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Eine Schule für Diebe, der Polizist, der Deutschen vertraut, und ein überfahrener Hund: Unterwegs im Nordosten Argentiniens (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Dritter Tag: Resistencia, Hauptstadt der Provinz Chaco

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Müllsammler (cartoneros) in Resistencia

> Müllsammler (cartoneros) in Resistencia

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Um 6.37 Uhr stoppt der Bus. Licht an. Ein Polizist tritt ein. Er will einmal durchgehen, müsste dafür aber über eine Tasche steigen, die im Gang steht. Das tut er nicht.

»Deine?«

»Häh?«

Ich bin gewöhnlich weniger, zugegeben: nur ein bisschen weniger, begriffsstutzig. Aber gerade erst ist es mir halbwegs gelungen, die Frage zu beantworten, die ich mir vor einer halben Stunde gestellt hatte, nämlich, warum ich überhaupt in diesem Bus sitze.

»Gehört dir die Tasche, Chef?«

Es ist wohl wegen Jorge Capitanich. Ich hatte ja ziemlich große Pläne mit ihm. Ich wusste damals gleich, dass sein neuer Posten als Kabinettschef der gesundheitlich angeschlagenen Präsidentin Cristina Kirchner nicht das Ende seiner politischen Karriere sein würde. Das war ein Sprungbrett! Natürlich hatte er, das räumte ich auch ein, bislang nur Chaco regiert, eine der rückständigsten Provinzen des Landes, in der einer Studie zufolge 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen arm sind. »Aber Capitanich ist kein Bürokrat wie sein Vorgänger, sondern ein Macher, und er hat Cristina öffentlich stets verteidigt«, schrieb ich. »Nun soll er mitführen und sie entlasten, weil klar ist, dass sie ihr altes Arbeitspensum vorerst nicht schaffen wird. Zum ersten Mal gibt sie Macht ab. Und der Mann, mit dem sie sie teilt, könnte 2015 als Präsident kandidieren, um die kirchneristische Politik fortzusetzen.«

Für mich klang das logisch. Das war am 21. November 2013. Später entdeckte ich, dass er sogar schon Wirtschaftsminister gewesen war. Drei Tage lang. Vom 21. bis 23. Dezember 2001.

Mittlerweile ist Capitanich, genannt Coqui, kein Kabinettschef mehr – und Präsidentschaftskandidat schon mal gar nicht. Er hat eine Weile die beste Witzfigur der argentinischen Politik abgegeben, sein allmorgendliches Gestammel, deklariert als Pressekonferenz, wurde legendär, einmal zerriss er vor den Kameras sogar Seiten der oppositionellen Zeitung Clarín, damit das »argentinische Volk« erfahre, von wem es belogen werde, wie er sagte.

15 Monate nach meinem Text verbannte ihn Cristina Kirchner zurück in seine Provinz. Er ist jetzt wieder, was er schon gewesen war, bevor er sich beurlauben ließ, um Kabinettschef zu werden: Gouverneur von Chaco. Aber seine Amtszeit endet, und weil er nicht wiedergewählt werden darf, will er wenigstens Bürgermeister der Hauptstadt Resistencia werden. Dorthin fahre ich gerade. Ich will mir Coquis Reich angucken.

Die Tasche, richtig. Ich zeige auf den Mann neben mir. Der schläft noch, wird aber vom Polizistenzeigefinger augenblicklich angetippt und aufgeweckt. Er scheint auch gerade an Capitanich gedacht zu haben.

»Häh?«

»Darf ich die Tasche öffnen?«, fragt der Polizist noch einmal.

Kontrollen an den Provinzgrenzen sind üblich in Argentinien, auch Autofahrer werden nach Belieben angehalten. Die Polizisten fragen nach dem Ziel der Reise, lassen sich Pässe, Führerscheine und Fahrzeugpapiere zeigen, öffnen auch mal den Kofferraum und wünschen dann eine gute Fahrt.

Gestern auf der Rückfahrt aus Asunción, kurz hinter der Grenze, hat eine Frau aussteigen und neben der Straße ihre drei Riesenkoffer ausleeren müssen. Dabei sah sie gar nicht aus wie eine Schmugglerin.

Für mich hatte sich der Polizist gar nicht interessiert.

