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Bolivianisches Tagebuch (III): Butch Wesemann und Sundance T., die versteckte Kamera und zwei Gesangseinlagen

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T. und CW, wollt Ihr etwa immer noch zur größten Salzwüste der Welt nach Uyuni? Wie denn, ohne Reisepässe? Aha, soso, unsere beiden Helden vertrauen also Rotkäppchen, dem geheimnisvollen Fremden von der Grenze, der sie an sich genommen hat: die Pässe und ihre Besitzer. Schauen wir mal, wie sich Herr T. und CW im dritten Teil schlagen. Jetzt kommt Bolivien, und die Jungs können alles gebrauchen: Daumendrücken, Gebete, religiöse Opfergaben. Auf geht’s!

La Quiaca (Argentinien) → Villazón (Bolivien) → Uyuni

(Herr T.) »Der einzige in Deutschland geborene indigene Porteño der Welt«? CW hat Nerven. Konzentrier dich, Häuptling! Wir haben hier ’nen Coup am Wickel, wie in Ocean’s Eleven.

(cw) Rotkäppchen, unser Schleuser unter der Schirmmütze des Fußballklubs Independiente, hat uns gerade an der Schlange vorbei nach vorn gebracht und die Pässe zurückgegeben. Er schiebt uns direkt vor eine Frau, die nur noch zehn Meter vom Schalter entfernt ist und nichts dagegen hat, dass wir vor ihr drankommen.

(Herr T.) Wir haben den Verdacht, dass die Frau, die uns vorgelassen hat, nur dazu da ist, Leute vorzulassen, die es eilig haben. Sie will offenbar gar nicht zum Schalter, sie rückt nicht auf. Ist also Teil des Teams. Wir gehören jetzt übrigens zu einer Reisegruppe. Deren Chefin steht schon am Schalter und weiß angeblich Bescheid. Sagt unser Rotkäppchen.

(cw) Es passieren erstaunlich viele Leute die Grenze ohne Kontrolle. Sie gehen einfach durch und werden nicht aufgehalten. Viele haben ein Fahrrad dabei, andere schleppen riesige Plastiktaschen.

(Herr T.) Der Weg ist unglaublich eng. Ich ärgere mich über die Leute, die ihr Fahrrad durchschieben müssen. Ständig werde ich weggedrängt, was kein Wunder ist: Mit meinem Reiserucksack bin ich ein großes Ziel. CWs Rollkoffer hingegen macht sich das erste Mal nützlich.

(cw) Gerade drängelt sich ein Mann vorbei, an dessen Fahrradlenker 25 eingetütete Zuckerwatten angebracht sind. Rosa und orange. Ist das hier Cámara Escondida, und gleich kommt der argentinische Kurt Felix um die Ecke?

(Herr T.) Ich verstehe das alles überhaupt nicht. Sind das Leute, die in Argentinien arbeiten, aber in Bolivien leben und jetzt Feierabend haben? Und kommen und gehen die jeden Tag?

(cw) Hoppla, es übergibt sich ein vielleicht zwölfjähriger Junge – wohl nicht zum ersten Mal. Er ist schon bei Galle. Jetzt müssen natürlich alle, die unkontrolliert die Grenze überqueren, durch die Kotzpfütze. Ich bin ja eigentlich ein linientreuer Bürger Argentiniens, ein Tausendprozentiger. Ich rege mich nur ganz selten auf. Aber wenn ich sehe, wie dieses angeblich so zivilisierte Land, das sich so gern für was Besseres hält in Südamerika, manchmal Menschen behandelt, kriege ich schlechte Laune.

(Herr T.) Ob der arme Junge zu viel Zuckerwatte gegessen hat? Oder gehen in der Schlange schon die ersten Krankheiten um?  Da sind Mütter mit kleinen Kindern – und warten stundenlang. Es gibt weder Bänke noch Toiletten in der Nähe – und erst recht kein Geschäft, um irgendwas zu kaufen.

(cw) Wir leben doch im 21. Jahrhundert, oder? Wäre es zu viel verlangt, dass eines dieser herumstehenden Arschlöcher in Uniform einmal die Stunde die Schlange abgeht, den Kindern ein paar Bonbons gegen die Langeweile schenkt und den Müttern und Alten einen Becher Tee reicht? Wie bewirbt die Präsidentin Cristina Kirchner noch mal in Fernsehspots ihr Argentinien?

(Herr T.) Un país con buena gente.Ein Land mit tollen Menschen. Achtung, CW ist gleich am Stammtisch und meckert über die da oben, der kleine Mann von der Grenze.

(cw) Herrschaften, unsere Reiseleiterin ist aber wirklich nicht die schnellste. Sie steht immer noch am Schalter und steckt ab und zu ihr Köpfchen in die Luke. Sie hat einen Korb mit Reisepässen, unsere aber nicht, wieso eigentlich nicht? Die braucht sie doch! Ich glaube, ich gehe mal gucken, warum das so lange …

(Herr T.) denkste! CW kommt nicht weit, er wird von Rotkäppchens Frauen, die immer in unserer Nähe sind, ausgebremst. »In der Schlange bleiben!«, sagen sie leise. Das Baby schläft. Und Rotkäppchen selbst schimpft aus zehn Metern Entfernung mit beiden Händen.

(cw) Na endlich, wir sind dran. Einer der geheimnisvollsten Berufe der Welt: Reisepassdurchguckerundausreisestempelhineindrücker. Man selbst versteht ja gar nicht, was diese Burschen da minutenlang treiben mit diesen paar Seiten.

(Herr T.) Die Kontrolle des CW dauert aber. Liegt gegen ihn was vor? Wird er mit internationalem Haftbefehl gesucht? Wäre ja nicht der erste Deutsche, der sich in Argentinien versteckt hält, hehe! Wohl doch keine indigene Herkunft.

(cw) Wir sind durch! Und sofort ist Rotkäppchen da und begleitet uns die paar Schritte vom Schalter hinüber nach Villazón. »Und wie viel?«, frage ich. Er sagt: »400.« Gut, ich hatte eher mit der Hälfte gerechnet, aber wenn man bedenkt, dass wir nicht drei Stunden im Regen haben stehen müssen, sind 400 Pesos – nach offiziellem Kurs 60 Euro – auch okay.

(Herr T.) Er meint leider nicht Pesos, er meint Dollar. Und er meint es ernst.

(cw) Er sagt sinngemäß: »Was soll ich mit den scheiß Pesos, Junge? Mach hinne.«

(Herr T.) Ja, eilig hat er’s auf einmal. »Ich muss den Polizisten bezahlen«, sagt er.

(cw) Eine Familie hat er obendrein zu ernähren. Bestimmt trägt er nachts auch noch kranke Igelbabys über die Straße und muss einen Tabakladen am Leben erhalten, der gute Mensch von Villazón.

(Herr T.) 400 Dollar sind indiskutabel, außerdem haben wir so viel gar nicht. Rotkäppchen hat’s eilig, spielen wir mal ein bisschen auf Zeit, CW?

(cw) Ich weiß nicht. Der pfeift er zweimal – und dann kommen fünf Schläger um die Ecke. Aber 400 Dollar sind indiskutabel. Vor allem hatte er gesagt: »200 für jeden von euch.« Herr T. ist niemals so viel wert wie ich.

(Herr T.) Es regnet nach wie vor, und wir tragen immer noch keine Jacken. CW hilft mir nicht wirklich bei der Verhandlung. Ginge es um Fußball, käme kein anderer zu Wort, aber wenn ein Schleuser der Dritten Welt mit zunehmend finsterer Miene Geld will, ist er still. Ich denke, es wird Zeit für ein Friedensangebot, wir sind ja keine Unmenschen. Hat ja auch ein Baby, der Mann! Also, Rotkäppchen, 200 Dollar – für uns zusammen.

(cw) Er nimmt an. Ich hätte ja 100 Dollar geboten.

(Herr T.) Hört! Hört! CW hat seine Stimme wieder. 200 sind okay. Rotkäppchen muss schließlich noch den Grenzer bezahlen, und Familie hat er auch.

(cw) Und die kranken Igelbabys! Dem Mistkerl haben wir’s gezeigt.

(Herr T.) Wollte uns abzocken.

(cw) Aber nicht mit uns.

(Herr T.) Schön runtergehandelt haben wir den.

(cw) Der wird kotzen.

(Herr T.) Im Strahl.

(cw) Mieses Geschäft. Ganz mieses.

(Herr T.) Der legt ja fast noch was drauf, der Arme.

(cw) So seh’n Sieger aus!

(Herr T.) Schalalalala!

(cw) So seh’n Sieger aus!

(Herr T.) Schalalalala!

(cw) Wir haben so viel Geld gespart, jetzt müssen wir’s krachen lassen. Ein Zweimannzimmer im ersten Hostel am Platze!

(Herr T.) Aus der Dusche kommt nur kaltes Wasser, und das Bad hat ein Fenster ohne Glas zum Treppenhaus. Trotzdem: Der Schleuser hat uns wieder zusammengeführt – CW und ich spüren eine selten gewordene Harmonie. Sich zusammen über etwas aufregen, das können wir gut.

(cw) Jetzt einen Poncho für mich, und einen Lamahirtenhut obendrauf!

(Herr T.) Natürlich ist das nach all den Strapazen erst mal wichtiger als etwas zu Essen. Dennoch: eine gute Investition. CW sieht jetzt richtig bescheuert aus.

Villazón

(cw) Und nun ein Zweigängemenü vom Allerfeinsten! Nix schnell auf die Hand und den Bordstein als Sitzplatz wie sonst immer. Nein, zur Feier des Tages ein piekfeiner Laden mit Tischdecken. Ja, natürlich Wachstuch, das ist ja nicht der Gendarmenmarkt, sondern der Bahnhofsvorplatz von Villazón. Dort, der Imbiss, der sieht nett aus und ist bevölkert. Señor, bitte erst die Hühnersuppe und dann ordentlich Fleisch für meinen Freund und mich.

(Herr T.) Schuhsohle, ungewürzt. Aber es ist schön warm in der Bude.

(cw) Wir brauchen jetzt noch die Bustickets für morgen. Bloß weg aus Villazón! Sonst überfällt uns das schlechte Gewissen, und wir rennen zur Grenze, um Rotkäppchen mehr Geld zu geben. Es gibt eine Direktverbindung nach Uyuni zur größten Salzwüste der Welt. Wie heißt die Firma? Chorok? Chorolko?

(Herr T.) Ich glaube, es heißt Chorolque. Seltsamer Name.

(cw) Bolivianische Gottheit aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. So was weiß man als Indigener, ohne nachzuschlagen.

(Herr T.) Geht das wieder los. Und was braucht CW jetzt noch nach dem ganzen Stress? Internet, richtig: zum Angeben, wo er ist.

(cw) 45 Minuten online für jeden im Internetcafé!

(Herr T.) Oder auch: einmal Mails abrufen und dann schnell die Überschriften von Spiegel Online lesen. Die Verbindung ist wirklich sehr langsam in Villazón. Auweia! Mir reicht’s! Gute Nacht!

(cw) Es regnet immer noch. Regen ist gut für uns. Wir werden gleich morgen Punkt acht Uhr weiterfahren nach Uyuni. Und wenn die Salzwüste unter Wasser steht, ist sie noch hübscher.

(Herr T.) Schlaf schön, CW!

(cw) Träum was Süßes, Herr T.

***

(cw) Wir sollten um halb acht am Bus-Terminal sein, hatte die Fahrkartenverkäuferin am Vorabend gesagt. Wir sind um zehn nach sieben da und holen uns an einer Bude erst mal ein kleines Frühstück, frittierte süße Lappen, die Pasteles heißen. Dazu wird Api in der Tasse gereicht, ein warmer, dickflüssiger und ebenfalls süßer Maissaft mit Zimtgeschmack. Schmeckt alles besser, als es klingt.

Mehr brauche ich nicht. Es sind doch nur 65 Kilometer bis Uyuni, also maximal zwei Stunden.

