Posts Tagged ‘Carlos Zannini’

Argentinien vor der Stichwahl (1): Der Zickzack-Kandidat der Allmächtigen bleibt sich treu

von CHRISTOPH WESEMANN

Wie also hält es Daniel Scioli, der Mann, der Argentinien die kommenden vier Jahre regieren will, mit der Frau, die noch bis zum 10. Dezember regieren wird? Mehr Cristina Kirchner in den letzten Wochen? Oder doch weniger? Wobei die Frage streng genommen lauten müsste: Noch mehr, echt jetzt? Die scheidende Präsidentin ist ja bereits überpräsent, sie bricht, was die Anzahl ihrer Fernsehansprachen betrifft, alle Rekorde – die eigenen, wohlgemerkt. Anlässe für Volksreden gibt es genug, manchmal steigt das Kindergeld, oft ist etwas einzuweihen, wie jüngst zwei Schwimmhallen in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz, und ab und zu muss sich Kirchner auch einfach jemanden vorknöpfen. Gestern Abend hielt sie Ansprache Nummer 45 in diesem Jahr, es war die 164. seit ihrem Amtsantritt am 10. Dezember 2007. Zum Vergleich: Amtsvorgänger Néstor Kirchner, ihr 2010 verstorbener Mann, brachte es in seinen vier Jahren auf gerade einmal zwei. 

Daniel Scioli und Cristina Kirchner Foto: Casa Rosada

> Daniel Scioli und Cristina Kirchner                       Foto: Casa Rosada

Überdies hat sie bislang auch in der Präsidentschaftskampagne des Regierungskandidaten Daniel Scioli kräftig mitgemischt – da aber eher im Verborgenen. Kirchneristen, die etwas werden wollten im argentinischen Superwahljahr, ob Abgeordneter, Bürgermeister oder Gouverneur, wurden von ganz oben auf Gesinnungshärte geprüft. Kirchner sucht verlässliche Erben, sie will die Errungenschaften der zwölfjährigen Herrschaft in guten Händen wissen. Ihre Werkzeuge bei der Nominierung der Kandidaten waren lapicera y guadaña, wie man in Argentinien sagt, Kugelschreiber und Sense.

Selbst Scioli gab die Allmächtige ja ihren Segen – und bestellte auch gleich noch den Aufpasser: ihren ewigen Vertrauten Carlos Zannini, der Vizepräsident wird, wenn es der Spitzenmann in die Casa Rosada schafft. Scioli akzeptierte diesen Vorschlag und erzählte hinterher, der Chinese (Zanninis Spitzname) sei seine Idee gewesen. Falls das stimmt, dann hatte er die Eingebung aus vorauseilendem Gehorsam. Oder wollen wir wirklich glauben, dass der politisch so erfahrene Gouverneur der Provinz Buenos Aires aus freien Stücken ausgerechnet den Mann angeworben hat, der seit fast 30 Jahren die Familie Kirchner auf Engste begleitet?

Nein, Cristina Kirchner will die Kontrolle in den Ruhestand verlängern – und den Preis dafür hat am vergangenen Sonntag der frühere Motorbootrennfahrer bezahlt. Er gewann zwar die erste Runde der Präsidentschaftswahl knapp, muss aber nun dorthin, wo er keinesfalls hinwollte: in die Stichwahl. Er hatte ja ganz darauf gesetzt, direkt gewählt zu werden, entweder mit mehr als 45 Prozent oder aber mit 40 und dann zehn Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzieren. Die beiden Ziele verfehlte er klar, obwohl die Umfragen zumindest Variante zwei für möglich bis wahrscheinlich gehalten hatten. Doch nicht nur das. Er verspielte auch den großen Vorsprung vom August: Bei den Vorwahlen hatte er noch acht Punkte vor Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri und dessen zwei Bündnispartner im internen Kandidatenrennen gelegen. Nun sind sie fast gleichauf: Scioli bei 36,86 Prozent, Macri solo bei 34,33.