»Ich habe ein paar Geschenke gekauft, sonst nichts«, hatte ich gesagt und ihm meinen Reisepass gereicht. Ich wollte den Rucksack öffnen, als er abwinkte. »Du bist Deutscher. Lass gut sein.«

In dieser Tasche nun ist offenbar nichts, das nicht sein darf. Der Polizist verschließt sie wieder, erkundet den Gang bis zum letzten Sitz, ruckelt noch einmal an der Gepäckablage und geht dann ab. Licht aus. Augen zu.

Zwischen meinem Quartier in Formosa und Resistencia liegen 160 Kilometer reines Nichts. Mehr als eine Million Menschen leben in der Provinz Chaco, aber sie ist auch fast so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Es gibt beim Blick aus dem Busfenster keine Ortschaften oder Dörfchen, hie und da immerhin steht eine Hütte schief am Wegesrand.

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Chaco wurde auch erst spät, am 8. August 1951, per Gesetz 14 037 zur Provinz erklärt – unter dem Präsidenten Juan Domingo Perón. Ein halbes Jahr darauf, wiederum per Gesetz, erhielt sie den Beinamen Provincia Presidente Perón.

Ich bin nun in 16 der 23 Provinzen gewesen. Das sind mehr, als jeder Argentinier besucht hat, den ich kenne. Die fahren aber auch immer nur an den Atlantik, ans mar Argentino, das argentinische Meer, oder nach Punta del Este, dem Schnöselbadeort in Uruguay. Mir fehlen noch: Catamarca, Feuerland, La Rioja, San Juan, Santa Cruz, Santiago del Estero und Tucumán.

Die Evita-Statue auf der Plaza 25 de Mayo

> Die Evita-Statue auf der Plaza 25 de Mayo

Über Santiago del Estero und Tucumán erzählt der Aufgeweckte neben mir einen erstklassigen Witz. Seine Oma war Paraguayerin, der Opa kam aus Polen nach Argentinien. Eine tolle Mischung, findet er. Wir unterhalten uns über das mitunter schwierige deutsch-polnische Verhältnis, über die Kriege und die Verbrechen, die Vorurteile vieler Deutscher, die Polenwitze der neunziger Jahre. Werbung des polnischen Fremdenverkehrsverbandes: »Kommen Sie im nächsten Urlaub nach Polen − Ihr Auto ist schon da.«

Hier mache man solche Witze über die Leute aus Tucumán, sagt er. Die Tucumanos hätten nämlich den Ruf, Diebe zu sein. In der Provinz habe es vor 100 Jahren sogar eine Schule gegeben, an der das Stehlen unterrichtet worden sei.

»Ist das der Witz?«

»Nein, die Schule gab es.«

»Nicht wahr!«

»Ich schwör’s dir.«

»Dann erzähl mir mal einen Tucumán-Witz.«

»Bueno. Du weißt sicher, dass Santiago del Estero eine sehr arme Provinz ist, ¿no?«

»Sí. Und in Tucumán essen sie Mandarinen wie die Irren − wenn Saison ist: jeder Tucumano 20 bis 30 pro Tag. Hat mir mein Sohn erzählt, und der war schon da.«

»Kann sein. Also: Treffen sich ein Tucumano und ein Santiagueño. Der Tucumano sagt: ,Ach ihr, ihr habt ja nicht mal Asphalt auf euren Straßen.‘ – ,Stimmt gar nicht‘, erwidert der Santiagueño. ‚Wir haben Asphalt, aber wir bedecken ihn mit Erde, damit ihr uns den nicht klauen könnt.‘«

Resistencia te quiere, heißt der Slogan der Hauptstadt, in die wir gerade einfahren. Sie hat dich also gern. Sagen wir’s so, man glaubt es ihr nicht auf Anhieb. Resistencia empfängt Gäste wie fast jede andere Stadt in Argentinien: ungewaschen und ungeschminkt, insgesamt labil. Man fährt zunächst durch eine Art Gewerbegebiet, viele Autowerkstätten, einige Autoreifenbuden, nicht ganz so viele Autowaschanlagen, dann noch mal alles zusammen unter einem, nun ja, Dach, mit angeschlossenem Imbissstand, bevölkert von Männern, die changas suchen, Gelegenheitsarbeit, und Frauen mit kleinen Karren voller Thermosflaschen, um Tee und Kaffee zu verkaufen.