(Herr T.) Ich sage mal nichts. Ich weiß wirklich nicht, wo CW die Zahl her hat; wahrscheinlich verwechselt er die Distanzen – 65 Kilometer wären es gestern zur Salzwüste in der Nähe von Purmamarca gewesen. Aber er würde mir ja sowieso nicht glauben, der alte Rechthaber.

Der Bus kommt um 8.10 Uhr, und dann wird das Gepäck der Passagiere eingeladen: Riesentaschen, Kartoffelsäcke, ein Bettgestell oder Gartenzaun, so genau erkennt man es nicht, noch mehr Kartoffelsäcke. Abfahrt um halb neun.

(cw) Lohnt es sich überhaupt, noch mal ein Nickerchen zu machen?

(Herr T.) Übrigens sind wir schon wieder einzigen Weißen im Bus, dabei geht es doch zur größten Salzwüste der Welt. Wo sind die ganzen Touristen hin? Stimmt das hier?

(cw) Nach zwei Stunden erreichen wir einen Ort, ich stehe schon mal auf und packe zusammen. Aber das ist nicht Uyuni, das ist Tupiza. Nein, irgendwas stimmt hier nicht.

(Auf der Rückfahrt werden wir übrigens erfahren, dass es einen Komfortbus zwischen Villazón und Uyuni gibt, den wohl die meisten Touristen buchen. Das hier ist die sehr günstige und sehr bolivianische Variante: kein Komfort.)

(Herr T.) Ich frage heimlich den Busfahrer, wann wir in Uyuni ankämen. Er sagt, es sei viel zu früh, sich schon jetzt festzulegen. Ich verschweige CW auch diese Auskunft. Noch ist er halbwegs unungehalten. Vielleicht liegt’s daran, dass wir wunderbare Landstriche und Täler passieren.

(cw) Ach Tupiza, 25 709 Einwohner, fast 3000 Meter über dem Meeresspiegel! Erst auf dem Rückweg, als es schon zu spät ist, werde ich das Städtchen im Reiseführer entdecken. Hier um die Ecke sollen die Banditen Butch Cassidy und The Sundance Kid 1908 Lohngeld erbeutet haben, mit dem sie dann in die Bergarbeitersiedlung San Vicente weiterzogen, um sich vom Tagwerk auszuruhen. Angeblich liegen die beiden Herren auf dem örtlichen Friedhof; 1992 ergab aber ein DNA-Test, dass es sich bei den Überresten um einen Deutschen handelt, den Ingenieur Gustav Zimmer, einen Zeitgenossen von Butch Cassidy und The Sundance Kid.

(Herr T.) Butch Cassidy and the Sundance Kid, Paul Newman und Robert Redford, ich liebe diesen Film.

(cw) Und die atemberaubend schöne Katharine Ross vorn auf dem Fahrradlenker!

 

(Herr T. und cw) Raindrops keep fallin‘ on my head / But that doesn’t mean my eyes will soon be turnin‘ red / Cryin’s not for me / ‚Cause I’m never gonna stop the rain by complainin‘ / Because I’m free / Nothin’s worryin‘ me

(cw) Der nächste Ort – wieder nicht Uyuni. Wie lange dauert denn das? Wir kommen ja kaum voran; nur die ersten 70 Kilometer waren asphaltiert, seitdem geht es über Sandwege – und immer bergauf, gelegentlich auch mal durch einen Fluss. Keine Leitplanken. Die Kurven sind scharf und eng – und manchmal kippt der Bus so in die Schräge, dass man rüberrutschen will ans andere Fenster. Als Gegengewicht.

(Herr T.) Aber da sitzt ja schon jemand.

Lamas

(cw) Plötzlich erklingt von hinten Geschrei. Es fehlt jemand. Muss man denn nach jeder Rast nachzählen, ob alle wieder an Bord sind? So, jetzt mal kurz Ruhe bitte, hat jeder seinen Nebenmann? Ist ja wie auf Klassenfahrt nach dem obligatorischen Stopp bei McDonald’s an der Autobahn. Der Busfahrer bremst einmal und gibt dann gleich wieder Gas. Nach zehn Minuten rast ein Moped mit zwei Männern heran und hupt. Ah, der verlorene Passagier ist wieder da. Hat sich wohl ein Zweiradtaxi gechartert. Das fährt jetzt bergab zurück ins Dorf.

(Herr T.) Es beginnt die fünfte Stunde im Bus. Ich will jetzt auch nicht mehr. Dass CW so ruhig bleibt, muss an den Kokablättern liegen, die er die ganze Zeit schmatzt. Man sollte sie ihm für immer in die Backe nähen.

(cw) Wir halten an einer kleinen Siedlung, wo mehrere Händler einsteigen, um vorgewärmte Gerichte zu verkaufen. Eine Frau hinter uns, die mich die ganze mit ihrem lauten Organ gestört hat, ist ganz aufgeregt. Herr T. schläft mit seinen Angeberkopfhörern. Ich stups ihn mal an.

(Unbekannte Frau) Huuuuuumiiiiiitaaaaas!

(Herr T.) Aua. Sind wir schon da?

(cw) Sieht das aus wie Uyuni?

(Herr T.) Uyuni soll eine Stadt sein. Also: nein.

(cw) Tja, so richtig werde ich mit den Leuten im Bus nicht warm. Ich versuche seit zwanzig Minuten, mit dem kleinen Mädchen von schräg rüber zu blödeln, das mich die ganze Zeit anstarrt. He Kind, mir ist langweilig! Ich grinse, ich drücke auf meine Nasenspitze, bis die Zunge rausspringt, ich blase die Backen auf. Ich bin kurz davor, die alten Witze von Otto Waalkes auszupacken und ins Spanische zu übersetzen – English for Runaways, Susi Sorglos -, als das Mädchen endlich lächelt.

(Herr T.) Kann es sein, dass die Kleine, nicht älter als fünf, CW einfach nur bestaunen will, weil er so anders aussieht als die Menschen, die ihr sonst begegnen?

(cw) Der Reiseführer schreibt übrigens, die »Gesinnung der Bolivianer« unterscheide sich »beträchtlich nach Klima und Höhenlage«. Kollas, die Hochlandbewohner, sollen angeblich »fleißiger, aber engstirniger« sein als die Cambas, die Flachländer, die dafür als »warmherziger, aufgeschlossener und Fremden gegenüber großzügiger« beschrieben werden. Kollas wie Cambas hielten sich jedoch für die jeweils besseren Bolivianer. Mal Herrn T. fragen, ob wir gerade im Hochland oder im Flachland unterwegs sind. Er zeigt ans Fenster nach draußen. Ja klar, Berge. Also engstirnig. Aber fleißig. Aber engstirnig.

(Herr T.) Er kann’s nicht lassen.

(cw) Hör mal, Herr T., kennst du das Lied noch? Der Busfahrer hat Lambada von Kaoma eingelegt, den Sommerhit 1989, in elf Ländern Nummer 1. Mein letzter Sommer vor der Pubertät.

(Herr T.) Da war ich gerade mal ein Jahr alt.

(cw) Augenblick, Panflöten? Ach so, das ist das Original: Llorando se fue der bolivianischen Gruppe Los Kjarkas. Haben Kaoma damals einfach, ohne zu fragen, geklaut.

 

(Herr T.) Bei mir ist das wie bei Menschen, die in der Einflugschneise eines Airports leben – die nehmen den Lärm der Triebwerke gar nicht mehr wahr. Nach ein paar Stunden Beschallung mit bolivianischer Musik überhöre ich Panflöten.

(cw) Manchmal fühle ich mich ja wie Herrn Ts. Mentor. Ja, ich bringe ihm ziemlich viel bei, er profitiert von mir so ungemein. Weil wir ja doch viel Zeit miteinander verbringen, ist es natürlich auch in meinem Interesse, wenigstens eine wacklige Brücke über den intellektuellen Graben zu bauen, der uns trennt. Fürs Zuschütten ist der Graben zu groß.

(Herr T.) Ich hänge jetzt wie so oft an seinen Lippen. Draußen sind ja eh nur Berge zu sehen. Spreche Er, großer Meister!

(cw) Nehmen wir heute mal den Strukturwandel der Öffentlichkeit durch, so der Titel der politikwissenschaftlichen Habilitationsschrift Jürgen Habermas’ aus dem Jahre neunzehnhundertzwoundsechzig. Den Terminus Habilitationsschrift setze ich als bekannt voraus. Habermas beschreibt in seinem Werk den Aufstieg und Niedergang der bürgerlichen Öffentlichkeit; wir müssten an dieser Stelle natürlich zunächst definieren, was Öffentlichkeit ist.

(Unbekannte Frau) Huuuuumiiiiiitaaaaas! Huuuuumiiiiiitaaaaas!

(cw) Wie gesagt, Aufstieg und Niedergang der bürgerlichen Öffentlichkeit sind das Thema des Buches. Öffentlichkeit lässt sich – stark vereinfacht natürlich – definieren als Gesamtheit aller Umstände, die …

(Unbekannte Frau) Huuumiiiiiitaaaaas! Huuuuumiiiiiitaaaaas!

(cw) … aller Umstände, die …

(Unbekannte Frau) Huuuuuumiiiiiitaaaaas!

(cw) … Umstände, die …

(Unbekannte Frau) ¡Señora, huuuumiiiiiitaaaaas!

(Herr T.) Der Busfahrer sagt übrigens, die Hälfte haben wir.

(cw) … die …

(Unbekannte Frau) ¡Quiero humitas, Señora!

(cw) Die Hääääääääääääääääääälfte?

(Unbekannte Frau) Huuumiiiiiiiiiiiiiiiitaaaaaaaaaaaas?

(Herr T.) Kleiner Scherz, drei Viertel haben wir schon geschafft. Aber was ist das eigentlich für eine laute Frau, die obendrein so schlimm nach Koka riecht.

(cw) Ich riech nichts.

(Herr T.) Und was zum Henker sind humitas?

(cw) Keine Ahnung. Aber ich will jetzt welche.

(Unbekannte Frau) Señora, gracias por las humitas. ¡Hasta luego!

Fahrzeit für die 270 Kilometer von Villazón nach Uyuni: neun Stunden, vier Pausen inklusive.

Fortsetzung folgt

Bolivianisches Tagebuch (II): Rotkäppchen und zwei Grenzgänger am Arsch der Welt

von CHRISTOPH WESEMANN

Wir ziehen das Tempo an. Bisschen Busfahren und Bergegucken in Salta, Jujuy, Purmamarca, nee, meine Herren, das war bislang nichts. Da ist’s ja mit Oma im Harz aufregender. Wir schicken Herrn T. und CW, unsere zwei Helden aus Buenos Aires, die nach Bolivien zur größten Salzwüste der Welt wollen, heute auf 3442 Meter. Endlich werden sie gefordert – und scheitern prompt. So wie sich das für eine gute Geschichte gehört. Auf geht’s! Anschnallen! ¡Vamos chicos!

(cw) Der Mann, den wir am Abend in Purmamarca treffen, ist ein Peronist der ersten Stunde, also ein alter Anhänger jener politischen Bewegung, die Argentinien seit mehr als einem halben Jahrhundert bestimmt, kontrolliert und beherrscht. Er hat Juan Domingo Péron, ihren Stammvater, den zweimaligen Präsidenten des Landes (1946-1955, 1973-1974), einst sogar getroffen. Jetzt zerlegt er direkt auf der Tischdecke ein Alfajor mit dem Messer in Einzelteile.

(Herr T.) Eine schöne Sauerei ist das. Die nächsten zwei Stunden wird er mit den nicht gegessenen Krümeln spielen, sie mit der Hand zusammenfegen und aufs Neue über die Tischdecke verteilen. CW hat sich Mate bestellt, unser Gastgeber trinkt Tee und ich Kaffee.

(cw) Ich weiß, dass Herr T. auf ein Abendessen spekuliert hat, als wir um halb acht ankamen. Er wird es in seinem Jahr in Buenos Aires nicht einmal zum Viertelargentinier bringen. 19.30 Uhr – das ist in diesem Land Kaffeezeit.

