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Argentinien vor der Stichwahl (4): Grünschnabel gegen Chamäleon

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Peronismus ist, vielleicht, die politische Bewegung mit der weltweit höchsten Dichte an Anekdoten und Kalendersprüchen. Sein Erfinder Juan Domingo Perón (1895 bis 1974), dreimal Präsident Argentiniens, war ein begnadeter Wortakrobat. Viele seiner Weisheiten sind längst Volkseigentum, sie werden zitiert und abgewandelt.

  • Ich habe Bösewichte gesehen, aus denen gute Menschen wurden. Aber niemals einen Idioten, der wieder intelligent geworden wäre.
  • Die Preise steigen im Fahrstuhl, die Löhne nehmen die Treppe.
  • Ich bin ein friedfertiger General, so was wie ein pflanzenfressender Löwe.
  • Wir Peronisten sind wie Katzen. Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.
  • Für den Peronismus gibt es nicht mehr als nur eine Klasse von Menschen: die, die arbeiten.

Doch trotz all der Beschreibungen, die das Idol der Bewegung hinterlassen hat, ist der Peronismus kaum zu begreifen. Er orientiert sich mal nach links und mal nach rechts, dann wieder tummelt er sich dazwischen; er hat kein festgelegtes Programm, nicht mal eine Organisation (sondern viele und viele untereinander verfeindete), ja selbst die Suche nach Ideen als Grundlage des Handelns führt ins Nichts. Fündig wird man eher im Tierreich, bei einem Wesen, das ähnlich anpassungsfähig ist: dem Chamäleon. Gefragt nach der wahren Ideologie dieser unvergleichbaren Bewegung, soll einer der Unternehmerfreunde Peróns mit einem Bonmot geantwortet haben: »Man muss immer dem Weg des Geldes folgen. Wenn Geld da ist, werden Eisenbahnen gekauft. Wenn nicht, werden sie verkauft.«1

Der Peronismus wird die Stichwahl um die Präsidentschaft am Sonntag wohl verlieren, es wäre seine zweite historische Niederlage binnen eines Monats. Am 25. Oktober hat er schon – nach 28 Jahren ununterbrochener Herrschaft – die Riesenprovinz Buenos Aires an das Oppositionsbündnis Cambiemos (Lasst uns verändern) abgeben müssen. Dort, wo fast vier von zehn Argentiniern zu Hause sind und das industrielle Herz schlägt, hat nun María Eugenia Vidal das Sagen. »Heidi«, wie das verträumte Mädchen aus den Alpen, hatte einer ihrer peronistischen Gegenkandidaten sie im Wahlkampf verächtlich genannt. Jetzt steigt Vidal, derzeit noch Vize des liberal-konservativen Hauptstadtbürgermeisters Mauricio Macri, zur zweitwichtigsten politischen Figur des Landes auf – mit 42 Jahren. Und ihr Chef sitzt auch schon mit einer Pobacke auf dem ganz großen Thron, dem in der Casa Rosada.

Regierungsmann Daniel Scioli (58), scheidender Gouverneur der Provinz Buenos Aires, schafft es offenbar nicht, den Rückstand aufzuholen, den Meinungsforscher ermittelt haben. Seine vielleicht letzte große Chance, das 80 Minuten lange TV-Duell am vergangenen Sonntag, hat der frühere Motorbootrennfahrer nicht nutzen können. Allenfalls ein Unentschieden gelang ihm, die meisten Umfragen sahen sogar seinen Gegner vorn. Dabei hatte Macri (56) keineswegs brilliert. Er rezitierte ausgiebig aus seinem Wahlkampfredenbüchlein und bestritt alles, was Scioli einfiel an möglichen Folgeschäden einer Amtsübernahme Macris: die Abwertung des Pesos. Auch die Abwertung des Pesos. Und die Abwertung des Pesos, die sowieso. Er wirkte ruhig und unaufgeregt, mitunter fast eine Spur zu lässig. Wenn er nicht noch versucht, in den letzten Tagen über den Río de la Plata zu laufen, sollte er sein Ziel unbeschadet erreichen.