Am 22. November wählen die Argentinier noch einmal, sie müssen sich dann zwischen diesen beiden, fast gleich alten Männern – Scioli ist 58 Jahre alt, Macri 56 – entscheiden. Sieben Millionen Wähler, die am Sonntag für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten gestimmt haben, suchen in den nächsten drei Wochen noch einmal neu. Wobei: Sie müssen gar nicht suchen, sie werden schon gefunden. Begehrt sind vor allem die 21 Prozent, die den antikirchneristischen Peronisten Sergio Massa in der ersten Runde unterstützt haben – umgerechnet mehr als fünf Millionen Wähler. Wer von diesem Riesenbatzen das große Stück bekommt und noch einmal seine Stimmen vom ersten Durchgang einsammelt, wird gewinnen.

Am wenigsten muss man sich um Massa sorgen; als Stimmenbeschaffer kann er im Grunde alles werden, was er will, außer natürlich Präsident und Vize. Schwer zu ködern wird er sein. Massa ist jung, gerade einmal 43 Jahre alt, und hat noch Zeit. Er muss nicht jetzt ein wichtiges Amt erobern, er könnte sich auch daran machen, den zerstrittenen Haufen zu befrieden, der sich Peronismus nennt, um dann als großer Anführer 2019 ein neuen Anlauf zu nehmen. Dafür allerdings müsste Scioli die Stichwahl verlieren – sonst ist er der starke Peronist.

Daniel Scioli am Wahlabend im Luna Park

> Daniel Scioli mit Carlos Zannini am Wahlabend im Luna Park Foto: Daniel Scioli/Facebook

Massa scheint eher geneigt, Macri zu helfen, jedenfalls lassen das seine Äußerungen in dieser Woche vermuten. »Ich will nicht, dass Scioli gewinnt«, sagte er und erklärte die Präsidentin zur ersten Verliererin der Abstimmung: »Das Volk hat am Sonntag gesagt, dass es keine Kontinuität will.« Kirchner war mal, es ist schon ein paar Jahre her, seine Vorgesetzte und Massa ihr Kabinettschef. Er ist dann weitergezogen und Bürgermeister der Stadt Tigre vor den Toren von Buenos Aires geworden, er hat sich politisch verändert und vom Kirchnerismus losgesagt – Peronist aber ist er bis heute geblieben. »Cristina muss weg, sie geht, am 11. Dezember ist sie Rentnerin«, sagte er. »Ich würde den Kirchneristen raten, dass sie sich darum kümmern, ihre Papiere zu ordnen und ihre Amtsgeschäfte abzuwickeln.«

Sergio Massa am Wahlabend

> Sergio Massa am Wahlabend in Tigre        Foto: Sergio Massa/Facebook

Das alles klang wie die Bewerbung um einen Posten im Kabinett des Präsidenten Mauricio Macri. Doch wie gesagt, Massa ist Peronist – genauso wie Scioli und offiziell auch Cristina Kirchner. Schon der Heilige des Peronismus, sein Gründer Juan Domingo Perón, hat Gegner vor falschen Schlüssen gewarnt, als er das Innenleben dieser weltweit einmaligen politischen Bewegung beschrieb. »Wir Peronisten sind wie die Katzen«, lautet eines seiner unsterblichen Zitate. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Und selbstverständlich hat Massa, als er sich in dieser Woche einmauerte, nicht vergessen, eine Fluchttür einzubauen. Er sagte nämlich auch: »Wenn Scioli doch Präsident werden will, muss er aufhören, der Kandidat des Kirchnerismus und ein Angestellter von Cristina zu sein.«