(Herr T.) Wir haben doch erst vor zweieinhalb Stunden gegrilltes Lamafleisch gegessen. Wie köstlich! Also ich denke nicht schon wieder ans Essen.

(cw) Wir sind mitten in der Geschichtsstunde. Unser Gastgeber erzählt, wie das in den dreißiger Jahren – ohne Radio, Fernsehen, Telefon, Internet – als kleiner Fußballfan in Purmamarca so war. Einmal die Woche, immer mittwochs, kam ein Zug aus Buenos Aires vorbei und brachte die Zeitung vom Sonntag mit. Darin standen die Ligaergebnisse vom Wochenende. Erst jetzt erfuhren die Jungen und Alten in Purmamarca, wie ihr Klub gespielt hatte. Den Rest des Tages verbrachten die Kinder damit, auf der Plaza die Spiele zu diskutieren.

(Herr T.) Ich trage mal nach, dass immer ein Mann aus Purmamarca, ein purmamarceño, zum Bahnhof ritt und die Zeitung holte.

(cw) Schon gut. Weil meinen Kopf das Übersetzen ungeheuer anstrengt, brauche ich manchmal eine Pause und schalte ein paar Minuten ab. Ich nicke nur noch, sage »ja … ja … ja … hmmm«, und als wäre ich Homer Simpson, klappert ein Affe in meinem Kopf mit zwei Topfdeckeln.

(Herr T.) Es ist auch nicht ganz leicht, unseren Peronisten der ersten Stunden zu verstehen. Er hat die linke Backe voller Koka, eine tischtennisballgroße Beule, die natürlich nicht unbedingt die klare Aussprache erhöht.

(cw) In der Wohnung stehen 50 Pokale, weil der Mann Präsident eines Fußballklubs in Jujuy ist. Sie seien bei ihm sicherer als im Vereinshaus, sagt er. Viele sind bis zu einem Meter groß und wunderschön. Es funkelt von allen Seiten. Ich habe früher auch ein paar Jahre im Verein Fußball gespielt, aber nie was gewonnen. Ich besitze nur eine Tüte voller Medaillen von meiner Karriere als Schachspieler (1984 bis 1990). Ich war ein paar Mal Schul- und Kreismeister meines Jahrgangs – aber solche glitzernden Pokale, nein, die gab es nicht.

(Herr T.) Habe ich mich verhört, oder hat CW soeben tatsächlich gefragt, ob er nicht einen dieser goldenen Staubfänger mitnehmen könne?

(cw) Mein Gott, es fiele doch gar nicht auf, wenn eine Trophäe – nur eine, die große dort oben – fehlen würde. Auf die leere Stelle kann unser Mann ja das Glas Salta-Marmelade stellen, das wir als Gastgeschenk mitgebracht haben.

(Herr T.) CW gibt nicht auf. Könnten wir vielleicht das Thema wechseln? Immer nur Fußball.

(cw) Jetzt müssen wir natürlich noch über den argentinischen Fußballs von heute reden. Ja, die Nationalmannschaft ist gut drauf und wird im nächsten Sommer in Brasilien Weltmeister. Aber ringsum: eine Katastrophe. Die Barras Bravas (Wilde Horden), vergleichbar mit der Ultra-Bewegung in deutschen Stadien, bedrohen Spieler und Trainer, prügeln sich mit der Polizei, mit der gegnerischen Horde oder untereinander, sie sind häufig in kriminelle Geschäfte verwickelt, handeln mit Drogen und werden dabei gern von Klubpräsidenten und Politikern gedeckt. Sie sind die heimlichen Herrscher des Klubs. Und es wird nicht besser, sondern schlimmer. Es ist Schande! Der Herr Präsident ist ganz meiner Meinung.

(Herr T.) Der Herr Präsident hat auch gar keine Zeit zu widersprechen. CW labert und labert.

(cw) Die argentinische U20 hat übrigens gerade die Qualifikation für die Nachwuchs-WM in der Türkei verpasst. In der ersten Liga ist das Niveau zum großen Teil unterirdisch. Selbst die bekannten Mannschaften kommen selten über Gebolze hinaus. Es fehlt überdies das Geld, um gute Spieler zu halten. Wer in Argentinien mit dem Ball was kann, geht nach Europa, wo er mehr verdient. 

(Herr T.) Ja … ja … ja … hmmm.


(cw)
Am nächsten Morgen wollen wir zu den Salinas Grandes fahren, dem 12 000 Hektar großen Salzsee. Von Purmamarca sind es dorthin nur 65 Kilometer bergauf. Zweieinhalb Stunden später werden wir zurückkehren und gleich den ersten Bus weiter gen Norden besteigen, so dass wir noch am Abend die bolivianische Grenze erreichen. Wir haben zum ersten Mal einen Plan.

Leider ist das Auto zu den Salinas Grandes schon voll. Aber das nächste fährt in 40 Minuten, und wir melden uns an.

(Herr T.) Nach diesen 40 Minuten fährt das Auto dann in weiteren 40 Minuten …

(cw) … und wir sind mittlerweile lang genug im Land, um zu wissen, dass es nach diesen weiteren 40 Minuten heißen kann: Gleich geht’s los …

(Herr T.) … also irgendwann. Sobald das Auto voll ist. Die Typen sind auch seltsam. Stehen einfach an der Straße und rufen: »Salinas, Chicos. Salinas.« Kein Büro, kein Schild, kein Firmenname. Nur Männer mit Autos, die man in Deutschland Familienkutschen nennen würde. Kein Wunder, dass sich niemand so recht dazu gesellen will.

(cw) Wenn wir es heute noch bis zur Grenze schaffen wollen, sollten wir jetzt aufbrechen. Wir müssen doch ein paar Meter hinauf. Purmamarca, wo wir jetzt sind, liegt auf 2192 Metern – unser Tagesziel, der argentinische Grenzort La Quiaca, auf 3442. Wir verschieben die Salinas-Tour auf unsere Rückkehr und verabschieden uns von Alfredo, unserem Kontaktmann vom Vortag. Er steht vor einem Souvenirladen, einem eher teuren allerdings, ja, er ist der Inhaber und inzwischen etwas aufgetaut. Er reckt den Daumen und freut sich auf ein Wiedersehen in drei, vier Tagen. »¡Buen viaje, chicos!«

(Herr T.) Wir müssen jetzt zu einer Stadt, deren Namen wir bis ans Ende unserer Reise nicht werden korrekt aussprechen können: Humahuaca. (Man sagt: Umawacka.) Angeblich soll dieser Ort, 2989 Meter hoch gelegen, der schönste der ganzen Schlucht von Humahuaca sein.

(cw) Die meisten der 15 000 Einwohner sind Quechua. Wir haben zwei Stunden Aufenthalt, bis der Bus nach La Quiaca fährt, wir essen Choripán und gehen zum Unabhängigkeitsdenkmal mit den 103 Stufen hinter der Plaza Gómez. Ein recht vulgäres Werk des hiesigen Bildhauers Ernesto Soto Avendaño soll es sein, habe ich gelesen. Vulgäres interessiert mich immer.

(Herr T.) Das kann ich bestätigen.

(cw) Das Denkmal ist dann aber nur »ein Beispiel für den indigenismo«, wie der Reiseführer schreibt, »eine weit verbreitete Mode in der lateinamerikanischen Kunst, in der auf romantische, aber herablassende Art die Tugenden der indigenen Bevölkerung angepriesen werden, die vom Kolonialismus überrollt wurde«.

(Herr T.) Wir platzen ohnehin hinein in den Karneval. Es wird nicht der letzte sein auf dieser Reise, sondern: der erste von vielen anderen. Kinder bespritzen sich mit Dosenschaum, es wird gesungen und sich mit Talk eingeschmiert.

(cw) Wir sind, zugegeben, ein bisschen deplatziert: Ich mag Karneval nicht, und Herr T. hat keinen Humor.

(Herr T.) In CWs Augen ist ein seltsames Leuchten. Es scheint, als würde er sich geradezu wünschen, auch mit Talk eingeseift zu werden. Er ist sowieso seit gestern merkwürdig. Er streunt jetzt dauernd um die Verkaufsstände mit den Ponchos herum. Er befühlt minutenlang die Alpaka-Wolle, lässt sich ausgiebig beraten, wie ein italienischer Herrenausstatter auf der Suche nach neuen Stoffen – und kauft im letzten Augenblick doch wieder nichts.

(cw) Noch 150 Kilometer sind es bis zur Grenze. Wir haben diesmal keinen Sitzplatz bekommen, lassen uns deshalb auf der Treppe zum Oberdeck nieder und schauen direkt ins Cockpit des Busses. Fünf Männer halten sich dort auf. Sie teilen sich erst einmal eine gebroilerte Ziege; während sich der Fahrer ein Stück abreißt und verspeist, hält er das Lenkrad wegen der fettigen Hände mit seinen Ellenbogen.

(Herr T.) Vor uns stillt eine Frau ihr Baby. Da mach ich mal die Augen zu. Es reicht ja, wenn CW glotzt.

(cw) Herr T. und ich sind übrigens die einzigen Weißen im Bus, wenn ich das richtig sehe. Und jetzt schläft er fest und pendelt dabei immer ein bisschen hin und her. Der Copilot sieht das gar nicht gern, er hat Angst, dass ihm der Blasse ins Cockpit fällt. Er gibt mir ein Zeichen, dass ich Herrn T. wecken soll, und reicht uns eine Handvoll Kokablätter.

(Herr T.) Ein Stück von der Ziege hätte ich genommen, aber Koka – nein, danke. Das überlasse ich dem Überintegrator CW.

(cw) Schon die Liebesgöttin der Inka hielt übrigens auf Bildern Kokablättern in den Händen. Koka steigert die Wachsamkeit, verringert die Wahrnehmung von Hunger, Schmerz und Kälte und hilft angeblich auch gegen die Höhenkrankheit Sorroche. Und nein, es ist keine Droge.

(Herr T.) Dass Koka Hunger, Schmerz und Kälte weniger stark erscheinen lässt, habe ich auch gelesen. Aber beim Probanden CW ist davon nichts zu spüren. Er klagt und schmatzt, er schmatzt und klagt. »Ich will einen Poncho und einen Pancho«, sagt er. Und riecht dabei immer strenger nach der Pflanze.

Das mit der Droge stimmt freilich. Um ein Gramm Kokain herzustellen, braucht man zehn Kilogramm Kokablätter, hat uns der Peronist der ersten Stunde gestern erzählt. Dennoch ist es nur im Norden Argentiniens erlaubt. Wahrscheinlich auch wegen der Tradition.

(cw) Weil wir ja gleich in Bolivien sind: Das Land wird von einem früheren Koka-Bauern regiert, der gerne Pullover und Lederjacke trägt. Evo Morales ist nicht nur der erste bolivianische Präsident indigener Herkunft, sondern auch eine der seltsamsten Figuren eines mit seltsamen Figuren reich ausgestatteten Kontinents. Morales wuchs mit sechs Geschwistern in Armut auf, von denen nur zwei überlebt haben, und arbeitete in seiner Jugend als Lama-Hirte, Bäcker und Maurer. Berühmt gemacht hat ihn sein Slogan: »¡Coca sí! ¡Cocaína no!« Er hat die Vernichtung von Kokaplantagen ausgesetzt, er will den Anbau verstärken und sucht nach Exportmöglichkeiten. Dabei geht es allerdings um alternative Kokaprodukte und nicht um Kokain.

Andererseits verstaatlicht der Linkspopulist, was sich verstaatlichen lässt, tanzt den Vereinigten Staaten auf der Nase herum und hat, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisiert, »die Gewaltenteilung praktisch ausgehebelt und vor allem die Justiz fast in die Handlungsunfähigkeit getrieben. Das Oberste Gericht ist nicht existent, die Zentralbank, der Rechnungshof und die Staatsanwaltschaft sind von ihm an die Kandare genommen worden«.

