Die SMS kam um 5.22 Uhr. »¿Kicillof Ministro de Economia? ¿A qué hora es el próximo vuelo?«, schrieb der argentinische Freund. »Kicillof Wirtschaftsminister? Wann geht der nächste Flug?«

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Sechs Wochen nach ihrer Kopfoperation und einer von Ärzten verordneten Bettruhe war Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner am Montagabend dem Volk zum ersten Mal wieder leibhaftig erschienen. Über Twitter verschickte sie einen Link zu einem sieben Minuten langen Homevideo, das ihre Tochter Florencia aufgenommen hatte. Das Filmchen zeigt Cristina auf einem weißen Ledersofa, mit Hund (echt) und Pinguin (unecht).

»Florencia, können wir anfangen?«

»Ja.«

»Soll ich in diese Kamera dort gucken oder in deine?«

Ach, schau mal, was die Präsidentin trägt – oder besser: was nicht. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes und Amtsvorgängers Néstor vor drei Jahren hat Cristina Kirchner darauf verzichtet, sich ganz schwarz anzuziehen. Ihre zur Schau gestellte Dauertrauer, das Wegwischen von Tränen, sobald sie von ihm sprach – es war vielen längst auf die Nerven gegangen. Nun eine weiße Bluse, immerhin.

»Man fährt zu einer Routinekontrolle des Herzens, und plötzlich sagen sie dir, du musst dich am Kopf operieren lassen…weißte, was weiß ich…jeder hat Operationen, aber weißte…der Kopf ist etwas wie…die Sache ist…das Köpfchen ist das Köpfchen, wie mein Opa sagte.« Cristina spricht, als säße ihr der Nachbar gegenüber, der in ihrer Abwesenheit die Blumen gegossen hat. Wie so oft wirkt sie vollkommen überdreht.

Es wird noch absurder. Cristina steht auf, macht eine Karategeste, um zu unterbrechen, geht aus dem Bild, bittet darum, durchgelassen zu werden, kehrt zurück, präsentiert der Kamera ihr Gesäß und setzt auf ihren Schoß den Hund, den ihr der Bruder des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez geschenkt hat. Es ist ein Mucuchies, der Nationalhund des Ölreiches im Norden. Cristina hat ihn Simón genannt und damit den Vornamen des großen lateinamerikanischen Freiheitskämpfers Bolívar gewählt. Als er an ihrem Haar kaut, wird er verwarnt und bekommt zu hören, er gefährde das Verhältnis zu Venezuela. Die Szene – ungeschnitten – ist großes Kino.

Allerlei Gerüchte hatte es zuletzt um den Gesundheits- und Geisteszustand der Präsidentin gegeben. Das Entfernen eines Blutgerinnsels im Schädel war wohl tatsächlich kompliziert – dafür spricht zumindest die strenge Ruhe, die die Ärzte der berühmten Patientin danach empfohlen hatten. Angeblich hat Cristina weder Zeitungen gelesen noch Fernsehen geschaut – gewissermaßen eineinhalb Monate lang isoliert gelebt, fernab vom Geschehen im Land und in der Welt. Was hat sie überhaupt mitbekommen? Was wäre im Fall eines besonderen Ereignisses gewesen? Unter welchen Umständen hätte man sie stören dürfen?

Nein, sie ist nicht mit einer großen Volksrede auferstanden, das hätte zu gut zu ihr gepasst. Sie wollte offenkundig alle überraschen, und eine Präsidentin, die eine Stunde und übertragen von allen staatlichen Radio- und Fernsehsendern auf die Leute einredet, obwohl sie wenig zu sagen hat, das ist in Argentinien mittlerweile Standard. Also lädt sie uns zu sich ein, nach Olivos, ins Wohnzimmer der offiziellen Residenz argentinischer Präsidenten.

Sie erzählt von ihrer Angst vor der Operation (»es waren schwierige Momente«), von Genesungswünschen und Geschenken (Rosenkränze, Püppchen, der Ledersofapinguin), die sie aus dem ganzen Land und auch von Anhängern der Opposition erreicht hätten; das Volk sorgt sich um die Landesmutter – da nickt selbst Evita im Himmel anerkennend. »Wir wachsen und überwinden Unterschiede«, sagt Cristina, die Alleinherrscherin, die stets nur eine Meinung akzeptiert: die eigene.

Man kann in dem Filmchen wunderbar entdecken, wie die Staatschefin über ihr Volk denkt und wie wenig sie von ihm hält. Denn das, was wirklich wichtig ist, braucht es nicht zu wissen. Über die Schlappe bei den Parlamentswahlen am 27. Oktober, als zwei von drei Argentiniern für die Opposition stimmten, redet sie nicht. Über Politik redet sie nicht. Und über das, was kommen wird nach ihrer Genesung, redet sie auch nicht. Sechs Wochen haben die Argentinier nichts von ihr gehört und nichts von ihr gesehen außer verschwommenen Fotos, die die Präsidentin im Auto, unterwegs zur Nachkontrolle, zeigen. Nun wird das Volk sieben Minuten lang narkotisiert mit Lappalien. Die Präsidentin als Anästhesistin.