Zu den Kuriositäten des Wahljahres gehört, dass die Präsidentin wieder unheimlich beliebt ist; das war nicht immer so in den vergangenen Jahren. Auf den ersten Blick erscheint deshalb die Mehr-Kirchner-Strategie durchaus naheliegend, ja vielversprechend: Scioli hängt sich an die populäre Staatschefin, die noch häufiger im Fernsehen redet als bislang, und lässt sich von ihr in die Casa Rosada schleppen. Wählen aber wird er wohl Variante zwei: weniger Kirchner, viel weniger, so wenig wie möglich. Er dürfte auf größtmöglichen Abstand zur Amtsinhaberin gehen. Prognose: Nach diesem Wochenende kennt er sie nur noch flüchtig, und spätestens zwei Tage vor der Stichwahl, also am 20. November, hat er ihren Namen noch nie gehört. Und der Chinese, der von ihr ausgesuchte Vizekandidat Carlos Zannini, wo steckt der eigentlich gerade? – Scioli: »Wer?«

Cristina Kirchner bei der Stimmabgabe in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz Foto: Casa Rosada

> Cristina Kirchner bei der Stimmabgabe in ihrer Heimatprovinz Santa Cruz                                                             Foto: Casa Rosada

»Jedes Mal, wenn Cristina eine Fernsehansprache hält, verlieren wir 700 000 Stimmen«, hat einer von Sciolis Unternehmerfreunden gerade gesagt. Das ist übertrieben, es zeigt aber das Problem: Der Kandidat wird als Marionette wahrgenommen und erscheint deshalb jenen Wählern unattraktiv, die einen Wechsel wollen. Die Kirchnerallianz Frente para la Victoria, für die Scioli antritt, wurde zwar auch bei der Wahl vom 25. Oktober die stärkste Kraft – aber schon wieder stimmten sechs von zehn Argentiniern für die Opposition.

Der Gouverneur hat bereits im Wahlkampf versucht, in diesem feindlichen Lager zu punkten, indem er von Tag zu Tag ein bisschen mehr Neuanfang versprach und ein bisschen weniger Kontinuität. Monatelang hatte er den Ultrakirchneristen gegeben und die Präsidentin gepriesen. Mitten in der Kampagne rückte er davon ab und war nun wieder, was er schon gewesen war, bevor er Ultrakirchnerist wurde: ein undogmatischer Peronist mit breitem Profil. Aber wer sollte und wollte bei all diesen Häutungen noch durchsehen? Eine Strategie war das jedenfalls nicht, dieser Zickzack, eher ein Fürblödhalten der Leute, und natürlich hat es nicht funktioniert.

Scioli wird diesen Weg trotzdem weitergehen. Er hat keine Wahl. Er braucht die Stimmen aus dem Oppositionslager, weil Kirchnerismus allein nicht reicht für einen Sieg gegen Macri. Riskant bleibt es allemal. Es ist nicht absehbar, wie die Präsidentin und ihre Freunde auf die Trennung reagieren werden. »El candidato es el proyecto«, heißt noch immer das inoffizielle Wahlkampfmotto. »Der Kandidat ist das Projekt.« Nichts ist wichtiger als das Erreichte; es zählt ausschließlich, was Néstor und Cristina Kirchner seit 2003 geschaffen haben. Nichts anderes steht zur Wahl und muss verteidigt werden – von jedem Kandidaten, und erst recht von dem, der Präsident werden will.

Was werden die kirchneristischen Stammwähler (30 Prozent) machen, wenn Scioli nun das Projekt vergessen lassen will und einen Dreiviertel-Macri gibt, also fast so viel Wechsel verspricht wie der angeblich rechte Rivale, der den Neoliberalismus der neunziger Jahre auferstehen lassen würde? Wählen sie den Überläufer mit Parteibuch dennoch? Oder wird er bestraft? Begeistert hat Scioli die standfesten Kirchneristen nie. Er gehört nicht zu ihnen, er war politisch schon überall, weil er wie jeder gute Peronist anpassungsfähig ist. »Es lo que hay«, sagten sie aber bislang. Frei übersetzt: Das ist nun mal der, der da ist, was willste machen.