(Herr T.) Ja, Geduld ist nicht CWs Stärke. Kurzzeitgedächtnis ebenso wenig. Vergisst er doch stets, in welchem Ort wir gerade sind und fragt regelmäßig, damit er beim Posten in Facebook keine Fehler macht. Wir sind noch lange nicht in Bolivien – hat er schon vergessen, was in meinem Reiseführer steht? Bolivien ist das »am schwersten zugängliche und raueste Land der südlichen Hemisphäre«.

(cw) Papperlapapp. Ich habe schon Grenzen schon überwunden, als Herr T. noch in Windeln lag. Neunzehnhundertneunundachtzig!

(Herr T.) Abwarten. Unser Grenzgänger kann gleich zeigen, was er draufhat. Wir sind nämlich jetzt in La Quiaca und mittlerweile 300 Kilometer entfernt von San Salvador de Jujuy. Nach Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, sind es 5121 Kilometer. Ich bin mal kurz weg, fix austreten auf der Bahnhofstoilette. CW hat bestimmt wieder irgendwas zum Zitieren, um die Zeit zu überbrücken.

(cw) Hui, klingt aber gar nicht gut: »Eigentlich gibt es keinen Grund, in La Quiaca länger als nötig zu verweilen«, schreibt der Reiseführer. Wird Herr T. denn noch mal fertig? Er will gerade die Kabine betreten, als er ein bisschen Platz machen muss für die Toilettenfrau. Sie schiebt mit dem Schrubber braunen Schlamm über den Boden zum Ausgang. Herr T. guckt, als sei der braune Schlamm das, was ich vermute.

(Herr T.) Nur noch weg. Ich! Muss! Das! Ganz! Schnell! Vergessen! Hallo Würgreflex! Lange nicht gesehen, so was.

(cw) Wir brauchen zum Grenzübergang nur zehn Minuten zu Fuß. Aber schon von weitem sehen wir die Warteschlange. Das kann dauern.

(Herr T.) Es ist kalt hier oben, und es fängt an zu regnen. Nach 20 Minuten hat sich die Schlange drei Schritte bewegt. Bleiben noch 149 bis zum Schalter.

(cw) Wir müssen jetzt handeln. Dort im Reisebus sitzt ein Junge, ich klopfe mal an die Scheibe und frage, ob sich das Überqueren der Grenze auf irgendeine Art beschleunigen lasse. Es gebe Männer, die helfen könnten, sagt er. Und wie lange dauert es ohne die? »Drei bis vier Stunden.« Also gut, was kosten die Männer? »Weiß nicht.«

(Herr T.) 148 Meter.

(cw) Der Junge aus dem Bus geht zu einem Mann, der eine rote Schirmmütze des Fußballklubs Independiente – Argentiniens Rote Teufel – trägt und weiter vorne neben der Schlange auf der Mauer sitzt. Sie reden miteinander, und der Junge scheint auf uns zu zeigen. Die beiden haben aber keine Eile.

(Herr T.) 147.

Grenze

(cw) Dann geht alles ganz schnell. Das Rotkäppchen holt uns aus der Schlange, führt uns zu zwei Frauen, die mit einem Baby an der Mauer lehnen; der Busjunge ist auch noch da, und wir geben Rotkäppchen unsere Reisepässe.

(Herr T.) Äh ja, der fremde Mann hat unsere Reisepässe und ist weg.

(cw) Stimmt.

(Herr T.) Ich habe noch eine Kopie in meiner Hosentasche.

(cw) Ich nicht.

(Herr T.) Wir haben das Baby.

(cw) Gewissermaßen. Es schläft, dick eingewickelt, vor uns im Arm der Mutter.

(Herr T.) Ich gehe mal ein Stück näher ran. Sicher ist sicher.

(cw) Mir scheint, das ist eine Schleuserfamilie.

(Herr T.) Die Mutter und diese andere indigene Frau, vielleicht ihre Schwester, reden abwechselnd auf uns ein. Der Busjunge hält auch nicht immer die Klappe. Ich verstehe kein Wort.

(cw) Wir haben keine Pässe mehr, uns ist kalt, könntet ihr bitte langsamer sprechen?

(Herr T.) Und aus dem Nichts sagt CW: »Ich glaube, ich bin der erste in Deutschland geborene indigene Porteño der Welt.«

Fortsetzung folgt

Herr T. beim wüsten Tanz

von CHRISTOPH WESEMANN

El Salar de Uyuni, die größte Salzwüste der Welt, Sonnabend, 9. Februar, 14.32 Uhr Ortszeit:

Wüstentanz

Ich ziehe mich jetzt wieder in meine Dichterhöhle zurück und arbeite am zweiten Teil des Bolivianischen Tagebuchs.

Mit Adam Ries an die Atlantikküste

von CHRISTOPH WESEMANN

Ein letztes Mal in diesem Sommer raus aus der Stadt, endlich wieder an die argentinische Atlantikküste. Es sind von Buenos Aires doch nur 350 Kilometer nach Ostende, wo es stiller ist als nebenan in Pinamar. Am Sonnabendvormittag loszufahren ist eine sehr gute Idee – und deshalb haben viele andere die auch. Ja, es ist ein bisschen Verkehr, aber der rollt – jedenfalls so lange, bis die Polizei eingreift. Argentinien ist auch das Land, in dem Polizisten Staus verursachen. Sie sitzen entweder dösend in ihren Pickups, oder sie stehen am Straßenrand und winken Autofahrer heraus. In diesem Fall staut es sich. Und danach rollt es wieder bis zum nächsten Kontrollpunkt. Jedes Mal sind zehn Minuten weg – und weil die Polizei alle 30 Kilometer fischt, summiert sich das bei 350 Kilometern nach Adam Ries auf immerhin … ähm … na, ganz schön viel Zeit.

Was der gemeine Argentinier vielleicht irgendwann lernen könnte: die rechte Spur benutzen, wenn er meint, 90 Kilometer pro Stunde seien ja fast 120, die gerade als Maximaltempo erlaubt sind. Ich habe ein paar Mal versucht, mit Blinker, Lichthupe, Handzeichen, Lärmhupe, Gebrüll und Mittelfingerakrobatik (in dieser Reihenfolge) erzieherisch einzugreifen – und dann rechts überholt, sogar einen Reisebus, der es sich in der linken Spur gemütlich gemacht hatte.

Die Seebrücke von Pinamar ist übrigens – ach, urteilen Sie selbst.

Seebrücke Pinamar 10

Seebrücke Pinamar 6

Seebrücke Pinamar 5

Seebrücke Pinamar 1

Seebrücke Pinamar 2

Seebrücke Pinamar 4

Seebrücke Pinamar 7

Seebrücke Pinamar 8

Seebrücke Pinamar 9

Bolivianisches Tagebuch (I): Mit Kokaface ins Indianerland

von CHRISTOPH WESEMANN

Unsere zwei Helden sind wieder unterwegs. Herr T., der junge Deutsche (24), der ein Jahr in Argentinien lebt und arbeitet, muss das Land nach drei Monaten verlassen und als Tourist neu einreisen. Wieder ist CW dabei, unser Mann in Buenos Aires, der sich doppelt so alt fühlt, wie er ist (also 68), und Herrn T. zehnmal mehr nervt, als er glaubt.

Diesmal geht es nicht, wie im Dezember 2012, nach Chile. Nein, ein größeres Abenteuer soll her: Bolivien, das Armenhaus des Kontinents, ein Land der Extreme. Im Buch Südamerika für wenig Geld, das Herr T. auf dieser Reise bei sich hat, ist Bolivien das »höchstgelegene, am schwersten zugängliche und raueste Land der südlichen Hemisphäre – und eines der kältesten, wärmsten, windigsten und schwülsten«. Außerdem: der indianischste Staat Lateinamerikas. Mehr als 60 Prozent der 10,4 Millionen Bolivianer sind indigener Herkunft.

Die geplante Route (nur die Flüge sind vorab gebucht): Buenos Aires (Flugzeug) → Salta (Bus) → Jujuy (Bus) → Grenzübergang La Quiaca/Villazón (was mit Rädern) → 250 Kilometer durch Bolivien bis zur Salzwüste von Uyuni (was mit Rädern) → Salta (Flugzeug) → Buenos Aires

  • Erster Teil: Salta – Jujuy – Purmamarca

(cw) Saltas Plaza 9 de Julio mit ihren Palmen, Araukarien  und Johannisbrotbäumen  soll sehr hübsch sein, steht im Reiseführer. Ja ja, hübsch, das Plätzchen. Ich habe Hunger, und gleich geht die Sonne unter. Hach, bin ich gespannt auf die regionale Küche: Ob in Salta Superpanchos, die argentinischen Hotdogs, anders schmecken als in Buenos Aires?

(Herr T.) CW hat mich so schnell aus dem Hostel gescheucht, dass ich gerade noch meinen Rucksack abwerfen konnte. Bei Hunger kennt er kein Pardon.

Plaza 9 de Julio, Salta

Plaza 9 de Julio, Salta

(cw) Mein Superpancho mit geriebenem Käse, Mais, Oliven und zwei unbekannten Soßen aus Plastikspritzflaschen schmeckt besser als in Buenos Aires. Aber an die Dinger mit Avocadopaste in Santiago de Chile und Valparíso – dort completos genannt – kommt er nicht heran. Ich esse in meinem chilenischen Tempo, das Herr T. noch im Dezember 2012 als grotesk empfunden hatte. Ich zitiere: »Japsend, mehr schluckend als kauend, braucht er für einen ganzen completo keine 60 Sekunden.« Herr T. isst heute trotzdem schneller. Ich kann gar nicht so schnell gucken, wie der Superpancho zum Problem seines Verdauungsapparats geworden ist. Ich werde jedes Fressduell auf dieser Reise verlieren.

(Herr T.) Merke: »Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel. Der Teufel verändert dich!«

(cw) Herr T. hat keine innere Ruhe. Jetzt fängt er schon wieder damit an, dass er ganz schnell weiter will. Sein Ziel ist der Südwesten Boliviens mit dem Salar de Uyuni, der größten Salzwüste der Welt. Dabei haben wir doch so viel Zeit: elf Tage. Wir sind diesmal im Flugzeug angereist und haben uns so eine 24 Stunden und 1600 Kilometer lange Busfahrt von Buenos Aires nach Salta erspart. Warum hetzt der Kerl mich so?

(Herr T.) Fürs Protokoll: Es war CW, der es in seinem Gram schaffte, sowohl über das Zeit- als auch über das Geldersparnis zu seufzen, weil er ja lieber Busfahren wollte. Elf Tage sind schnell um (dachte ich jedenfalls). Außerdem: Wer, bitte, sorgt denn für Stress? Wer lässt im Taxi vom Flughafen Salta zum Hostel sein Mobiltelefon liegen?

(cw) Unser Taxifahrer, Mitte fünfzig, hatte erzählt, dass er seit 20 Jahren in Salta lebe, aber aus Buenos Aires stamme. Ein Porteño! So wie ich. Man erkennt sich, man mag sich, man versteht sich. Und vergisst alles um sich herum.

(Herr T.) Jedes Gespräch mit einem Fremden – wirklich jedes! – beginnt CW damit, dass er sich nach dem Lieblingsfußballklub erkundigt. »¡Che! ¿Tenes un equipo favorito? ¿Sos de Boca o de River?« Unser Taxifahrer war Fan von River; und CW gab sich entrüstet und wirbelte mit den Armen. Eine perfektionierte Geste. Dabei basiert doch sein ganzer Wortschatz darauf, die Todfeinde seiner geliebten Boca Juniors zu treffen. Er spult dann einstudierte Sätze ab. »Paaaah, una gallina! Millonario!« Ich frage mich, was passiert, wenn CW einen Boca-Fan trifft – dann hat er nämlich gar keine Worte.

(cw) Unser Taxifahrer, der Porteño, hat mir, dem Porteño, das Mobiltelefon selbstverständlich zurückgebracht.

(Herr T.) Ist doch sowieso nur eine Attrappe. Klingelt nie.