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Die Provinz Chaco ist, wie der gesamte Norden und Nordosten Argentiniens,  eine Hochburg der Schwarzarbeit. Selbst das Statistikamt Indec, das auf Wunsch der Regierung unangenehme Zahlen gern aufhübscht oder ganz verschweigt, schätzt sie auf 43 Prozent im Großraum Resistencia (letztes Quartal 2014; landesweit: 34 Prozent). Allerdings hat die Region laut Indec mit 0,6 Prozent auch die geringste Arbeitslosenquote Argentiniens, es herrscht: »Vollbeschäftigung«.

Hunderte – viele Frauen mit Kindern – stehen an diesem Tag vor Ämtern und Banken, um sich ihre Zuschüsse abzuholen, und man selbst erstarrt augenblicklich vor diesen reglosen Schlangen. Schaut man ihnen lange genug zu, zucken sie kurz, dann geht es ein paar Schritte vorwärts. Stunden werden die Leute ganz hinten brauchen, bis sie dann drin. Eine voll beschäftigte Provinz.

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Sitz der Provinzregierung von Chaco in Resistencia

> Gouverneurssitz in Resistencia

Die Frau im Tourismusbüro empört sich professionell darüber, dass ich heute Resistencia gleich wieder verlassen werde. »Nur ein Tag? Das ist so schade.«

»Eigentlich bleibe ich nur drei, vier Stunden.«

»Aber bei uns gibt es doch sehr viel!«

Das weiß ich, señora. Die Plaza 25 de Mayo ist eine der größten Argentiniens, mehr als vier Hektar misst sie. Außerdem hat das Parlament Resistencia vor Jahren zur Capital Nacional de las Esculturas ernannt. Es stehen nämlich 606 Skulpturen in den Straßen und Parks der Stadt, und gefühlte 250 davon werden mir gerade nacheinander intensiv ans Herz gelegt.

Eigentlich wollte ich nur einen Stadtplan schnorren.

»Man kann sich für zwei Stunden ein Fahrrad ausleihen. Kostenlos.«

»Oh, das ist toll.«

»Wollen Sie?«

»Nein.«

»Aber unseren Fernando, den müssen Sie besuchen!«

Der Hund Fernando

> Der Hund Fernando

Herrje, den Köter hätte ich fast vergessen. Fernando streunte Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger um die Plaza und besuchte Bars und Konzerte, bis er ganz berühmt war. Angeblich inspirierte er die Bürger zu Tagträumen, und der Chef einer Bank soll ihn jeden Morgen zum Frühstück eingeladen haben. »In einer Stadt, die den Künsten verpflichtet ist, galt Fernando als eine (haarige) Künstlerexistenz«, schreibt der Reiseführer. Am 28. Mai 1963 wurde er allerdings von einem Auto angefahren und starb. Das städtische Orchester spielte einen Trauermarsch, und die Leute schlossen aus Respekt ihre Fensterläden. Fernandos Begräbnis soll das meistbesuchte in der Geschichte Resistencias gewesen sein. Zwei Skulpturen erinnern an ihn.

Es tut mir leid für Resistencia und die Frau, die alles unternimmt, um mich zu begeistern. Ich habe leichte Motivationsprobleme, ich fühle mich sehenswürdigkeitensatt: Drei Städte, zwei argentinische Provinzen, ja zwei südamerikanische Länder in drei Tagen, das ist zu viel. Heute bin ich um halb fünf aufgestanden, um zum Bahnhof zu fahren. Die Bustouren nerven mittlerweile auch. Gestern acht Stunden, heute mindestens sechs, ich lebe ja praktisch im Oberdeck von Nueva Godoy.

»Danke für die Hilfe und den Stadtplan. Ich gehe gleich zu Fernando.«

Ich laufe noch ein bisschen ziellos herum.