Alles andere wäre, mittlerweile, eine ziemliche Sensation. Erstaunlich, wie sich die Stimmung gedreht hat. Bei den Vorwahlen Anfang August hatte Macri noch acht Prozentpunkte hinter Scioli gelegen; in der ersten Wahlrunde am 25. Oktober waren es dann nur noch zweieinhalb; und jetzt führt er angeblich. Warum? Sieben der mehr als 32 Millionen wahlberechtigten Argentinier haben vor vier Wochen weder für ihn noch für Scioli gestimmt, sondern für einen der anderen vier Präsidentschaftskandidaten der antikirchneristischen Opposition. Am Sonntag wollen die meisten von ihnen offenbar Macri wählen.

Scioli hatte für die Fernsehdebatte Attacken versprochen, und dann war es doch Macri, der als Erster angriff. »Was ist nur aus dir geworden? Du ähnelst einem der Experten von 6-7-8«, sagte er. 6-7-8 ist eine Talkshow am Sonntagabend, in der strenggläubige Kirchneristen gegen die Opposition in Politik und Medien hetzen. Ein paar Tage zuvor hatte Scioli die dicke Staubschicht von einem alten, aber unvergessenen Zitat gepustet: Wenn Macri regiere, »werden die Wissenschaftler wieder Teller spülen«. Es war ein weiterer Versuch, seinen Rivalen dem Volk als herzlosen Neoliberalen vorzuführen. »¡Andá a lavar los platos!«2, hatte 1994 Domingo Cavallo, der Wirtschaftsminister des Präsidenten Carlos Menem, einer Soziologin zugerufen, die sich über die steigende Arbeitslosigkeit beschwerte.

Macri soll Scioli diesen Vergleich übel genommen haben, oder er tat zumindest so. Die beiden sind alte Freunde, zumindest waren sie es. Schon José Scioli und Franco Macri, ihre Väter, hatten sich sehr nahe gestanden. Franco Macri, heute 85 Jahre alt, ist einer der schwerreichen Wirtschaftskapitäne Argentiniens – und ein besonders umstrittener, weil er dank bester Kontakte in die hohe Politik zu allen Zeiten Geschäfte mit dem Staat gemacht hat. Einer seiner Schachpartner war: Daniel Scioli.3

Überhaupt Schach, was für ein Thema! Die frühere Journalistin Gabriela Cerruti, heute kirchneristische Abgeordnete in der Hauptstadt, erzählt in El Pibe, der Biografie Mauricio Macris, wie dieser zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr jeden Sonntagvormittag drei Stunden lang mit dem Vater spielen musste. Anschließend stolzierte der Patriarch zum großen Tisch, an dem sich die Familie zum Mittagessen versammelte, und rief aus: »Dieser dämliche Grünschnabel wird mich nie besiegen.« Irgendwann war der Alte dann doch einmal dran. Schachmatt. Er schaute überrascht und schwieg, packte in aller Ruhe die Figuren ein und stellte sie mit dem Brett in das höchste Regal, das er, auf Zehenspitzen stehend, erreichte. Nie wieder hat er mit dem Sohn gespielt.

Im TV-Duell revanchierte sich Mauricio Macri für den Tellerwäscher-Satz und landete einen Wirkungstreffer, den Scioli und seine Berater – eingestellt auf einen zahmen Gegner – nicht hatten kommen sehen. Der Kirchnerist reagierte fahrig, sein Kopf pendelte hin und her; er sprach den Kontrahenten mit »Ingenieur Macri« an, als wäre der ein Fremder, und guckte dabei nicht einmal zu ihm hinüber. Später fing er sich ein wenig und argumentierte besser, aber überzeugend war sein Auftritt nicht. Die Zeitung Clarín schrieb, der Schachliebhaber Scioli sei »en zugzwang« gewesen, ein Gefangener »dieser seltsamen Stellung, in der jede Figur, die du bewegst, deine Situation vermutlich nur noch schlimmer macht«.

Scioli Mar del Plata

> Daniel Scioli gestern beim Wahlkampfabschluss in Mar del Plata                                                                                   Foto: Scioli/Facebook

Es sind zwar noch drei Tage bis zur Entscheidung, aber schon gestern haben die beiden Kandidaten ihren Wahlkampf mit einer letzten großen Kundgebung offiziell beendet. Macri reiste nach Humahuaca in die Nordprovinz Jujuy, wo er in der ersten Wahlrunde nur Dritter geworden war. Scioli zog es dorthin, wo der Argentinier gern mit vielen anderen Argentiniern seinen Sommerurlaub verbringt: an die Atlantikküste nach Mar del Plata. Seit Freitagmorgen um acht gilt der Waffenstillstand. Keine Auftritte. Keine Wahlkampfspots im Fernsehen und Radio. Nur im Internet und den sozialen Netzen darf noch geworben werden.