Übrigens hat CW auch in seiner Muttersprache einen rudimentären Wortschatz. Er kommt nahezu ohne Verben aus und beschränkt sich aufs Ausspucken von Substantiven, wenn er etwas sucht oder braucht und auf meine Hilfe angewiesen ist. »Cola!« – »Shampoo?« – »Scheiß Handtuch?« – »Dreckstelefon?« – »Kohle!« Jetzt, nachdem wir auf der Plaza 9 de Julio zu Abend gegessen haben, ruft er: »Mate!« Er braucht einen neuen Becher, weil er aus Buenos Aires keinen mitgebracht hat, und kauft schließlich einen silbernen Touristenmate von Salta.

(cw) Noch vorm Einschlafen denkt Herr T. an den Salar de Uyuni, und in der Nacht wirft er sich und her. Woher kommt eigentlich diese Wüstenfaszination bei den Deutschen? Hat die mit Rommel zu tun?

(Herr T.) Ich kann nur nicht schlafen, das ist alles. Wir haben zwar ein nettes Hostel gefunden und natürlich wieder die teure Pärchensuite genommen, weil CW ja nicht mit Fremden im günstigeren Achtmannzimmer übernachtet.  Aber unser Bett ist so eng, dass mich CW nachts mit seinen langen Fußnägeln kratzt.

(cw) Ja, tut mir leid, ich habe die Fußpflege in Buenos Aires nicht mehr geschafft. Länger als der Nagel vom großen Onkel rechts ist nur noch diese Nacht. Dafür sorgen auch die Kopfkissen, die eigentlich bezogene Gartenmöbelpolster sind: fünf Zentimeter flach und sehr hart. Ich erwache um fünf und bin trotzdem gleich topfit. Ich will jetzt Salta sehen. Die Argentinier nennen die Hauptstadt und ihre Provinz la Linda, die Schöne. Und für das Schöne bin ich ja immer zu haben. Aufstehen, Herr T.!

(Herr T.) Wer mit CW übernachtet, braucht keinen Wecker. Alles bereitet dem Mann Mühe: das Zähneputzen, das Duschen, das Anziehen. Er kämpft sich allmorgendlich ins Leben zurück und lässt mich gern daran teilhaben. Bei CW wird in den ersten 15 Minuten nach dem Aufstehen heftiger gestöhnt als in jedem zweistündigen Porno.

(cw) Zweistündige Pornos. Es gibt zweistündige Pornos?

(Herr T.) Ja. Hab ich jedenfalls gehört.

(cw) San Bernardo heißt der Stadthügel, 1458 Meter über Salta. Wir fahren mit dem Teleférico, der Seilbahn, hinauf. Oben erkennt man, was man unten bestreitet: dass in der achtgrößten Stadt Argentiniens 465 000 Menschen leben. Es ist ziemlich warm, und trotzdem treiben ein paar Irre Sport. Männer stemmen Gewichte, die Frauen fahren Hometrainer und machen Gymnastik. Ich schwitze schon vom Spannen.

(Herr T.) Ein bisschen Sport könnte CW nicht schaden. Dann müsste er nicht immer schwarze Klamotten tragen, um seine Fettpolster zu verbergen. Ich schlage also vor, dass wir am Stand mit der Aufschrift »Downhill« Mountainbikes mieten und uns den San Bernardo hinunterstürzen.  Das Tempo würde gleich CWs Falten glattbügeln.

(cw) Welche Falten? Vorschlag abgelehnt. Ich will gondeln. Herr T. geriert sich ja gern als Filmexperte; gucken wir mal, ob er mehr kennt als den Sauffurzundbumsklamauk der amerikanischen Collegefilme. He, Cineast: Filmtitel, in dem das Wort Gondeln steckt?

(Herr T.) Puh, war das schwer. Wäre es doch mit CW immer so einfach. Seit unserer ersten Tour nach Chile weiß ich, dass er sich gerne entblößt. Ich bin also nur mäßig überrascht und trotzdem erschrocken, als er sich auf der Abfahrt vom San Bernardo entkleidet. Alleine in einer engen Gondel, gefühlte 100 Meter über dem Erdboden mit einem halbnackten, zehn Jahre älteren Mann: Kein Wunder, dass wir von den anderen, die hinauffahren und ans uns vorbeiziehen, fotografiert werden.

(cw) Herr T. hat über seine Arbeit wieder einen Kollegen aufgetan, der sich um uns kümmern will – wie auf unserer ersten Reise René, der Superchilene. René hatte uns acht Stunden durch Santiago gefahren, ein Armenviertel und ein Museum gezeigt, uns abgefüttert und abgefüllt. Nun sagt ein gewisser Pedro am Telefon: »Kommt nach Jujuy, alles ist vorbereitet, ich warte am Busbahnhof.« Also brechen wir am nächsten Morgen mit dem Bus aus Salta in die Nachbarprovinz auf, ohne zu wissen, was uns in der Hauptstadt San Salvador de Jujuy erwartet. Wir brauchen keinen Plan. Wir haben Pedro.

Herr T. hat ein sehr dickes Reisebuch mit, es heißt Südamerika für wenig Geld und empfiehlt trotzdem nur Dinge, die dem Centavosfuchser aus Deutschland zu teuer sind. Auch umgerechnet acht Euro für eine zweieinhalbstündige Fahrt im Komfortbus findet er unangemessen. Ich lese, dass Jujuy im Unabhängigkeitskrieg eine wichtige Rolle gespielt habe. General Manuel Belgrano  – bis heute Volksheld und Legende – ließ alle Einwohner evakuieren, damit sie nicht gefangen genommen wurden. Der éxodus jujeño, der Auszug aus Jujuy, wird jedes Jahr im August eine Woche lang gefeiert.

(Herr T.) René war echt super; wir werden ihm eine Postkarte schicken. Aber jetzt ist Pedro-Zeit: Er steht, wie verabredet, am Busbahnhof – ähm, mit seiner Frau.

(cw) Unser éxodus jujeño dauert genau 35 Minuten. Herr T. wird von Pedro direkt zum nächsten Reiseschalter geführt. Unsere Tickets sind schon reserviert und müssen nur noch bezahlt werden. Herr T. zögert kurz – und öffnet dann sein Portmonee.

(Herr T.) Wir fahren nach Purmamarca.

(cw) Wohin? Pumucka?

(Herr T.) Pur-ma-mar-ca. Alte Inka-Siedlung.

(cw) Was sollen wir dort?

(Herr T.) Keine Ahnung. Irgendwen unbedingt treffen oder so. Hör auf zu fragen, Pedro guckt schon komisch.

(cw) Die restlichen 20 Minuten schlagen wir mit Nebeneinander-Rumstehen und Einander-Nichtverstehen im Bahnhofslärm tot. Zum Abschied sagt Pedro, dass uns Alfredo vom Bus abholen wird. Alfredo?

(Herr T.) Alfredo. Schnauze, CW!

(cw) Wir fahren von San Salvador de Jujuy direkt hinein in ein Weltkulturerbe der Unesco: die 150 Kilometer lange Schlucht von Humahuaca (Quebrada de Humahuaca), durch die einst die koloniale Postroute in die bolivianische Silberstadt Potosí  führte und heute die Nationalstraße 9. Höhe: 1900 bis 3400 Meter über dem Meeresspiegel.

(Herr T.) CW hat schon vorgesorgt und in Salta Kokablätter gekauft – in einem Souvenirladen, das Tütchen für fünf Pesos. Er riecht jetzt mitunter etwas streng, auch aus dem Mund, und schmatzt fröhlich.

(cw) »Die malerische Landschaft besteht aus farbenprächtigen kahlen Hügeln und winzigen Dörfern«, steht in Herrn Ts. Reisebuch. Meines hat natürlich ein ganz anderes Niveau: »Gesteine marinen Ursprungs aus dem Präkambrium und Paläozoikum mit meist recht dunkler Einfärbung von grünlichem bis bläulichem Grau oder kambrische Gesteine in Rosa, Grün und Braun.«

Fast zwei Drittel der mehr als 600 000 Einwohner der Provinz Provinz Jujuy sind Mestizen, also Mischlinge aus europäischen Einwanderern und Indianern, oder Nachkommen verschiedener Indianerstämme. Die so genannten Quechua-Bauern bauen vor allem Mais an und züchten magere Rinder.

(Herr T.) Mischlinge? CW, der Volkskundler und Abstammungsgelehrte! Aber über Rommel lästern. Nun ja, ich erkenne, dass wir meinem Ziel allmählich näher kommen. Argentinien sieht hier schon aus, wie ich mir Bolivien vorstelle: Die Häuser sind Lehmhütten, und die Menschen haben eine dunklere Haut. CWs Angeberbuch entnehme ich, dass – bevor die Spanier zwischen 1550 und 1580 die Region eroberten – hier die Völker der Omaguaca, der Tilcara und der Tilianes siedelten. Aha. Noch 170 000 ihrer Nachfahren sollen heute in dieser Berglandschaft leben.

(cw) Als wir eineinhalb Stunden später in Purmamarca ankommen, ist kein Alfredo da. Wir warten 45 Minuten, wir sitzen im Staub, weil kein Weg des Ortes befestigt ist, wir wollen uns auch nicht entfernen, es könnte ja Alfredo kommen, der nach zwei Männern sucht. Ich habe kurz die Vision, dass Purmamarca zu unserem Goa wird und wir nie wieder wegkommen. Jedes Mal, wenn deutsche Touristen mit dem Bus anhalten, sagt der Reiseführer: »Die beiden dort drüben mit den langen weißen Haaren, sehen Sie sie? Deutsche. Jeder kennt die hier. Jeder kennt ihre Geschichte. Die warten auf Alfredo. Seit 20 Jahren. Für ein Foto verlangen sie fünf Pesos.«

Um uns herum sind nur Hippies in bunten Hosen, mit Armbändern und aufgeschnallten Gitarren, unterwegs.

(Herr T.) Man möge CW das nachsehen, er ist ja schon älter und kennt die aktuelle Jugendkultur nicht mehr so richtig: Aber das sind keine Hippies. Das sind Backpacker. (Für CW: Rucksacktouristen.)

Wir schicken jetzt doch mal eine SMS: »Hallo Pedro! Sind gut angekommen. Purmamarca ist wirklich sehr reizend. Tolle Berge. Hat sich gelohnt. Klitzekleines Problemchen: Wo ist Alfredo?«

(cw) Und dann kommt ein Mann in Zeitlupentempo auf uns zu. Er scheint mir etwas sagen zu wollen, er öffnet die Lippen ungefähr zwei Millimeter und lässt etwas hindurch, mutmaßlich spanische Wörter, ich verstehe aber nur das letzte: alemanes. War es eine Frage? Ich nicke mal und folge ihm.

(Herr T.) Ich habe gerade den Berg der sieben Farben angestarrt und gar nichts mitbekommen. Im Gehen frage ich CW, ob das Alfredo sei. »Glaub schon«, sagt CW. Dann frage ich den Mann, der Alfredo sein soll: »Bist du Alfredo?« – »Sí.« Er ist nicht sehr gesprächig, er zeigt uns ein Haus, in dem wir uns irgendwann, heute oder morgen, ganz egal, einfinden sollen, um jemanden zu kennen zu lernen, er bringt uns in ein Zimmer und geht grußlos ab.

(cw) Ich schlage vor, dass wir uns jetzt den Berg der sieben Farben aus der Nähe anschauen. Wer glaubt: Der Legende nach soll Gott hier die Farben zur Erschaffung der Welt erfunden haben.

(Herr T.) Wir klettern auf einen Hügel, der gegenüber vom Farbenberg liegt, und machen Fotos. Ich muss wieder aufpassen, dass CWs großes Riechorgan nicht mit aufs Bild kommt, als er sich mit dem Rücken zu mir stellt und posiert. Übrigens auch eine ganz schöne Berglandschaft, seine Nase. Nur weniger farbenreich. Aber wenn die Sonne weiter so glüht, dann hat er sie morgen rot.

(cw) Dort unten ist das Haus, das uns Alfredo gezeigt hat. Gehen wir mal hin und schauen, wen wir kennen lernen sollen. Hoffentlich ist der Mann kein Fan der Boca Juniors. Aber vorher setze ich mir noch schnell – grüne Blätter in die linke Backe, bis sie sich beult – mein Kokagesicht auf.