Trikotverkauf im Zentrum von Resistencia

> Trikotverkauf im Zentrum von Resistencia

> Skulptur zu Ehren der ersten italienischen Einwanderer

> Skulptur zu Ehren der ersten italienischen Einwanderer

Dritter Teil: Robinson Wese, ein Katzenfresser und eine Fähre, die nicht kommt − von Argentinien nach Paraguay und zurück

Faule Gnocchi, Frauenüberschuss und ein kleines Krokodil zum Abendessen: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Asunción (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Erster Tag: Formosa

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Sollten Sie, lieber Leser, eines Tages mit mir, aus Gründen, über die ich an dieser Stelle nicht spekulieren will,1 gemeinsam in der Wüste landen − keine Sorge, die Oase würde ich wohl finden. Falls Sie aber zu den Pyramiden wollen, die gar nicht zu verfehlen sind, fragen Sie bitte jemanden mit Orientierungssinn.

Es ist mein erster Tag im argentinischen Nordosten, ich bin 1200 Kilometer entfernt von Buenos Aires und suche die goldene Perón-Statue. Seltsamerweise stehe ich im Augenblick allerdings vor der Coca-Cola-Fabrik.

Perón-Statue in Formosa

> Perón-Statue in Formosa

Das mexikanische Unternehmen Arca Continental, dem sie gehört, ist einer der wenigen echten Arbeitgeber in der Hauptstadt Formosa und der gleichnamigen Provinz. Die 400 Jobs im Abfüllwerk sind gut bezahlt und entsprechend begehrt. Denn eine nennenswerte Industrie gibt es nicht, und Formosas Tourismus ist auch noch keine Branche, nur Slogan: »El Imperio del Verde«, das Grüne Imperium.

Wichtiger als Coca-Cola ist nur der Staat.

95 Prozent des Provinzhaushalts bezahlt die Nationalregierung. Hilfe säen, Treue ernten, so haben es auch die Vorgänger der Präsidentin Cristina Kirchner gehalten. Deren linksperonistische Siegesfront (Frente para la Victoria) erreichte bei den Parlamentswahlen vor eineinhalb Jahren 60 Prozent in Formosa – fast doppelt so viel wie im Landesschnitt. Bei ihrer triumphalen Wiederwahl 2011 hatte Kirchner hier gar 78 Prozent geholt – landesweit kam sie auf 54.

Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

> Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

Vier Tage habe ich Zeit, um Formosa und Chaco zu bereisen, jenen Teil des argentinischen Nordostens, den ich noch nicht kenne. Misiones und Corrientes, die beiden anderen Provinzen des NEA, habe ich vor zweieinhalb Jahren mit dem Auto durchquert. Vier Tage, lächerlich. Formosa ist die fünftkleinste Provinz und trotzdem größer als der Freistaat Bayern – ein weites, weitgehend leeres Land mit nur 580 000 Einwohnern.

Der goldene Perón muss hier irgendwo sein. Ich sehe ihn noch nicht, fühle ihn aber. Jeder Argentinier ist ja laut Perón Peronist, einige wissen es nur nicht. »Wir Peronisten sind wie Katzen«, hat der General gesagt. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Unmöglich, dass ich den Kerl nicht finde; das glaubt mir doch kein Peronist.

In Buenos Aires haben viele Leute den Kopf geschüttelt. Was will man in Formosa? Dort gibt’s doch nichts. Nichts außer Schmugglern, die Waren aus Paraguay – vor allem Fernseher und Mobiltelefone – auf den argentinischen Markt bringen, weil der für derlei Produkte wegen der Importrestriktionen unverschämte Preise verlangt. Zigaretten? Natürlich. Andere Drogen? Ja, auch.

Biertransport über den Río Paraguay

> Biertransport über den Río Paraguay

Übrigens hat sich der Taxifahrer auf dem Weg vom Flughafen, den Formosa tatsächlich besitzt, zum Hotel sehr böse ausgelassen über die Porteños, die Hauptstädter. »Porteños wissen alles. Deshalb mögen wir sie auch nicht«, sagte er. »Wenn du dich in Buenos Aires nicht auskennst, bist du aufgeschmissen. Dann fährt dich der Taxifahrer zehnmal im Kreis. Fragst du jemanden nach dem Weg, zeigt der hier lang, obwohl du da lang musst. Aber immer weiß er alles, der Porteño.«

Keiner − keiner außer den Porteños, versteht sich − mag die Porteños, so ist das in Argentinien. Und je weiter man sich von ihnen entfernt, umso übler wird ihr Ruf. Hier in Formosa ist die argentinische Hauptstadt in vielerlei Hinsicht sehr weit weg. Die meisten Formoseños kennen sie vor allem aus den Nachrichten oder vom Hörensagen, und über solche Kanäle exportiert Buenos Aires reichlich Geschichten über Mord und Totschlag an jeder Straßenecke. Die Metropole ist ein Moloch, bevölkert von arroganten, egoistischen und kaltherzigen Kreaturen, die überdies mehr Europäer sein wollen als Latinos. In Formosa ist jeder zweite Mestize, also Nachfahre von Weißen und Indigenen. Man lebt viel ruhiger, sagen sie und meinen auch: Wir versuchen nicht, uns 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche gegenseitig übers Ohr zu hauen.

Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

> Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

Puerto Formosa 2

Auch geografisch liegt anderes näher als Buenos Aires: Paraguays Hauptstadt Asunción erreicht man mit dem Auto in zweieinhalb Stunden und mit dem Bus in vier. An Formosas Uferpromenade fahren halbstündlich Barkassen über den Río Paraguay nach Alberdi, dem Grenzort des Nachbarn. Dort kaufen Argentinier gerne ein, weil’s drüben billiger ist, und die Paraguayer schicken dafür ihre Kinder in Formosa zu Schule und lassen sich im Hospital de Alta Complejidad »Presidente Juan Domingo Perón« gesund machen (was nicht jedem Argentinier gefällt).

»Ufff, da hast du dich aber ganz schön verlaufen«, sagt der Mann an der Bushaltestelle. »Also, geh mal zehn Blocks geradeaus, nein elf, dann kommt eine große Kreuzung, und dort biegst du rechts ab, gehst zwei Blocks und danach …«

Immer geradeaus, dann sehen wir weiter.

»Warte, mein Chef kommt gerade«, ruft er hinterher. »Sollen wir dich an der Plaza absetzen?«

»Sicher?«

»He, du bist nicht in Deutschland. In Formosa haben wir Vertrauen zu den Leuten.«

Ich finde es ja schön, dass ihr mir vertraut, wirklich, das ehrt mich. Aber die Frage ist doch: Soll ich auch euch vertrauen?

Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

> Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

> Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

Formosa ist, je nach Statistik, die ärmste, die zweitärmste oder die drittärmste aller 23 argentinischen Provinzen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist das zweitniedrigste nach dem des Nachbarn Chaco und liegt mit 2879 Dollar weit unter dem Schnitt (8269; Deutschland: 40 000). Studien zufolge sind mindestens sechs von zehn Formoseños beim Staat angestellt, was selbst in diesem Land, dessen Bürgermeister, Gouverneure, Minister und Präsidenten immer auch Jobvermittler sind, ein überragender Wert ist.

Freilich, nicht alle Staatsangestellte arbeiten auch für den Staat. Argentinien ist ja voller ñoquis (Gnocchi), Leuten, die zwar offiziell beschäftigt werden, in irgendeiner Behörde oder im Rathaus, aber nur am Monatsende zur Arbeit kommen, wenn der Lohn verteilt wird. Der Spitzname leitet sich ab von den Ñoquis del 29, einem alten argentinischen Brauch, wonach die Familie am 29. des Monats Gnocchi isst, weil das Geld in der Haushaltskasse nicht mehr für eine bessere Mahlzeit reicht.

»Danke fürs Mitnehmen, muchachos

Der Straßenmarkt der Paraguayer (Formosa)

> Der Straßenmarkt der Paraguayer

Ich gehe jetzt ein bisschen spazieren, kaufe den Paraguayern auf dem Markt ein paar CDs mit argentinischer Rockmusik ab und lege mich dann früh schlafen. Morgen muss ich fit sein.

Die neue Uferpromenade von Formosa

> Die neue Uferpromenade von Formosa

Zweiter Tag: Asunción

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Hätte ich doch weniger Bier getrunken. Oder wenigstens schneller. Nicht bis Mitternacht. Aber Emilio hatte mich überredet, mit Blick auf den Río Paraguay zwei Delikatessen der regionalen Küche zu kosten: als Vorspeise trozos de yacaré rebozados en harina y huevo, den Brillenkaiman aus der Familie der Alligatoren, paniert mit Mehl und Ei; und als Hauptgang Surubí al paquete, den in Folie eingewickelten Pseudoplatystoma aus der Familie der Antennenwelse. Mein erster Abend in Formosa: viel Bier, ein knuspriges kleines Krokodil und ein gut geölter Süßwasserfisch.