So wahrscheinlich ein Sieg Macris ist, der Peronismus wird stark bleiben. In mehr als der Hälfte aller 24 Provinzen stellt er den Gouverneur, manche von ihnen stehen Präsidentin Cristina Kirchner nahe, andere hassen sie, aber alle sind Peronisten. Gegen sie kann Macri nicht regieren. Und ohne sie auch nicht.

»In Argentinien wird dir alles verziehen, außer du sprichst schlecht von Perón und dem Peronismus«, schreibt die Journalistin Silvia D. Mercado in ihrem aktuellen Buch El relato peronista.4 »Der Spitzname Gorilla5 ist fast so, als würden sie im Nazi-Deutschland zu dir Jude sagen. Du bist außerhalb des Registers. Sie stecken dir einen gelben Stern ans Sakko, und deine Worte verlieren ihren Wert. Die Leute sehen dich auf der Straße und wechseln den Bürgersteig.«

Macri Humahuaca

> Mauricio Macri gestern beim Wahlkampfabschluss in Humahuaca                                                        Foto: Macri/Facebook

Auch deshalb hat sich Macri peronisiert – nicht erst, als er in der Hauptstadt, die er seit 2007 regiert, eine Perón-Statue einweihte. Den Wandel, den er Argentinien verspricht, hat er schon hinter sich, nur entgegengesetzt. Er will nicht mehr der sehr liberale Reformer sein, vor allem, weil nur eine Minderheit den radikalen Neuanfang will. Er bekennt sich zur Rückverstaatlichung des Ölkonzerns YPF, eine der überaus populären Entscheidungen des Kirchnerismus, gegen die seine Partei noch 2012 im Parlament gestimmt hatte. Der Staat soll bitte stark bleiben, so wünscht es das Volk bis hoch in die Mittelschicht, und Macri versucht nicht mehr, es ihm auszureden.

Eine Obsession für die Neunziger, die »verlorenen Dekade«, hat die Zeitung La Nación den Argentiniern jüngst bescheinigt. Eine neue goldene, unbeschwerte Zeit schien aufzuziehen, denn die große Privatisierung löste so viele Probleme auf einmal. Präsident Menem benahm sich wie ein Popstar, fuhr im Sportwagen herum und umarmte die Rolling Stones. Seine Untertanen, jedenfalls die mit Geld, drehten ähnlich durch und ließen es krachen. Doch Menem vererbte dem Nachfolger ein ausverkauftes Land und ist heute als Überträger von Pech und Unglücken aller Art verschrien, weshalb sich Abergläubische, wenn sie seinen Namen hören oder aussprechen, gern in den Schritt (Männer) oder an die Brust (Frauen) fassen. Das soll die Ansteckung verhindern.

Der Kirchnerismus hat versucht, Macri zum Wiedergänger Menems zu machen, und tatsächlich gibt es Zitate, die den Kandidaten überführen. »Der große Transformator« sei Menem, sagte er 2003, als er gerade in die Politik eingestiegen war. Vier Jahre brauchte er, um sich öffentlich zu widerrufen. »Bei Menem habe ich mich geirrt«, sagte er. »Menem war für alle ein Desaster.«

Wie Macri wirklich denkt, was er machen würde, wenn er dürfte, wie er könnte – wer weiß das schon. Vielleicht: er selbst. Man kann ihm aber durchaus zutrauen, dass er auf seinen Eintrag im großen argentinischen Geschichtsbuch guckt und die historische Chance nutzen will, die sich ihm gerade bietet. Argentinien ist in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur von Peronisten, Radikalen oder Militärs regiert worden. Macri wäre der erste Andere, und allein das kann dem Land nicht schaden. Überdies zöge mit ihm, dem Präsidenten Nummer 53, zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1983) kein Jurist in die Casa Rosada ein. Und noch in einem anderen Punkte könnte er sich von vielen seiner Vorgänger unterscheiden: Bereichern sollte sich Macri nämlich nicht müssen. Er ist schon reich, unfassbar reich auf die Welt gekommen.