Fortsetzung folgt

Nachtrag: Bei Herrn T. haben wir es übrigens erst bis Salta geschafft. Sein Text heißt »Reise nach Bolivien: Teil 1 – Salta-stisch« und beginnt so:

Der Flug war schnell um, die Gespräche drehten sich erneut um Politik (CW wollte mit Wissen glänzen), Frauen (CW wollte auf dem Laufenden bleiben) und Essen (CW hatte Hunger).

Bolivianisches Duell

von CHRISTOPH WESEMANN

Während meines zehntägigen Höhenflugs mit Herrn T. nach Bolivien zum Salar de Uyuni, der größten Salzwüste der Welt, die in der Regenzeit zum größten Salzsee der Welt wird, haben sich Arbeit und Vaterpflichten angesammelt. Herr T. und ich werden uns trotzdem recht bald zum Duellieren in unsere Dichterhöhlen begeben und dann hier – wie einst aus Chile – einen gemeinsamen Reisebericht abliefern. Bis dahin gibt es ein paar Bilder unserer Tour. Und um Zeilen und Zeit zu schinden, kopiere ich einen eigenen Facebook-Beitrag von gestern Nacht, obwohl mir Herr T., der Germanistikstudent, beim Frühstück zwei Grammatikfehler angekreidet hat. Pfffff, ich schreibe doch nicht für Germanisten. Jaja, Herr T. und ich können uns immer noch nicht leiden.

Welch ein Abschied aus Salta. Der letzte Abend der großen Reise: eine Argentinierin, ihre zwei erwachsenen Töchter und ein Deutscher, der schlaflos durchs Hostel streunt, ins Wäschewaschen am Hinterhofspülbecken platzt, halb bleiben will, halb bleiben soll und um 23 Uhr die selbstgemachte Pizza vom Grill abzulehnen versucht.

Die Señora schaut genau einmal, fünf Minuten vor Mitternacht, auf die Uhr, schenkt Cola nach und sagt: «Ach, ist ja noch früh.»

Natürlich wird über Politik geredet. Worüber denn bitte sonst?

Am Ende, um kurz nach zwei, noch lernen, worauf es beim argentinischen Streifkuss auf die Wange, dem beso, ankommt: nicht auf die Präzision. Was zählt, ist der Klang. Der beso muss zu hören sein.

Falls Ihnen zwischendurch langweilig ist, können Sie gern die Reportage lesen, die ich – vor meiner Abreise – für die Schweriner Volkszeitung über die Argentinien-Tour junger Bläser aus Mecklenburg-Vorpommern geschrieben habe.

Auszug:

Es passt eigentlich ganz gut, dass Konrad Söffky gerade an diesem Morgen die Brille in seine Tuba gefallen ist. Jorge Ludueña wird sich am Abend darum kümmern. Der Argentinier baut und repariert Trompeten, Tubas und Hörner seit seinem elften Lebensjahr. Inzwischen ist er 72 und hat die elf Musiker vom Jungen Bläserkreis Mecklenburg-Vorpommern zu sich nach Hause eingeladen. »Jorge ist der René Favaloro der Blasinstrumente«, sagt Martin Huss, der Landesposaunenwart der Nordkirche. Favaloro, Argentiniens berühmtestem Arzt, gelang 1967 die erste Bypass-Operation am Herzen. Jorge Ludueña soll nur die gelbe Plastikbrille aus der Tuba holen, die Konrad Söffky trägt, wenn sie »Der rosarote Panther« spielen.

Vieles ist anders, und deshalb klappt noch nicht alles. Aber die dreiwöchige Tour durch Argentinien – mit einem Abstecher nach Chile – beginnt für die sieben Mädchen und vier Jungen auch gerade. Die erste Probe nach der Ankunft in Banfield, einem Vorort von Buenos Aires, empfand Chorleiter Martin Huss als »Katastrophe«. Seine Bläser standen unter der Eiche, die Huss’ Vater 1939 als Pflänzchen mit aufs Schiff genommen hatte, als er mit seiner ungarischen Frau Deutschland verließ, um fortan in Argentinien zu arbeiten und zu leben. Huss, Jahrgang 1960, eine Riese von 1,95 Meter, liebt diesen Baum, und er liebt das Haus davor, in dem er mit fünf Brüdern und seiner Schwester Ili aufgewachsen ist. Ili lebt bis heute hier, und jetzt ist das Haus endlich wieder voll.

Martin Huss ließ Stücke anspielen, er unterbrach und beschwerte sich, dass die hohen Töne »klappern«, er sang »da-da-di« und »dagga-dagga-daaa«, so sollte es klingen, er sang »traka, traka, trika, trika, tru« – und so bitte nicht. Bei »Schlomo tanzt«, einem Stück, das der Bläserkreis noch nie im Konzert gespielt hat, hörte der Dirigent »Intonation null« und korrigierte sich dann auf »minus 15«. Weiterlesen (pdf)

Epilog: Nie wieder nicht

von CHRISTOPH WESEMANN

Hätten am letzten Abend, als wir am Strand von Valparaísos Nachbarort Viña del Mar den Sonnenuntergang erwarteten, nicht diese drei chilenischen Jungs versucht, uns zu beklauen, wäre Herr T. wahrscheinlich noch viel genervter von mir gewesen.  Aber so war ich nur auf Platz vier. Herr T. ärgerte sich weniger über die Absicht des Trios, uns ein paar Sachen abzunehmen, sobald wir ins Wasser gegangen wären. Wütend machte ihn vor allem, dass die Bande von Kleinganoven – keiner älter als 14! – hinter unserem Rücken vor anderen Badegästen damit geprahlt hatte, uns auszurauben. Dass sie sich ihrer Sache so sicher war. Dass sie keinen Respekt vor uns hatte. Dass sie uns für so dämlich hielt.

Viña del mar

Ach Chile! Ich wurde ja als Argentinier gelegentlich diskrimiert. Einmal verstand mich die Frau am Metroschalter absichtlich nicht, so dass der urdeutsche Herr T. unsere Fahrkarten nach Viña del Mar kaufen musste. Dort angekommen, war es mir unmöglich, den Bahnhof zu verlassen. Wieder und wieder führte ich meine Metro-Chipkarte am Ausgangsdrehkreuz ein, um den Fahrpreis abbuchen zu lassen und gehen zu dürfen. Nichts geschah. Hinter mir ein Stau von neunmalklugen Chilenen: »Need money!« Längst auf der Treppe, schon beschienen von der Sonne, der grinsende Deutsche. Pure Schikane eines Argentiniers, gespeist offenbar aus einem chilenischen Minderwertigkeitskomplex. Irgendwann handelte ich mich am Schalter frei und durfte außen ums Drehkreuz herum.

Vorgeschichte und erster Teil: Exil in Chile

Zweiter Teil: Drei Erdbeben, zwei Deutsche und ein René in Chile

Dritter Teil: Die Vermessung des Paradiestals

◊◊◊◊◊

(Der dritte Mann) Und, meine Herren, verreist ihr noch mal gemeinsam?

(cw) Mit dem?

(Herr T.) Nie wieder!

(Der dritte Mann) Paraguay?

(Herr T.) Wann?

(Der dritte Mann) Vielleicht im Februar.

(cw) War ich noch nie, in Paraguay.

(Herr T.) Ich auch nicht.

Müll, Zoff, Erbrochenes

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T., der Streber, hat natürlich noch einen eigenen Chile-Reisebericht angefertigt. Nicht drei Teile, sondern fünf Kapitel: Die Fahrt, Die Ankunft, Von Bergen und Kraken, Hola Linda!, Paradiestal.

Meine drei Lieblingsstellen:

In der Fußgängerzone kauft sich CW einen … ich weiß gar nicht richtig, wie das heißt. Ah! Mote con Huesillos. Danke Wikipedia! Es handelt sich dabei um einen Saft aus Getreide, mit Getreide und Pfirsich. Wie wild trinkt CW den Saft, rührt das Getreide jedoch nicht an. Es sei ihm suspekt, sagt er. Warum dann überhaupt kaufen? Ich esse es auf.Es schmeckt nach nichts, Konsistenz von Müsli. CW will sich später noch einen kaufen, sieht aber, wie ein Obdachloser sich selbst einen Becher mixt und stellt dann erschreckend fest, dass Mote con Huesillos in seiner Optik von Erbrochenem nicht zu unterscheiden ist.   Nun spuckt er aus, sobald wir einen Stand passieren. (…)

Mit CW gehe ich noch essen, wir plaudern. Man versteht sich. Ist das etwa Harmonie?Am Abend bin ich erschöpft. Zu viele Eindrücke, zu viel CW die letzten Tage. Ich schlafe mit Klamotten auf meinem Bett ein. Im Halbschlaf höre ich CW mehrfach fordern, mich doch bettfertig zu machen…Ich wache mitten in der Nacht auf. Um mich herum Müll, den er mir scheinbar ins Bett geworfen hat, um seinen vorherigen Argumenten Ausdruck zu verleihen. Danke Cw! (…)

An der Grenze das große Drama. CW schreit mich an. Ich hätte seine letzten Sandwiches gegessen. Habe ich auch. Aber warum schreit er mich an? Habe ich ihn doch vorher darauf hingewiesen, dass er die essen müsste, bevor wir an die Grenze kommen, grunzte nur zurück, dass ich machen solle, was ich will… Er müsse arbeiten…

Reisebericht (III): Die Vermessung des Paradiestals

von CHRISTOPH WESEMANN

Die letzten Tage in Chile. Langsames Abschiednehmen für unsere zwei Helden, von unseren zwei Helden. Vorher aber noch ein Aufbruch: Valparaíso! Das Paradiestal, bejault von Sting, ein Sehnsuchtsort, den der Liedermacher Reinhard Mey seine Ulla, die durchgebrannte Jugendliebe, nie erreichen lässt. Die Vermessung der Welt wird als bekannt vorausgesetzt, Wandererfahrung ebenfalls.

Auf dem Gipfel

Vorgeschichte und erster Teil: Exil in Chile

Zweiter Teil: Drei Erdbeben, zwei Deutsche und ein René in Chile

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  • Mittwoch: Santiago → Valparaíso

(cw) Ich komme endlich dazu, die Wikipedia-Einträge über Chile und Santiago zu lesen; ich habe sie nicht ausgedruckt, sondern zu Hause in Buenos Aires im pdf-Format gespeichert und dann auf meinen Kindle gepackt. Ich würde mich wie ein Nerd fühlen, wären da nicht die Schriftgröße (dreipunktfünf) und Herr T. Der ist richtig multimedial. Vor drei Tagen im Bus hat er mit seiner Kamera die Anden geknipst (meine ist größer!), mit seinem Smartphone gefilmt (beide gleich groß), mit mir geplaudert (mehr Unsinn von ihm) und bekanntlich meinen Mate gehalten. Das wirkt auf mich so übermenschlich, dass ich manchmal denke: Herr T. ist ein Avatar.

Blick auf Valparaíso vom Hügel Bellavista

Ich lese, dass der Erfinder des Fallrückziehers ein Chilene war, weshalb der Fallrückzieher in Südamerika auch la chilena heißt. Außerdem hat Chile das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Kontinents und ist von Norden nach Süden 4300 Kilometer lang. Das Land hat 15 Regionen, die mit römischen Zahlen durchnummeriert sind, wobei es die 13 nicht gibt. Ich nehme an: Aberglaube. Santiago ist übrigens die Partnerstadt von Buenos Aires und Kiew. Und man erreicht von der Hauptstadt den Pazifik zum Baden genauso schnell wie die Anden zum Skifahren.

Aber jetzt sind wir schon in Valparaíso, der berühmten Hafenstadt, 120 Kilometer oder zwei Busstunden entfernt von Santiago. Haben wir denn schon ein Zimmerchen, Herr T.?

Standseilbahn zum Bellavista

(Herr T.) Jetzt zitiert er auch noch ständig Wikipedia-Einträge. Naja, manchmal doch ganz interessant.