Mauricio Macri am Wahlabend im sogenannten búnker seiner Allianz Cambiemos

> Mauricio Macri am Wahlabend im Centro Costa Salguero

Sicherheitshalber hat Cristina Kirchner ihr Erbe in den vergangenen Monaten wetterfest gemacht. Ihrem Nachfolger wird es fast unmöglich sein, die vom Kirchnerismus verstaatlichten Unternehmen wie YPF und Aerolíneas Argentinas abermals zu privatisieren; im Nationalparlament werden viele Vertraute sitzen, und eine Mehrheit hätte Macri dort ohnehin nicht. Man könnte also vielleicht auch ihn vier Jahre werkeln lassen. Kirchner darf ja 2019 wieder antreten.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass es so kommt. Ausgeschlossen aber auch nicht.

Bis zur Stichwahl am 22. November sind es noch 23 Tage. Es sieht nicht danach aus, dass  die Präsidentin bis dahin zum Wohle Sciolis öfter den Mund hält und sich zurücknimmt. Sie soll ja – es ist nur ein Gerücht – bereits einen Unterhändler losgeschickt haben, der Sergio Massa eine Einladung zum Kaffeetrinken überbrachte. Der Peronist mit den fünf Millionen Wählerstimmen hat angeblich angenommen und auch gleich einen Termin vorgeschlagen: den 11. Dezember. Den ersten Tag nach Kirchners Abschied von der Macht.

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Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

 

Ein Chinese mit Handschellen für den Auserkorenen: Der teufliche Plan der argentinischen Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober ist Argentinien seit Sonntag, 0 Uhr, schlauer. Punkt Mitternacht war vorerst Schluss mit Gerüchten und Geschäften: Parteien und Bündnisse präsentierten ihre Kandidaten, und das Land weiß nun, wer Präsident werden will. Es riecht nach einem Duell zwischen dem Peronisten Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, und dem nichtperonistischen Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri. Die beiden sind alte Freunde, obwohl sie politisch weit auseinander liegen: Scioli verspricht Kontinuität, Macri einen Wandel. Die große Überraschung ist jedoch die Noch-Präsidentin: Cristina Kirchner bewirbt sich um kein neues Amt. Zieht sie sich nach 26 Jahren wirklich aus der Politik zurück?

Das Argentinische Tagebuch beschäftigt sich in zwei Teilen mit dem Wahlkampf, stellt die wichtigsten Kandidaten vor und erklärt die Strategien. Der erste Teil widmet sich der Regierung.

Cristina Kirchner im Hubschrauber der Präsidentin mit Carlos Zannini (M.) und Daniel Scioli

> Cristina Kirchner mit Carlos Zannini (M.) und Daniel Scioli am Tag der Fahne, der am 20. Juni in Rosario gefeiert wurde. Scioli durfte zum ersten Mal mit dem Hubschrauber der Präsidentin fliegen. Foto: Casa Rosada

Was hat die Staatschefin beim Chinesen bestellt? Carlos Zannini, Spitzname El Chino, ist Cristina Kirchners Strippenzieher und einer ihrer engsten Vertrauten. Viele umstrittene Projekte der linkspopulistischen Regierung, etwa das Mediengesetz, sind sein Werk. Nun soll Zannini Vizepräsident werden.

Der 60-Jährige, früher Maoist, dann verfolgt und verhaftet während der Militärdiktatur, ist im Windschatten der Familie Kirchner an die Macht gelangt. Unter dem neuen Bürgermeister von Río Gallegos, Néstor Kirchner, wurde er 1987 Sekretär der Stadtregierung. Als Kirchner vier Jahre später die Gouverneurswahlen in der Provinz Santa Cruz gewann, machte er Zannini zum Minister. Der drehte noch eine Runde durchs Parlament und wurde 1999 zum Chef des Obersten Gerichtshof ernannt. Weitere vier Jahre später ging es gemeinsam in die Hauptstadt. Kirchner wurde Präsident − und Zannini, was er bis heute ist: un peso pesado, ein Schwergewicht der hiesigen Politik; sein offizieller Titel: Sekretär für Legalisierung und Technik.