Man kann ihn für unerfahren halten, weil er erst vor acht Jahren sein erstes und bislang einziges politisches Amt angetreten hat, das des Bürgermeisters von Buenos Aires. Zuvor war er allerdings 13 Jahre lang Präsident der Boca Juniors gewesen, und der mit Abstand populärste Fußballklub im Land hat die größten Erfolge seiner mehr als hundertjährigen Geschichte genau in dieser Zeit gefeiert. Unterschätzen sollte man Macri also nicht. Ein Gewinner ist er.

»Für einen Peronisten kann es nichts Besseres geben als einen anderen Peronisten«, hat Juan Domingo Perón einst gesagt. Es ist die sechste der 20 peronistischen Wahrheiten, die im großen Fundus aus Zitaten, Sprüchen und Schnurren ganz oben liegen. Mit Mauricio Macri wird sich die Bewegung trotzdem gut stellen wollen – und zwar aus reinem Selbsterhaltungstrieb: Seine Gouverneure und Bürgermeister im ganzen Land hängen seit Ewigkeiten am Tropf des Präsidenten. Ohne Geld aus der Staatskasse riskieren sie, was sie am meisten lieben: Macht.

♦♦♦♦♦

Weitere Texte zur Präsidentschaftswahl im Argentinischen Tagebuch:

  1. zitiert nach Silvia D. Mercado: El relato peronista. Porque la única verdad no siempre es la realidad, Ciudad Autónoma de Buenos Aires 2015, S. 279. []
  2. Geh Teller spülen! []
  3. Pablo Ibáñez/Walter Schmidt: Scioli sectreto, Buenos Aires 2015, S. 12. []
  4. Silvia D. Mercado: El relato peronista. Porque la única verdad no siempre es la realidad, Ciudad Autónoma de Buenos Aires 2015, S. 11. []
  5. So nennen Peronisten gern Anti-Peronisten []

Faule Gnocchi, Frauenüberschuss und ein kleines Krokodil zum Abendessen: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Asunción (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Erster Tag: Formosa

♦♦♦♦♦

Sollten Sie, lieber Leser, eines Tages mit mir, aus Gründen, über die ich an dieser Stelle nicht spekulieren will,1 gemeinsam in der Wüste landen − keine Sorge, die Oase würde ich wohl finden. Falls Sie aber zu den Pyramiden wollen, die gar nicht zu verfehlen sind, fragen Sie bitte jemanden mit Orientierungssinn.

Es ist mein erster Tag im argentinischen Nordosten, ich bin 1200 Kilometer entfernt von Buenos Aires und suche die goldene Perón-Statue. Seltsamerweise stehe ich im Augenblick allerdings vor der Coca-Cola-Fabrik.

Perón-Statue in Formosa

> Perón-Statue in Formosa

Das mexikanische Unternehmen Arca Continental, dem sie gehört, ist einer der wenigen echten Arbeitgeber in der Hauptstadt Formosa und der gleichnamigen Provinz. Die 400 Jobs im Abfüllwerk sind gut bezahlt und entsprechend begehrt. Denn eine nennenswerte Industrie gibt es nicht, und Formosas Tourismus ist auch noch keine Branche, nur Slogan: »El Imperio del Verde«, das Grüne Imperium.

Wichtiger als Coca-Cola ist nur der Staat.

95 Prozent des Provinzhaushalts bezahlt die Nationalregierung. Hilfe säen, Treue ernten, so haben es auch die Vorgänger der Präsidentin Cristina Kirchner gehalten. Deren linksperonistische Siegesfront (Frente para la Victoria) erreichte bei den Parlamentswahlen vor eineinhalb Jahren 60 Prozent in Formosa – fast doppelt so viel wie im Landesschnitt. Bei ihrer triumphalen Wiederwahl 2011 hatte Kirchner hier gar 78 Prozent geholt – landesweit kam sie auf 54.

Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

> Cristina Kirchner spricht in Buenos Aires und ist in Formosa zu sehen.

Vier Tage habe ich Zeit, um Formosa und Chaco zu bereisen, jenen Teil des argentinischen Nordostens, den ich noch nicht kenne. Misiones und Corrientes, die beiden anderen Provinzen des NEA, habe ich vor zweieinhalb Jahren mit dem Auto durchquert. Vier Tage, lächerlich. Formosa ist die fünftkleinste Provinz und trotzdem größer als der Freistaat Bayern – ein weites, weitgehend leeres Land mit nur 580 000 Einwohnern.