Wir sind gerade auf dem Hügel Bellavista gewesen, den man mit einer Standseilbahn erreicht. Nun laufen wir bergab und wollen im Pazifik baden. Wo lang? CW quatscht einen älteren Herrn an, der in seinem Vorgarten die Rosen gießt. Es wird nicht klar, wer wen mehr braucht und redseliger ist. Keiner der beiden Männer scheint einen Frisör zu haben (bei CW ist’s offensichtlich), um sich mal auszusprechen. Jeder wirft dem anderen seine halbe Lebensgeschichte über den Gartenzaun.

(cw) Der Mann versteht unseren Wunsch, baden zu gehen, einfach nicht. Also, entweder ist er ein bisschen schwer von Begriff. Oder der Pazifik ist noch nicht so warm, wie wir glauben.

(Herr T.) Ich mache eine furchtbare Entdeckung: CW ist Exhibitionist! Kaum am Strand angekommen, entkleidet er sich. Aus Rücksicht auf die anderen Strandbesucher biete ich CW an, ihm das Handtuch zu halten. Doch er lehnt bestimmt ab und wechselt schutzlos Badehose gegen Schlüpfer. Weitere Details erspare ich mir.

(cw) Ich bin doch keine 16 mehr. Und außerdem verheiratet.

(Herr T.) CW steht jetzt bis zum Knie im Wasser, weit und breit kein anderer, kommt aber nicht so richtig voran. Ich mache kurz die Augen zu, und als ich nach fünf Minuten wieder den Kopf hebe, taucht CW für einen Wimpernschlag bis zur Brust ab. Dann sprintet er heraus, zieht mir mein Handtuch weg und winselt.

Zentrale der chilenischen Marine

(cw) Fest steht: Schwer von Begriff war der Alte am Gartenzaun nicht. 13 Grad, höchstens 14. Die chilenische Marine hat in Valparaíso übrigens ihr Hauptquartier. Und immer am 21. Mai ist der Staatspräsident in der Stadt, um vor dem Nationalkongress zu sprechen, der am Ende der Pinochet-Diktatur hierher verlegt wurde.

(Herr T.) CW und sein fundiertes Halbwissen. Ich geh dann auch mal planschen.

(cw) Wie heißt dieser Vogel, der immer auf einem Bein steht? Richtig. Herr T. macht jetzt den Flamingo und hebt abwechselnd ein Bein aus dem Wasser. Er geht nicht weiter. Großer Fehler. Nach drei Minuten im Pazifik beginnen die Beine fürchterlich zu brennen, man spürt die Füße kaum noch. Drei Meter neben Herrn T. taucht ein Chilene ab und fünf Meter weiter wieder auf, macht einen Handstand und treibt eine Weile auf den Rücken. Ich glaube, gleich rasiert er sich. Herr T. sieht sich um, schaut erst zum Horizont und dann eine Ewigkeit auf die Wasseroberfläche; entweder hat er irgendwas verloren, oder kommt von seinem Spiegelbild nicht los, der Pfau.

Der Chilene schwimmt jetzt ein bisschen raus. Herr T. kommt raus, die Badehose staubtrocken, wird von mir mit Hühnerlauten empfangen und dreht gleich wieder um. Und dann ist er tatsächlich mit dem Kopf unter Wasser. Das Ein- und Auftauchen geschah ein bisschen zu schnell für meine Augen, sind ja gerade auf 3punkt5 eingestellt. Aber ich denke, wir können den Versuch werten.

(Herr T.) Woher soll ich wissen, dass das Wasser wirklich so kalt ist? CW übertreibt doch sonst immer.

(cw) Eine Stunde gemeinsam schweigen.

(Herr T.) Endlich.

Große Melonen

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  • Mittwochabend: Valparaíso

(cw) Wikipedia schwärmt von der Altstadt mit den Künstlervierteln Alegre und Concepción, die auch auf einem Hügel liegen. Auf geht‘s!

(Herr T.) Wir haben die ersten 100 Treppenstufen gemeistert, als ein Wunder geschieht. Zum ersten Mal auf dieser Reise – vielleicht auch in seinem Leben, wer weiß das schon? –, sagt CW die Wahrheit. Im Angesicht des Uniformierten, der uns aufhält, behauptet er nicht länger, ein Argentinier oder gar ein Porteño zu sein.

»Wo kommt ihr her?«, fragt der Polizist.

»Wir sind Deutsche«, sagt CW wie aus der Pistole geschossen und fügt ganz leise, kaum verständlich hinzu: »Aber ich lebe in Buenos Aires.«

Der Polizist schickt uns zurück. Viel zu gefährlich für Touristen um diese Uhrzeit, sagt er. Zittert der falsche Porteño? CW wird fortan ständig auf der Hut sein, sich umsehen und manchmal vor seinem Schatten erschrecken.

Treppen

(cw) Ich habe dem freundlichen Polizisten ja gleich die Hand geschüttelt, ich meine, ich habe gewissermaßen Brücken gebaut – über zwei Kontinente und zig Kulturen hinweg. Der Ordnungshüter und ich waren kurz davor, ein Bier trinken zu gehen. Herr T., der Untertan, aber hat mit seinen handschellensüchtig nach vorn gestreckten Armen alles zerstört.

(Herr T.) Brücken bauen? CW hätte den kaputten Bürgersteig neu pflastern können, so tief hat er gekniet. Na ja, wir nehmen’s sportlich und drehen um, gehen die 100 Stufen wieder hinab, laufen eine Straße weiter und gehen wieder 100 Stufen hinauf.

(cw) Es hat sich gelohnt, wir entdecken ein tolles Restaurant mit Terrasse in luftiger Höhe und schauen, wie die Sonne im Pazifik versinkt.

Herr T. übersieht geiles Restaurant (links).

(Herr T.) Ach ja, wir haben ein Zimmer, wieder in einem Hostel, wieder viel zu teuer, aber diesmal beherrscht von einer strengen Herbergsmutter statt von netten Damen aus Deutschland. CW hat sie schon kennen gelernt, als er am Nachmittag mit der Kreditkarte unsere zwei Übernachtungen bezahlen wollte. Die Alte holte tief Luft, bleckte ihre Zähne und schnaufte: »Solo en efectivo!« Frei übersetzt: Nur Bares ist Wahres.

(cw) Ich beginne, Die Vermessung der Welt zu lesen.

(Herr T.) Ich begrüße CWs Interesse an den Büchern Daniel Kehlmanns.

◊◊◊◊◊

  •  Donnerstag: Valparaíso

(cw) Auf zum Haus des größten chilenischen Dichters. Jeder in diesem Land kann angeblich ein Gedicht von Pablo Neruda (1904-1973), dem 71er-Literaturnobelpreisträger, zitieren. Auf nach Isla Negra! Wo die Menschen sind. Viele Menschen! Oder doch nicht? Ach, wir geben uns heute zivilisationsmüde, wir laufen lieber los in die Einsamkeit, kehren der Stadt den Rücken, wollen hoch bis zum letzten Haus auf einem dieser Hügel.

Paradies im Tal

(Herr T.) Schon wieder Wikipedia. Und nun auf den Berg? Ich habe keine Ahnung, was das soll.

(cw) Ich führe die Expedition an.

(Herr T.) Die sonnenverbrannte Nase des Expeditionsführers beginnt zu pellen. Sein Hemd ist am Rücken nass. Wir sind erst 20 Minuten unterwegs und schnaufen schon. Taxis fahren an uns vorbei und kommen fünf Minuten später von oben zurück.

(cw) Immer weiter! Es tut so gut. Ich fühle mich wie Alexander von Humboldt. Ich würde gern ein paar Pflanzen aufschneiden. Der Ojos del Salado, mit 6893 Metern der höchste Berg Chiles, ist übrigens auch der höchste Vulkan der Welt. Vielleicht besteige ich den heute auch gleich noch. Immer weiter! Immer weiter!

Aufstieg

(Herr T.) Zum Schrecken der Chilenen, die uns kritisch beäugen, entkleidet sich der Expeditionsführer jetzt und präsentiert seine Hühnerbrust.

(cw) Die ersten Telefone des Landes gab es 1880 übrigens in Valparaíso. Bis 1914, als der Panamakanal eröffnet wurde, war Valparaíso der erste größere Hafen, den Schiffe ansteuerten, nachdem sie Kap Hoorn gemeistert hatten. Die Oberleitungsbusse von Valparaíso sind heute die letzen ihrer Art in ganz Chile. Rodrigo Andrés González Espindola ist in Valparaíso geboren. 1968. Rod! Die Ärzte! Und ein schwarzer Hund läuft uns hinterher.

(Herr T.) Goethe hat zu Recht seinem Mephisto die Gestalt eines schwarzen Hundes gegeben. Irgendwas stimmt mit dem Tier nicht. Mit CW sowieso nicht. Wieso quatscht der eigentlich so viel? Ärzte? CW wird doch nicht schlappmachen, oder? Ich krieg hier doch niemals einen Krankenwagen hoch.

Herr T. fingert nach rotem Auto.

Am roten Auto

(cw) Ein Kiosk, vermutlich die letzte Verpflegungsstation vor dem Gipfel. Ein Junge spielt Fußball gegen den Berg. Er tritt den Ball und wartet, dass er zurückrollt. Herr T. hält ein Schwätzchen mit der Kioskbesitzerin und kauft Cola. Der Kerl ist ja wirklich mit allen Abwassern gewaschen. Hat er wahrscheinlich bei der Tour de France gesehen: Cola vor dem letzten Anstieg gibt noch mal einen richtigen Schub.

(Herr T.) CW hat sich inzwischen mit dem Jungen bekannt gemacht. Sie spielen Fußball miteinander, der Junge schießt bergauf, CW bergab. Man muss sich das vorstellen: Dieser Junge wird wahrscheinlich niemals Deutschland sehen. Sein Bild von Deutschland, das ihn ein Leben lang begleiten wird, ist dieser Mann. Wenigstens hat CW sein Hemd wieder angezogen.

  Alexander von Humboldt (am Ball) mit Alejandro

(cw) Wenn das kein Zeichen ist: Der Junge heißt Alejandro. Alexander! Und er ist Fan des Klubs Colo-Colo, von dem ich in Santiago für meinen Sohn und mich Trikots gekauft habe. Ich frage ihn, wie oft der Ball schon den Berg hinabgerollt sei. Er weiß es nicht.

(Herr T.) Oh je, der Aufstieg ist echt nicht ohne. Ich muss mich selbst daran erinnern, mich hin und wieder umzudrehen, um die Aussicht zu genießen. Aus Asphalt wird Sand, aus Straßen werden Feldwege. Je höher wir kommen, desto provisorischer werden die Häuser. Je höher wir kommen, desto verständnisloser schauen die Leute. Wo wollen die Zwei bloß hin?

(cw) Wenn ich stehen bleibe, zittern meine Beine. Ich frage Herrn T. jetzt alle 500 Meter, wie er heiße. Herr T., sagt er, so heiße er. Er scheint noch fit zu sein. Der Expeditionsführer in mir ist beruhigt. Keine Verluste.

Hund wech

(Herr T.) Mir scheint, CW steigert sich da in etwas hinein.

(cw) Der Hund bleibt zurück. Ganz plötzlich. Den Hund, sagt Herr T., habe er nie leiden können.

(Herr T.) Endlich bleibt das Viech zurück. Ich hatte schon Angst, dass CW es mit ins Hostel nehmen will. (Ich hab den Hund noch nie leiden können.)

(cw) Ich mache mir Vorwürfe, ich hätte dem Hund etwas von meinem Wasser geben müssen. Ich habe ihn nicht gut behandelt. Den Hund, sagt Herr T., habe er nie leiden können.

(Herr T.) Jetzt faselt der seit einer Viertelstunde nur vom Hund. Ich will endlich oben ankommen. Unser Wasservorrat wird knapp. Die Flasche ist fast leer. Und die Sonne kennt wirklich keine Gnade.