Keine Stunde nach der Veröffentlichung des Videos verkündete dann ihr Sprecher, dass die Regierung umgebildet werde. Es hat den Wirtschaftsminister erwischt und den Landwirtschaftsminister, den Kabinettschef und die Präsidentin der Zentralbank. Cristina hatte die Pläne natürlich mit keinem Wort erwähnt oder gar erklärt.

Es war gerätselt worden, wie sie nach ihrer Rückkehr auf die Wahlniederlage reagieren würde. Mit Demut? Mit Trotz? Würde sie ihre Politik der staatlich gelenkten Wirtschaft lockern – oder sie noch verstärken? Wie es aussieht, hat sich die Präsidentin entschieden – für ein radikalisiertes Weiter-so. Zwei Jahre vor dem Ende ihrer zweiten (und letzten) Amtszeit denkt sie offenbar nicht daran, dem Markt mehr Freiraum zu geben und etwa die Importbeschränkungen zu lockern, unter denen die einheimische Produktion mittlerweile beträchtlich leidet. Cristina habe das Kabinett so umgebildet, als sei die Regierung Sieger der Wahlen gewesen, wunderte sich die Zeitung La Nación. »Sie hat sie aber verloren.« Was wiederum heißen könnte: Die Präsidentin ist auf einem Feldzug, und es gibt kein Zurück. Sie und ihre Mitstreiter fühlen sich als Avantgarde, die sich nicht aufhalten lässt – ganz gleich, ob die Wirtschaft wankt, die Wähler weglaufen oder Argentinien international fast isoliert ist.

Das Wirtschaftsministerium, das wichtigste Ressort im Land, übernimmt ein 42 Jahre alter Mann mit Hang zu Koteletten und Karl Marx. Axel Kicillof, studierter Ökonom und bisher Vizeminister, wird als intelligent und ehrlich beschrieben – eine in der argentinischen Politik selten auftretende Kombination. Er ist aber auch ein Hardliner mit guten Kontakten zur regierungstreuen und linksradikalen Nachwuchsorganisation Cámpora, deren Funktionäre seit Jahren dabei sind, das Land und seine Posten in Behörden und Staatsbetrieben unter sich aufzuteilen. Mit Kicillof ist La Cámpora zum ersten Mal direkt an der Macht.

Der bisherige Wirtschaftsminister Hernán Lorenzino wird EU-Botschafter in Brüssel. Er hatte ohnehin wenig zu sagen und wurde von der Präsidentin kaum ernstgenommen. Überliefert ist, wie er einmal nach einem Gespräch verabschiedet wurde. Man stand gemeinsam vor der Tür, draußen warteten schon Vizeminister Axel Kicillof und Guillermo Moreno, der Binnenhandelssekretär. »Also gut, Hernán«, sagte die Präsidentin. »Mach weiter deine Arbeit, damit ich jetzt mit Axel und Guillermo über die Wirtschaft reden kann.«

Den entlassenen Kabinettschef Juan Abal Medina zieht es vermutlich als Botschafter nach Chile. Großen Einfluss hatte auch er nicht; sein Wirken wurde gern mit dem eines besseren Privatsekretärs der Präsidentin verglichen. Sein Nachfolger ist Jorge Capitanich, bislang Gouverneur von Chaco, einer der rückständigsten Provinzen Argentiniens. Einer aktuellen Studie zufolge sind dort 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen arm. Aber Capitanich ist kein Bürokrat wie sein Vorgänger, sondern ein Macher, und er hat Cristina öffentlich stets verteidigt. Nun soll er mitführen und sie entlasten, weil klar ist, dass sie ihr altes Arbeitspensum vorerst nicht schaffen wird. Zum ersten Mal gibt sie Macht ab. Und der Mann, mit dem sie sie teilt, könnte 2015 als Präsident kandidieren, um die kirchneristische Politik fortzusetzen.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde Guillermo Moreno das Schlachtfest überleben. Doch am Tag danach ging auch der Binnenhandelssekretär, der in Wahrheit viel mehr war. Er war der heimliche Herrscher, gefürchtet von Unternehmern, die bei ihm um Importgenehmigungen betteln mussten, verachtet von weiten Teilen des Volkes für die Fälschung der Inflationshöhe. Die inoffizielle Inflation liegt bei 25 Prozent – die Regierung spricht von weniger als zehn. Moreno hatte unabhängigen Forschungsinstituten verboten, eigene Zahlen zu veröffentlichen.

Seine Verschickung an die Botschaft in Italien wertet La Nación als Eingeständnis der Präsidentin, mit ihrer Wirtschaftspolitik verloren zu haben, warnt aber vor Jubel. »Moreno ist weg, aber niemand kann sicher sein, dass auch die Morenisation der Regierung zu Ende ist.« Der neue Wirtschaftsminister verspricht doch eher Kontinuität. Kollege Moreno hat ihm einst einen Spitznamen verpasst: Kicillof war für ihn el sovietico. Der Sowjet.

Der Freund hat sich übrigens nach seiner SMS von 5.22 Uhr gleich noch einmal gemeldet. Eine Minute schrieb er: »He Argentinier, schläfst du etwa noch? Steh endlich auf, damit du später eine Siesta machen kannst!«

Argentinien wird auch diese Präsidentin überleben.

(Fotos: Presidencia de la Nación)