Der goldene Perón muss hier irgendwo sein. Ich sehe ihn noch nicht, fühle ihn aber. Jeder Argentinier ist ja laut Perón Peronist, einige wissen es nur nicht. »Wir Peronisten sind wie Katzen«, hat der General gesagt. »Wenn wir schreien, glaubt man, wir würden streiten. In Wahrheit pflanzen wir uns fort.« Unmöglich, dass ich den Kerl nicht finde; das glaubt mir doch kein Peronist.

In Buenos Aires haben viele Leute den Kopf geschüttelt. Was will man in Formosa? Dort gibt’s doch nichts. Nichts außer Schmugglern, die Waren aus Paraguay – vor allem Fernseher und Mobiltelefone – auf den argentinischen Markt bringen, weil der für derlei Produkte wegen der Importrestriktionen unverschämte Preise verlangt. Zigaretten? Natürlich. Andere Drogen? Ja, auch.

Biertransport über den Río Paraguay

> Biertransport über den Río Paraguay

Übrigens hat sich der Taxifahrer auf dem Weg vom Flughafen, den Formosa tatsächlich besitzt, zum Hotel sehr böse ausgelassen über die Porteños, die Hauptstädter. »Porteños wissen alles. Deshalb mögen wir sie auch nicht«, sagte er. »Wenn du dich in Buenos Aires nicht auskennst, bist du aufgeschmissen. Dann fährt dich der Taxifahrer zehnmal im Kreis. Fragst du jemanden nach dem Weg, zeigt der hier lang, obwohl du da lang musst. Aber immer weiß er alles, der Porteño.«

Keiner − keiner außer den Porteños, versteht sich − mag die Porteños, so ist das in Argentinien. Und je weiter man sich von ihnen entfernt, umso übler wird ihr Ruf. Hier in Formosa ist die argentinische Hauptstadt in vielerlei Hinsicht sehr weit weg. Die meisten Formoseños kennen sie vor allem aus den Nachrichten oder vom Hörensagen, und über solche Kanäle exportiert Buenos Aires reichlich Geschichten über Mord und Totschlag an jeder Straßenecke. Die Metropole ist ein Moloch, bevölkert von arroganten, egoistischen und kaltherzigen Kreaturen, die überdies mehr Europäer sein wollen als Latinos. In Formosa ist jeder zweite Mestize, also Nachfahre von Weißen und Indigenen. Man lebt viel ruhiger, sagen sie und meinen auch: Wir versuchen nicht, uns 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche gegenseitig übers Ohr zu hauen.

Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

> Grenzübergang am Río Paraguay von Formosa nach Alberdi

Puerto Formosa 2

Auch geografisch liegt anderes näher als Buenos Aires: Paraguays Hauptstadt Asunción erreicht man mit dem Auto in zweieinhalb Stunden und mit dem Bus in vier. An Formosas Uferpromenade fahren halbstündlich Barkassen über den Río Paraguay nach Alberdi, dem Grenzort des Nachbarn. Dort kaufen Argentinier gerne ein, weil’s drüben billiger ist, und die Paraguayer schicken dafür ihre Kinder in Formosa zu Schule und lassen sich im Hospital de Alta Complejidad »Presidente Juan Domingo Perón« gesund machen (was nicht jedem Argentinier gefällt).

»Ufff, da hast du dich aber ganz schön verlaufen«, sagt der Mann an der Bushaltestelle. »Also, geh mal zehn Blocks geradeaus, nein elf, dann kommt eine große Kreuzung, und dort biegst du rechts ab, gehst zwei Blocks und danach …«

Immer geradeaus, dann sehen wir weiter.

»Warte, mein Chef kommt gerade«, ruft er hinterher. »Sollen wir dich an der Plaza absetzen?«

»Sicher?«

»He, du bist nicht in Deutschland. In Formosa haben wir Vertrauen zu den Leuten.«

Ich finde es ja schön, dass ihr mir vertraut, wirklich, das ehrt mich. Aber die Frage ist doch: Soll ich auch euch vertrauen?

Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

> Evita-Denkmal im Stadtzentrum von Formosa

Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

> Sportplatz in Formosa in der Nähe der Uferpromenade

Formosa ist, je nach Statistik, die ärmste, die zweitärmste oder die drittärmste aller 23 argentinischen Provinzen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist das zweitniedrigste nach dem des Nachbarn Chaco und liegt mit 2879 Dollar weit unter dem Schnitt (8269; Deutschland: 40 000). Studien zufolge sind mindestens sechs von zehn Formoseños beim Staat angestellt, was selbst in diesem Land, dessen Bürgermeister, Gouverneure, Minister und Präsidenten immer auch Jobvermittler sind, ein überragender Wert ist.

Freilich, nicht alle Staatsangestellte arbeiten auch für den Staat. Argentinien ist ja voller ñoquis (Gnocchi), Leuten, die zwar offiziell beschäftigt werden, in irgendeiner Behörde oder im Rathaus, aber nur am Monatsende zur Arbeit kommen, wenn der Lohn verteilt wird. Der Spitzname leitet sich ab von den Ñoquis del 29, einem alten argentinischen Brauch, wonach die Familie am 29. des Monats Gnocchi isst, weil das Geld in der Haushaltskasse nicht mehr für eine bessere Mahlzeit reicht.

»Danke fürs Mitnehmen, muchachos

Der Straßenmarkt der Paraguayer (Formosa)

> Der Straßenmarkt der Paraguayer

Ich gehe jetzt ein bisschen spazieren, kaufe den Paraguayern auf dem Markt ein paar CDs mit argentinischer Rockmusik ab und lege mich dann früh schlafen. Morgen muss ich fit sein.

Die neue Uferpromenade von Formosa

> Die neue Uferpromenade von Formosa

Zweiter Tag: Asunción

♦♦♦♦♦

Hätte ich doch weniger Bier getrunken. Oder wenigstens schneller. Nicht bis Mitternacht. Aber Emilio hatte mich überredet, mit Blick auf den Río Paraguay zwei Delikatessen der regionalen Küche zu kosten: als Vorspeise trozos de yacaré rebozados en harina y huevo, den Brillenkaiman aus der Familie der Alligatoren, paniert mit Mehl und Ei; und als Hauptgang Surubí al paquete, den in Folie eingewickelten Pseudoplatystoma aus der Familie der Antennenwelse. Mein erster Abend in Formosa: viel Bier, ein knuspriges kleines Krokodil und ein gut geölter Süßwasserfisch.

Surubí al paquete

> Surubí al paquete

Jetzt, um 3.45 Uhr, klingelt mein Wecker. Ich habe nicht mal Kaffee da, und die Hotelküche ist noch geschlossen, also trinke ich zwei Tassen Cola. Die Dusche gibt kein warmes Wasser. Vielleicht bin ich auch zu blöd, die drei Knäufe zu bedienen, bei mir kommt jedenfalls nur kaltes oder gar kein Wasser. Um halb fünf stehe ich vor dem Hotel. Emilio hat einen Bekannten, der nachts Taxi fährt und mich zum Busbahnhof bringen wird.

Fünf Uhr. Um den Bus nach Asunción nicht zu verpassen, kümmere mich jetzt mal selbst um ein Taxi. »In diesem Land hat man immer das Gefühl, gleich geschieht was Schreckliches, und dann geschieht gar nichts«, lässt der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez (1934-2010) eine Figur seines Romans Der Flug der Königin sagen. »Alles wird weitergehen wie bisher, du wirst schon sehen.«

Wollen wir hoffen, dass die anderen Passagiere genauso müde sind wie ich immer noch.

Busbahnhof von Formosa

> Formosas Busbahnhof morgens um halb sechs

»¡Señor! ¡Señor!«

Kann die verfluchte Alte bitte nicht so brüllen?

»¡Seeeeñññoooorrr! ¡Seeeeñññoooorrr!«

Oder kann sie der verdammte Señor mal hören?

»¡Seeeeeeññññoooooorrrrr! ¡Seeeeeeeññññoooooorrrrr!«

Ach Gott, die meint mich. Ich muss zwei Stunden durchgeschlafen haben, wir haben jedenfalls die paraguayische Grenze schon erreicht. Nur noch die freundliche Señora, ihre Tochter und ich sind im Bus. Das Mädchen, vielleicht elf Jahre alt, schaut mich verängstigt an. Wenn ich Glück hatte, habe ich nur laut geschnarcht. Mein Kinn ist allerdings ein bisschen feucht, das deutet auf sinnloses Gebrabbel im Schlaf hin – mit falscher Spanischgrammatik und schwerem Akzent. Beruhig dich, Kleines. Der alte weiße Mann ist okay.