Letzte Meter

Fast oben

(cw) Die letzten Meter. Rechts und links nur noch Hütten, an deren Türen manchmal ein Weihnachtsmann hängt. Ich schaue zurück und meine, den Hund ganz weit entfernt zu sehen. Von überall Gebell. Den Hund, sagt Herr T., habe er wirklich nie leiden können.

(Herr T.) Weihnachtsdekoration bei den Temperaturen hat etwas Seltsames. Es passt nicht ins Bild. CW legt erstaunliches Tempo vor. Plötzlich bleibt er stehen und versucht, ein Foto zu machen. Ich frage ihn, was so lange dauert. Es tue ihm leid, sagt er, aber er habe Schwierigkeiten, sich zu sammeln.

Ganz oben

Ganz oben 2

(cw) Mein Leben zieht an mir vorüber. Der Kleinstadtjunge, der immer Unterschätzte, der Ungeliebte, Verstoßene, Ausgestoßene, Abgestoßene, für verrückt Erklärte, der Unterdrückte, Weggedrückte, der Ungewollte, fortwährend Ausgelachte, der schaut jetzt herab auf Valparaíso und steht auf dem Dach der Welt. Hahahahahaha! Vielleicht vertrage ich auch einfach die Höhenluft nicht. Oder habe einen Sonnenstich.

(Herr T.) Ein paar Meter haben gefehlt, wir waren nicht ganz oben. CW sagt, wir könnten behaupten, ganz oben gewesen zu sein.

(cw) Das habe nicht ich gesagt.

Epilog folgt.

Reisebericht (II): Drei Erdbeben, zwei Deutsche und ein René in Chile

von CHRISTOPH WESEMANN

Nicht mal eine Woche für Chile. Nur drei Tage für Santiago. Immer an der Oberfläche treiben. Touristenschicksal. Unsere zwei Helden versuchen es jetzt doch mal: bisschen tiefer rein, unter die Oberfläche. Auf geht’s!

(Vorgeschichte und erster Teil)

  • Dienstag: Santiago

(cw) Herr T. sucht immer Anschluss. Im Hostel hängt er dauernd mit den deutschen Mädels herum. Ich meide ja solche Kontakte, weil ich mittlerweile so tief ins Latinospanisch eingetaucht bin, dass mir in meiner Muttersprache manchmal die Wörter nicht mehr einfallen. Vor unserer Abreise aus Buenos Aires hat Herr T. in diesem Internetforum namens Couchsurfing sogar der chilenischen Jugend mitgeteilt, dass wir bald in Santiago seien. Er wollte wohl eine kostenlose Stadtführung schnorren.

Jetzt hat er einen Chilenen aufgetrieben, den er über seine Arbeit kennt.

(Herr T.) Wir brechen auf zum Treffen mit René, einem freundlichen Chilenen, der uns einen Tag lang herumführen wird. In seinen Mails hat er uns einen Ort versprochen, den Touristen nur selten aufsuchen würden. Es stellt sich heraus, dass er den Hügel San Cristóbal meinte, den wir gestern bereits besucht haben. Also fahren wir erst einmal in sein Büro. René arbeitet für die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal).

(cw) Habe ich schon erwähnt, dass Herr T. versprochen hatte, alles perfekt zu organisieren?

(Herr T.) René ist ein Charmeur. Sämtliche Damen werden als »die wichtigste Frau in der Firma« bezeichnet und stets mit »¡Hola Linda!« (»Hallo, Hübsche!«) begrüßt. CW, der Latinospanischtiefentaucher, nimmt mich zur Seite: »Findest du das nicht seltsam, dass hier alle Weiber Linda heißen?«

Ich antworte nicht.

René und Herr T.

chile 2

(cw) Eine Runde Landeskunde: René erzählt, dass es in Chile keinen Rassismus gebe, sehrwohl aber einen Klassismus – die Ober- und Mittelschicht schaue herab auf die Unterschicht, Hautfarbe und Herkunft egal. In Südamerika sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich sehr groß, viel größer als in Europa. Doch nirgendwo auf dem Kontinent sind sie groß wie in Chile.

(Herr T.) René fährt mit uns in ein Armenviertel. Er will uns einen Kindergarten zeigen, der Anfang der neunziger Jahre als soziales Projekt entstanden ist. René hat ihn damals mit aufgebaut und schaut immer noch oft vorbei. Diesmal bringt er einen Computermonitor mit. Die ersten Kinder, die in dieser Einrichtung einen festen Tagesablauf, ordentliche Mahlzeiten und Bildung bekommen haben, sind heute erwachsen. Manche studieren. Und aus einigen Mädchen dieses Kindergartens sind Erzieherinnen dieses Kindergartens geworden.

René ist bekannt in diesem Viertel. Trotzdem befestigt er, bevor wir aussteigen, eine Kralle am Lenkrad seines Autos.

Armutsviertel

(cw) Schwarzhaarige Kinder begrüßen uns. Sie fremdeln ein wenig, aber das muss man verstehen: Da kommen zwei Männer mit sonnenverbrannten Fressen, und ein paar Süßigkeiten hätten sie wenigstens mitbringen können.

(Herr T.) Es ist sehr idyllisch. Ein kleiner Hof. Sehr gepflegte Gruppenräume. Kinderbilder an den Wänden. In einem Büro sitzt eine junge Frau. Sie verbringt ihr Freiwilliges Soziales Jahr hier und ist natürlich aus Deutschland.

(cw) Herr T. horcht sie gleich mal aus.  Sie schaut genauso verängstigt wie eben die Kinder.

Wenn René Männer anspricht, nennt er sie entweder amigo oder maestro – je nach Bekanntheitsgrad. Der Bürokollege ist amigo – der Parkhauswächter maestro; der Polizist und der Tankwart auch. Und alle Frauen heißen Linda.

Armutsviertel

(Herr T.) Als wir wieder im Auto sitzen, flüstert mir CW zu, dass wir noch die Menschenrechtssituation in Chile ansprechen müssten. Da lasse ich ihm gern den Vortritt.

(cw) Ich bin erleichtert: Wir besuchen das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte (Museo de Memoria y los Derechos Humanos). Es ist ein Wahnsinnsbau, riesengroß, lichtdurchflutet, museumspädagogisch vorbildlich mit vielen Originaldokumenten und Filmaufnahmen aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990). Und berührend ist dieser Ort auch. An einer Wand hängen Schwarzweißfotos der Ermordeten, manche nicht älter als 13 oder 14. Und da sind die Kinderbilder aus der Zeit, als in Chile der Staat gefoltert und verfolgt und getötet hat. Gefängnisse und Strichmännchen mit Pistolen sind zu sehen. »Tengo mieda a que se muera mi mama«, hat ein Mädchen über sein Bild geschrieben. »Ich habe Angst, dass meine Mama stirbt.«

Museum

Wir stehen vor einem Bild des Fotografen Lucho Navarro. Es zeigt eine Bergruine von Lonquén. Dort, am Geburtsort des chilenischen Volkssängers Víctor Jara, selbst ein Opfer der Diktatur, fand man 1978 die Überreste von 15 ermordeten Männern. Sie waren fünf Jahre zuvor verhaftet worden und danach verschwunden.

(Herr T.)

Diese Entdeckung schockierte die Öffentlichkeit damals und wurde zu einem Meilenstein in der Geschichte der Verfolgten und Verschwundenen von Chile. Es war eines der ersten Fotos, das die Militärdiktatur von General Augusto Pinochet entblößte.

(cw) Am Ende stehen wir vor einem Fernseher und schauen, wie das Volk im Nationalstadion die Rückkehr zur Demokratie feiert – in jenem Stadion, das in den ersten drei Monaten der Diktatur als Konzentrationslager für politische Gefangene genutzt wurde und Spielstätte des Vereins CF Universidad de Chile und der Fußballnationalmannschaft ist. »Typisch Chile«, sagt René.

Augusto Pinochet ist heute zwar nur noch etwas für Ewiggestrige, aber ein Besuchermagnet scheint das Museum trotzdem nicht zu sein. Ein paar Schulklassen sind unterwegs – und wir.

(Herr T.) Ewiggestrige, soso. Übrigens wird sich CW gleich morgen in Valparaíso eine Pinochet-Kaffeetasse kaufen. Und weil die von Pinochets demokratisch gewähltem Vorgänger Salvador Allende gleich daneben steht, kauft er die auch noch. CWs Humor.

(cw) Im Ausgang beginne ich einen Streit mit René. Er lädt uns zu allem ein, er hat das Mittagmenü samt Kaffee danach bezahlt und fährt uns jetzt seit fünf Stunden durch die Gegend. Ich wehre mich und bestehe darauf, dass das Abendessen auf unsere Rechnung geht. Herr T., german Geizhals, ist natürlich gerade jetzt sehr schweigsam.

(Herr T.) CW hat schon am Mittag bei René Chiles Nationalgericht Cazuela bestellt, eine kräftige Suppe mit Hühnchen und Maiskolben, und dann später noch mehrmals nachgefragt. CW denkt ja pausenlos ans Essen. Er scheint immer hungrig zu sein. Und wenn er gerade nicht hungrig ist, ist er durstig. Richtig übel wird‘s, wenn er hungrig und durstig ist.

(cw) Muss denn die Parkplatzsuche so lange dauern?

(Herr T.) Als René rechts ranfährt, stehen gleich zwei Polizisten an seinem Fenster. Er sagt: »Ich komme aus einem anderen Viertel. Darf ich hier parken? Ich habe zwei Deutsche im Auto.« Er darf.

(cw) Ich gebe zu: Es wäre für die Menschheit eine große Erleichterung, wenn ich tagsüber an einen Tropf angeschlossen wäre.

(Herr T.) Wir sind in einer Art Hinterhofbiergarten gelandet. In lauter und fröhlicher Atmosphäre werden uns Fleischgerichte serviert, deren Namen oder Zubereitung ich nicht annähernd verstehe. Am Nachbartisch feiert eine Chilenin ihren 23. Geburtstag. CW bekommt seine Cazuela und wirkt für einen Augenblick zufrieden mit sich, der Welt und mit mir.

(cw) Ein bisschen schmuddelig ist es hier schon, sagt mein Verstand. Mein Magen widerspricht ganz energisch. »Es horrible, pero es chileno«, sagt René. »Es ist schrecklich, aber chilenisch.« Dann fordert er das Geburtstagskind vom Nachbartisch zum Tanzen auf.

Terremoto

(Herr T.) Unser Gastgeber bestellt für uns das Getränk El Terremoto (Das Erdbeben), eine Mischung aus Fernet, Weißwein und Vanilleeis, das über einen Strohhalm zu sich genommen wird. CW flucht. Er könne das nicht trinken, sagt er, da er sonst einen wahnsinnigen Schädel kriegen würde.

(cw) Um diese Zeit, es ist kurz nach halb acht, hätte ich schon bei Vanilleeis mit Vanille Bedenken. Aber El Terremoto, das sieht aus und schmeckt nach schweren Verwüstungen und stundenlangen Aufräumarbeiten in meinem Körper.

(Herr T.) »Sei höflich und trink aus«, flüstere ich streng. Am Ende wird mir sogar noch ein zweiter Terremoto spendiert. Der Name erweist sich als sinnvoll. Leicht torkelnd verlasse ich das Restaurant und stelle mich an einen Buchstand.

Ich komme mit dem Händler ins Gespräch, der ein wenig Deutsch versteht. CW steht hinter mir, erneut genervt, auf seine nicht vorhandende Uhr schauend. Sein Mund formt still das Wort, das ihn immer zur Eile zwingt: »Toilette«. Ich verabschiede mich vom Buchhändler und erhalte sogar eine Visitenkarte.

(cw) Herr T. verehrt Johann Wolfgang von Goethe. Ganze Verse von Faust kann er herunterbeten. Bei mir ist aus Schulzeiten – warum eigentlich? – nur »der Geist, der stets verneint« hängen geblieben. Ich halte Goethe insgesamt für überschätzt.

Jetzt hat Herr T. endlich Fausto gekauft, den Faust auf Spanisch. Er ist schwer glücklich und leicht betrunken.

Ich bekomme Kopfweh.

Fortsetzung folgt.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)