Surubí al paquete

> Surubí al paquete

Jetzt, um 3.45 Uhr, klingelt mein Wecker. Ich habe nicht mal Kaffee da, und die Hotelküche ist noch geschlossen, also trinke ich zwei Tassen Cola. Die Dusche gibt kein warmes Wasser. Vielleicht bin ich auch zu blöd, die drei Knäufe zu bedienen, bei mir kommt jedenfalls nur kaltes oder gar kein Wasser. Um halb fünf stehe ich vor dem Hotel. Emilio hat einen Bekannten, der nachts Taxi fährt und mich zum Busbahnhof bringen wird.

Fünf Uhr. Um den Bus nach Asunción nicht zu verpassen, kümmere mich jetzt mal selbst um ein Taxi. »In diesem Land hat man immer das Gefühl, gleich geschieht was Schreckliches, und dann geschieht gar nichts«, lässt der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez (1934-2010) eine Figur seines Romans Der Flug der Königin sagen. »Alles wird weitergehen wie bisher, du wirst schon sehen.«

Wollen wir hoffen, dass die anderen Passagiere genauso müde sind wie ich immer noch.

Busbahnhof von Formosa

> Formosas Busbahnhof morgens um halb sechs

»¡Señor! ¡Señor!«

Kann die verfluchte Alte bitte nicht so brüllen?

»¡Seeeeñññoooorrr! ¡Seeeeñññoooorrr!«

Oder kann sie der verdammte Señor mal hören?

»¡Seeeeeeññññoooooorrrrr! ¡Seeeeeeeññññoooooorrrrr!«

Ach Gott, die meint mich. Ich muss zwei Stunden durchgeschlafen haben, wir haben jedenfalls die paraguayische Grenze schon erreicht. Nur noch die freundliche Señora, ihre Tochter und ich sind im Bus. Das Mädchen, vielleicht elf Jahre alt, schaut mich verängstigt an. Wenn ich Glück hatte, habe ich nur laut geschnarcht. Mein Kinn ist allerdings ein bisschen feucht, das deutet auf sinnloses Gebrabbel im Schlaf hin – mit falscher Spanischgrammatik und schwerem Akzent. Beruhig dich, Kleines. Der alte weiße Mann ist okay.

> Argentinisch-paraguayische Grenze in der Stadt Clorinda

Paraguay 3

Ich bin der Letzte in der Schlange und stehe auch am Schalter wieder länger als alle anderen. Der Grenzbeamte studiert seelenruhig alle Aus- und Einreisestempel; ich habe bolivianische, chilenische, brasilianische, uruguayische, viele argentinische, dazu noch ein paar aus der Ukraine. Señor, ich will nur Asunción angucken. Ja, ich komme heute Abend zurück. Exactamente, ich lebe in Argentinien. , schon ‘ne ganze Weile. (Du hast doch all meine Visa, auch die abgelaufenen, zwei Minuten lang angeglotzt, ¡boludo!2)

Ringsherum sind die Geldwechsler unterwegs, einen Bündel Scheine in der Hand. Amigos, ich habe schon Guaraníes. 207 000! Emilio hat sie mir gestern Nacht geliehen, damit ich nicht bei euch Geiern zum miesen Kurs wechseln muss, sondern erst mal mit dem Taxi ins Zentrum fahren kann. 207 000 Guaraníes sind bei einem Peso-Wechselkurs von 1:380 … nee, das kann ich natürlich zu dieser frühen Stunde nicht … also irgendwas um 500 Peso vielleicht … also 50 Euro. Die Geldwechsler waren vorhin auch schon im Bus, ich habe sie im Halbschlaf gehört. Das war kein Traum, ich erinnere mich genau.

Puh, geschafft. Ich leg mich noch mal hin, lese ein bisschen und warte darauf, dass ich wegdöse.

Der Flug der Königin, erschienen 2002, verwebt die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen einem Chefredakteur und einer jungen Journalistin mit dem politischen Geschehen im korrupten Argentinien der späten neunziger Jahre, kurz vor dem Zusammenbruch. Tomás Eloy Martínez ist ein brillanter Erzähler.