El Chino gehört zu den wenigen Technokraten, die nach Néstor Kirchners Tod 2010 politisch überlebt haben. Cristina Kirchner, die berühmteste Witwe am Río de la Plata, seit fast acht Jahren Präsidentin, hat viele Posten neu besetzt, aber Zannini weiter vertraut. Nun endet ihre gemeinsame Zeit. Am 10. Dezember muss die Präsidentin die Casa Rosada räumen. Schickt sie deshalb einen Aufpasser? Hat sie also beim Chinesen Handschellen für ihren potenziellen Nachfolger bestellt?

Daniel Scioli in Handschellen – dieses Bild wird augenblicklich gern gezeichnet in Argentinien. Es ist bloß eine Vermutung, aber eine naheliegende, schließlich hat die Präsidentin Scioli (58) auserkoren. Nichts ist ihr wichtiger als der Fortbestand ihrer Politik, ein Weiter-so ohne Abstriche, das hat sie oft genug gesagt. Warum sollte Kirchner jemandem das Erbe anbieten, der es nicht pfleglich behandelt? Der Realität entrückt mag sie bisweilen wirken, naiv aber ist sie keineswegs. Scioli in der Regierung, sie selbst weiter an der Macht − das wäre ein geradezu teuflicher Plan.

Der Peronist Scioli regiert seit 2007 Buenos Aires, nicht die Hauptstadt, sondern die viel wichtigere Provinz. Sie ist flächenmäßig so groß wie Deutschland und der Ort, an dem sich vieles entscheidet: 40 Prozent aller Wahlberechtigten leben hier. Scioli hat die Gouverneurswahlen zweimal gewonnen, er ist der mächtigste Provinzfürst des Peronismus. Aber viele Kirchneristen mögen ihn nicht. Obwohl er von 2003 bis 2007 Néstor Kirchner als Vize gedient hat, gilt er nicht als Mann der Bewegung. Man weiß nicht, ob Scioli das Projekt – wie der Kirchnerismus seine zwölf Jahre an der Macht nennt – fortführen, ja vorantreiben wird. Öffentlich hat der einstige Motorbootrennfahrer Cristina Kirchner stets die Treue geschworen; im kleinen Kreis aber soll er ausgiebig über sie lästern.

Trotzdem darf er für den Kirchnerismus antreten; er ist sogar sein einziger Kandidat. Lange hatte es nach einem Zweikampf ausgesehen, über dessen Ausgang die Vorwahlen am 9. August entscheiden würden. Transportminister Florencio Randazzo (51), der treue Kirchnerist und Liebling der Basis, ging offenbar fest davon aus, dass die Präsidentin ihn auswählen werde. Doch dann verkündete Scioli am Dienstag voriger Woche in einem Fernsehinterview, dass Carlos Zannini als sein Vize mit ihm den Wahlkampf ziehe. Er hatte nicht weniger als eine Bombe gezündet.

Randazzo soll vollkommen überrascht gewesen sein, ja erschüttert. Ausgerechnet Zannini! Der Mann, der ihn, Randazzo, die ganze Zeit unterstützt hatte! Der alles ausgeheckt hatte! Ihr Plan sah vor: Der Transportminister verbessert die rostige Infrastruktur, er stellt jede Woche neue Züge auf frische Gleise, sticht so Scioli aus, beerbt Kirchner und garantiert Kontinuität. Und ausgerechnet Zannini, der Hexenmeister, wechselt kurz vor Schluss zu Scioli, über den Randazzo monatelang gelästert hatte. Hach, und die Präsidentin, jene Frau, die Randazzo nahezu abgöttisch verehrt, gibt dem Gespann obendrein ihre Segen. Womöglich war es sogar ihre Idee, und Scioli durfte nur noch akzeptieren. (Die Meinungen gehen diesbezüglich auseinander. Scioli reklamiert für sich, Zannini selbst ausgewählt zu haben.)

