menschenschlag gilt als bescheiden und wortkarg. Anderswo macht man sich gern lustig über die Santiagueños, der gemeine Argentinier ist ja doch eher das Gegenteil: Es kommt vor, dass sich der Kunde in der Supermarktschlange umdreht und sein komplettes Intimleben nach hinten erzählt, Affären, Scheidungen und Krankheiten unterhalb der Gürtellinie inklusive. Dann zahlt er und sagt: »Wir sehen uns, amigo.«

Die Leute aus Santiago del Estero sind berühmt dafür, dass sie gern eine mehrstündige Siesta abhalten. Treffen sich zwei Santiagueños um 14 Uhr. Sagt der eine: »Komm mal her, ich muss dir was erzählen.« Sagt der andere: »Oh nö, ich geh jetzt erst mal schlafen.« – »Gute Idee.« Hat der Nachbar in Buenos Aires so gehört.

Ich weiß nicht. Vielleicht drücke ich mich auf Spanisch zu schlecht aus, aber der Vergleich ist ungerecht, ich lästere jedenfalls nicht über Mecklenburger. Ich bin ja mit einer verheiratet und nicht verrückt. Außerdem ist unser Sohn in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Er sprach noch lange danach dieses herrliche Norddeutsch, bei dem man das Rauschen der Ostseewellen gleich mithört, wenn man aus Sachsen-Anhalt kommt. Er klang wie Opa aus Neumühle vorm Stimmbruch, er dachte erst nach und redete dann. Heute könnte er sich mit fünf Mecklenburgern gleichzeitig unterhalten.

Unser Bürgermeister Mauricio Macri will übrigens Ende 2015 Präsident werden und hat seine Kandidatur schon zwei Jahre vorher bekannt gegeben. Bescheiden geht anders, einerseits. Andererseits: Wenn wir – also Argentinien – im Sommer Fußballweltmeister geworden sind, ist für Politik bis auf Weiteres ohnehin kein Platz mehr. In Mecklenburg-Vorpommern wird 2016 wieder gewählt? Ich mische mich nicht ein, und es ist auch keine Wahlempfehlung: Aber Frau Schwesig aus Schwerin als Landesmutter wäre für Argentinien natürlich eine ausgesprochene Zumutung. Käme sie uns besuchen, würden wir sie trotzdem willkommen heißen, die verehrte Frau Ministerpräsidentin Manuela E-Schwesig aus E-Schwerin. Und dann würde sie von allen geduzt.

Ich habe von 2005 bis 2008 in Schwerin gelebt und gearbeitet. Diese Kolumne ist erstmalig im Onlinemagazin Die Schweriner erschienen.