»¡Venga!«

Der Busfahrer ist extra ins Oberdeck gestiegen. Mehr sagt er nicht. Ich soll nur mitkommen. Hoppla, offenbar habe ich zwar Argentinien verlassen, mich aber nicht von den Paraguayern aufnehmen lassen. Kann doch mal passieren, oder?

Na ja, sagt der Blick des Busfahrers.

Neben dem Schalter ist das Büro der paraguayischen Polizei, da muss ich jetzt auch noch schnell Hallo sagen, weil auf der Passagierliste des Busunternehmens hinter einem Namen das Häkchen fehlt. Sitzplatz 24. Ja, der bin ich.

Abfahrt.

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

Mein Freund Pablo schickt mir eine Nachricht. »Pass bloß auf«, schreibt er. »Die Paraguayerinnen sind äußerst warmherzig und die schönsten Frauen nach den Argentinierinnen.«

In Asunción herrscht Frauenüberschuss, wie es typisch ist für südamerikanische Metropolen. Hotels, Cafés und Restaurants, die weibliche Servicekräfte brauchen, sind auf dem Kontinent weitgehend ein Großstadtphänomen; hinzu kommt eine Wohlstandsschicht, die die Arbeit im Haushalt gern outsourct und sich bedienen lässt. Die Stadt gehört, demografisch gesehen, den Jungen: Mehr als die Hälfte aller Bewohner sind noch keine 30 Jahre alt; nur jeder zehnte hat die 60 schon überschritten.

Der Großraum Asunción ist auch einer der 20 großen Ballungsgebiete Südamerikas. Mehr als zwei der 6,7 Millionen Paraguayer leben hier. Täglich, so schätzt man, fahren 2,1 Millionen Menschen und mehr als 300 000 Fahrzeuge hinein in die Hauptstadt. Offiziell heißt sie übrigens: La Muy Noble y Leal Ciudad de Nuestra Señora Santa María de la Asunción, die sehr noble und treue Stadt unserer Heiligen Jungfrau Mariä Himmelfahrt. Asunción ist auch eine der ältesten spanischen Städte des Kontinents, gegründet 1537, eineinhalb Jahre nach Buenos Aires.

Ich kenne überhaupt keine andere paraguayische Stadt.

Der bekannteste Paraguayer?

Für mich: Roque Santa Cruz.

 

Der Polizist vor dem Busbahnhof meint, das Taxi ins Zentrum werde ungefähr 50 000 Guaraníes kosten. Mhhmm, das macht, du hast es gleich, fuffzig durch dreikommaacht, sagen wir: vier, la puta madre,3 ist das ein Wechselkurs de mierda, fuffzig durch vier sind zwölf, und jetzt noch die Nullen hinten dran, la concha de mi hermana,4 so schwer ist das doch … ach komm, gib auf, unmöglich. Versucht hast du‘s ja.

Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

> Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

Palacio de los López, der Präsidentenpalast

> Palacio de los López, der Präsidentenpalast

Das Nationalparlament

> Das Nationalparlament

Paraguay 9

Catedral Metropolitana, Bischofskirche des Erzbistums Asunción

> Catedral Metropolitana, die Bischofskirche des Erzbistums Asunción

Ich beschließe, mich treiben zu lassen. Kein Stadtplan. Mir bleiben ohnehin nur fünf, sechs Stunden, bis der Bus zurückfährt, und ich weiß ja ungefähr, was ich sehen will: das Parlamentsgebäude, die Kathedrale, den Panteón de los Héroes, in dem die Reste der Kriegshelden aufbewahrt werden, den stillgelegten Hauptbahnhof von 1861 und natürlich den Palacio de los López, den Präsidentenpalast. Seit zwei Jahren regiert dort der Konservative Horacio Cartes, ein gelernter Flugzeugmechaniker und Tabakbaron.

Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

> Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

Paraguays Ruf ist ja nicht der beste: Armut, Schulden, Korruption und Ungleichheit – von all dem hat das Land reichlich, mehr als viele andere Länder. Selbst für südamerikanische Verhältnisse soll es bisweilen ziemlich gesetzlos zugehen, und die Vetternwirtschaft hat ohnehin eine lange Tradition. In unguter Erinnerung sind auch die 35 Dienstjahre des Präsidenten Alfredo Stroessner (1954-1989). Der Sohn eines Buchhalters aus Oberfranken und einer Guarani-Indianerin war ein glühender Antikommunist und Tyrann, was erfahrungsgemäß keine angenehme Kombination ist. Stroessner ließ Widersacher foltern und trieb eine Million Landsleute ins Exil. Franz Josef Strauß verlieh ihm 1973 den Bayerischen Verdienstorden.