Transportminister Florencio Randazzo, der Herr der neuen, in China hergestellten Züge

> Transportminister Florencio Randazzo, der Herr der neuen, in China hergestellten Züge Foto: Ministerio del Interior y Transporte

Und Randazzo? Der hatte sich vor langer Zeit festlegt: Alles oder nichts, entweder schafft er es in die Casa Rosada – oder er geht nach Hause. Er hielt Wort. Das Angebot der Präsidentin, das Gouverneursamt der Provinz Buenos Aires anzustreben, als alleiniger Kandidat der Regierung, lehnte er. Ein fast ungeheuerlicher Vorgang – denn ein Kirchnerist gehorcht der Anführerin eigentlich. Randazzo wird nun offenbar wie ein Aussätziger behandelt. Sein Stab klagte am Ende der Woche: »Wir sind einsamer als Boudou am Tag des Freundes.«1 (Amado Boudou ist der nach unzähligen Affären und Ausrutschern demolierte Vizepräsident, zu dem selbst Parteifreunde größtmöglichen Sicherheitsabstand halten.)

Randazzo twitterte daraufhin Treueschwüre:

»Dass sich keiner irrt. Ich unterstütze alle Entscheidungen, die die Präsidentin trifft. Sie führt das Projekt, dem ich angehöre und dessen Teil ich weiter sein werde.«

»An die Journalisten, die eine böse Absicht verfolgen: Ich habe nie gesagt, dass mir die Präsidentin verboten hat, bei den Vorwahlen anzutreten.«

»Aber gegen Carlos Zannini anzutreten, bedeutet, gegen die Präsidentin anzutreten.«

»Ich wiederhole, ich werde nie etwas tun, das der Präsidentin schadet.«

Dass Cristina Kirchner nicht selbst antritt, ist eine mittelgroße Sensation. Sie hätte sich ja ein Amt quasi aussuchen können: Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, Senatorin oder Abgeordnete eines Parlaments (Argentinien oder Mercosur). Es schien unvorstellbar, dass sie verzichtet, zumal sie sich wieder erholt hat. Ihre Beliebtheitswerte sind  gestiegen, sie wurde von Bürgermeistern, Gouverneuren und Abgeordneten regelrecht angefleht, im Spiel zu bleiben und der Kampagne Schub zu verleihen. Nun tritt sie ab.

Warum? Sie hatte in den vergangenen Jahren kleinere und größere gesundheitliche Probleme. Nach einer Kopf-Operation war sie Ende 2013 sogar für sechs Wochen ganz abgetaucht. In jüngster Zeit allerdings wirkte sie indes stabil, gut gelaunt, mitunter sogar aufgekratzt und tatendurstig. In der vergangenen Woche hat sie per Erlass das Kindergeld um 30 Prozent2 erhöht – und dieses Geschenk, wie es sich gehört für diese Präsidentin, dem Volk per Fernsehansprache verkündet. Es war ihre 24. Cadena Nacional in diesem Jahr; das Recht des Staatsoberhauptes, sich in Ausnahmefällen auf die staatlichen Sender schalten zu lassen, nutzt Kirchner fleißiger als ihre Vorgänger: im Schnitt alle sieben Tage.

Möglicherweise wäre ein Verbleib an der Macht oder in deren Nähe auch zu viel Ballast für den Kandidaten Scioli gewesen. Der hat sich ja schon ordentlich verbiegen müssen. Für Aufsehen und Heiterkeit sorgte sein Wahlkampfspot, in dem er die erste Zeile eines kirchneristischen Schlagers wieder und wieder zitierte: »Yo vengo bancando este proyecto nacional y popular.« Er unterstütze dieses kirchneristische Projekt seit dem ersten Tag, sagte er – erst als Vizepräsident, dann als Gouverneur. Nun bitte er, dass »du mich unterstützt«.