Ich kaufe doch mal einen Stadtplan. Wegen Pablos Auftrag sehe ich mittlerweile bloß noch Banken und Geldautomaten. Aber ich fühl mich wohl, ich bin vielleicht sogar verliebt, ein kleines bisschen. Eine Großstadt, die nicht unaufhörlich brüllt –  so etwas kennt man nach fast drei Jahren in Argentinien ja gar nicht mehr. Asunción ist jedenfalls zur Mittagszeit leiser als Buenos Aires nachts um drei, und das liegt nicht bloß an der Müllabfuhr, die dann durch unsere Straße rumpelt. (Also, jede Nacht um drei.) Hier ist es, als ob man Ohrenstöpsel trüge, so gedämpft erzählt Asunción von sich.

Der Stadtplan kostet 20 000 Guaraníes. Bestimmt ein Schnäppchen. ¡Vamos!

Polizistenverschnaufpause

> Polizistenverschnaufpause

Argentinier im Allgemeinen halten eher wenig von ihren Nachbarn – und trotzdem viel mehr als die umgekehrt von ihnen. Auf die Bolivianer, Brasilianer, Chilenen, Paraguayer und Uruguayer wirken sie überheblich und laut. Der Argentinier, heißt es, fällt, das Trikot seines Fußballklubs stets am Leib, ins fremde Land ein, flucht unaufhörlich und fordert: Bewundert mich!

Es ist kein Geheimnis: Argentinier bilden sich auf ihre Herkunft viel ein, obwohl es mit dem Land im Grunde seit 80, 90 Jahren − die Spanier sagen: seit dem 9. Juli 1816bergab geht. »Wenn ich abends nach Hause komme, ist die Straße menschenleer. Ich sehe nur Bettler, die sich daherschleppen«, sagt die junge Journalistin im Flug der Königin zu ihrem Geliebten, dem Chefredakteur. »Wir sind uns dessen gar nicht bewußt, Bitte,5 aber Buenos Aires verändert sich. Es ist ein Schmetterling, der ins Larvenstadium zurückschlüpft.«

Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

> Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Asunción: Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Aber die ganz alte Vergangenheit glänzt nach wie vor. Lange war Argentinien ja die größte Nummer auf dem Kontinent. Die erste U-Bahn Lateinamerikas (und der gesamten Südhalbkugel) fuhr 1913 in Buenos Aires, auch das erste Kinderkrankenhaus (1875) stand hier. Es war ein Argentinier, der Chirurg René Favaloro, dem 1961 die erste Bypass-Operation am Herzen gelang. Der erfolgreichste Formel-1-Fahrer, bevor der Kerpener kam? El Balcarceño, Juan Manuel Fangio, fünfmal Weltmeister in den fünfziger Jahren, 24 Siege in 51 Rennen. Das schönste und beste Opernhaus der Welt laut Wilhelm Furtwängler, dem Jahrhundertdirigenten? Das Teatro Colón, eröffnet 1908 und fast gelegen an der breitesten Straße der Welt, der 9 de Julio. Wer kann bei so viel Pracht schon mithalten?

> Verlassener Mate

> Verlassener Mate

> Fotograf im absoluten Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

> Fotograf im Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

Die Nachbarn rächen sich mit schlechten Witzen. Wie begeht ein Argentinier Selbstmord?, fragen sie. – Er springt von seinem hohen Ego. Warum rennt er aus dem Haus, wenn‘s draußen blitzt? – Er denkt, Gott fotografiert ihn.

Ganz schön warm heute in Asunción. Ich kann die Jacke wohl ausziehen. Mein Trikot: das weiße vom Quilmes Atlético Club.

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

> Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Paraguay 17

  1. weil es nur um den fabelhaften Einstieg in diesen Text geht []
  2. Schwachkopf/Depp, sehr beliebte Anrede in Argentinien []
  3. argentinischer Fluch: puta = Hure, madre = Mutter, la = die []
  4. das Geschlechtsorgan meiner Schwester, nur derber []
  5. ihr Spitzname für den Chefredakteur []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)