Für einen Sieg braucht Scioli die Stimmen der kirchneristischen Stammwähler (etwa 30 Prozent), aber auch die jener Peronisten, die auf einen leichten Wandel hoffen. Es ist ein riskantes Spiel. Schon länger skizzieren Sciolisten, die Anhänger des Gouverneurs, dessen Weg in die Casa Rosada: Danach bleibe Scioli bis zu den Vorwahlen am 9. August Ultrakirchnerist, löse sich bis zur Wahl am 25. Oktober allmählich und regiere am Ende, ohne Rücksicht zu nehmen auf die alten Freunde, die ihm die Macht besorgt haben. Anders gesagt: erst esclavitud (Sklaventum), dann liberación (Befreiung), schließlich independencia (Unabhängigkeit).

Scioli

> Ich werde der Präsident sein mit Glaube, Hoffnung, Optimismus, Sport, Tourismus, Freunde – und mit mehr Unabhängigkeit denn je.

Diese Strategie hat freilich Schwachpunkte. Nach bewährter Tradition war das Anfertigen sämtlicher Kandidatenlisten der Bewegung das Vorrecht der Präsidentin; von lapicera y guadaña spricht man in Argentinien, dem Kugelschreiber und der Sense, zu denen Kirchner greife, um dafür zu sorgen, dass ungeeignete, also unzuverlässige Parteifreunde auf der Strecke bleiben. Die Parlamente und Rathäuser überall im Land werden nach den Wahlen voller Cristinistas sein, ultratreuer Anhänger der Staatschefin a. D. La Cámpora, die Nachwuchstruppe der Bewegung, gegründet und angeführt vom Präsidentensohn Máximo Kirchner (38), hat bei der Aufstellung der Kandidaten ordentlich abgesahnt. Máximo Kirchner bewirbt sich zum ersten Mal um ein öffentliches Amt, er steht auf Platz eins der Liste in der Provinz Santa Cruz für das Nationalparlament.

Máximo Kirchner mit seiner Schwester Florencia (l.), seiner Freundin María Rocío García, Sohn Néstor Iván und der Präsidentin

> Máximo Kirchner mit seiner Schwester Florencia (l.), seiner Freundin María Rocío García, Sohn Néstor Iván und der Präsidentin Foto: Casa Rosada

Und dann ist da ja noch der Vizepräsidentschaftskandidat Carlos Zannini, der Chinese mit den Handschellen für Daniel Scioli. Ein kircheristischer Aufpasser für den wankelmütigen Peronisten. Ein Garant der Kontinuität. »Die Peronisten glauben, dass sie den Kirchnerismus überleben können«, schreibt die Journalistin Silvia Mercado, »Cristina und Zannini aber wollen, dass niemand übererlebt, wenn sie selbst nicht mehr da sind, und sie verdrängen Peronisten so weit wie möglich, um jene einzusetzen, die loyal zum Projekt sind.«

Vielleicht kann sich Cristina Kirchner einfach leisten, in Rente zu gehen – weil sie genau weiß: Auch so geschieht nichts gegen ihren Willen. Außerdem könnte sie wiederkommen, wenn es mit dem neuen Präsidenten – ganz gleich, wie der heißt – nicht klappt.

  • Sonntag, 9. August: Vorwahlen (Primarias Abiertas Simultáneas y Obligatorias, PASO)
  • Sonntag, 25. Oktober: Präsidentschaftswahlen
  • Sonntag, 22. November: wenn nötig Stichwahl (balotaje)
  • Donnerstag, 10. Dezember: Vereidigung des neuen Präsidenten
  1. 20. Juli, el Día del Amigo in Argentinien []
  2. 837 Pesos statt 644 []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)