> Argentinisch-paraguayische Grenze in der Stadt Clorinda

Paraguay 3

Ich bin der Letzte in der Schlange und stehe auch am Schalter wieder länger als alle anderen. Der Grenzbeamte studiert seelenruhig alle Aus- und Einreisestempel; ich habe bolivianische, chilenische, brasilianische, uruguayische, viele argentinische, dazu noch ein paar aus der Ukraine. Señor, ich will nur Asunción angucken. Ja, ich komme heute Abend zurück. Exactamente, ich lebe in Argentinien. , schon ‘ne ganze Weile. (Du hast doch all meine Visa, auch die abgelaufenen, zwei Minuten lang angeglotzt, ¡boludo!2)

Ringsherum sind die Geldwechsler unterwegs, einen Bündel Scheine in der Hand. Amigos, ich habe schon Guaraníes. 207 000! Emilio hat sie mir gestern Nacht geliehen, damit ich nicht bei euch Geiern zum miesen Kurs wechseln muss, sondern erst mal mit dem Taxi ins Zentrum fahren kann. 207 000 Guaraníes sind bei einem Peso-Wechselkurs von 1:380 … nee, das kann ich natürlich zu dieser frühen Stunde nicht … also irgendwas um 500 Peso vielleicht … also 50 Euro. Die Geldwechsler waren vorhin auch schon im Bus, ich habe sie im Halbschlaf gehört. Das war kein Traum, ich erinnere mich genau.

Puh, geschafft. Ich leg mich noch mal hin, lese ein bisschen und warte darauf, dass ich wegdöse.

Der Flug der Königin, erschienen 2002, verwebt die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen einem Chefredakteur und einer jungen Journalistin mit dem politischen Geschehen im korrupten Argentinien der späten neunziger Jahre, kurz vor dem Zusammenbruch. Tomás Eloy Martínez ist ein brillanter Erzähler.

»¡Venga!«

Der Busfahrer ist extra ins Oberdeck gestiegen. Mehr sagt er nicht. Ich soll nur mitkommen. Hoppla, offenbar habe ich zwar Argentinien verlassen, mich aber nicht von den Paraguayern aufnehmen lassen. Kann doch mal passieren, oder?

Na ja, sagt der Blick des Busfahrers.

Neben dem Schalter ist das Büro der paraguayischen Polizei, da muss ich jetzt auch noch schnell Hallo sagen, weil auf der Passagierliste des Busunternehmens hinter einem Namen das Häkchen fehlt. Sitzplatz 24. Ja, der bin ich.

Abfahrt.

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

> Der Río Paraguay und die Skyline von Asunción

Mein Freund Pablo schickt mir eine Nachricht. »Pass bloß auf«, schreibt er. »Die Paraguayerinnen sind äußerst warmherzig und die schönsten Frauen nach den Argentinierinnen.«

In Asunción herrscht Frauenüberschuss, wie es typisch ist für südamerikanische Metropolen. Hotels, Cafés und Restaurants, die weibliche Servicekräfte brauchen, sind auf dem Kontinent weitgehend ein Großstadtphänomen; hinzu kommt eine Wohlstandsschicht, die die Arbeit im Haushalt gern outsourct und sich bedienen lässt. Die Stadt gehört, demografisch gesehen, den Jungen: Mehr als die Hälfte aller Bewohner sind noch keine 30 Jahre alt; nur jeder zehnte hat die 60 schon überschritten.

Der Großraum Asunción ist auch einer der 20 großen Ballungsgebiete Südamerikas. Mehr als zwei der 6,7 Millionen Paraguayer leben hier. Täglich, so schätzt man, fahren 2,1 Millionen Menschen und mehr als 300 000 Fahrzeuge hinein in die Hauptstadt. Offiziell heißt sie übrigens: La Muy Noble y Leal Ciudad de Nuestra Señora Santa María de la Asunción, die sehr noble und treue Stadt unserer Heiligen Jungfrau Mariä Himmelfahrt. Asunción ist auch eine der ältesten spanischen Städte des Kontinents, gegründet 1537, eineinhalb Jahre nach Buenos Aires.

Ich kenne überhaupt keine andere paraguayische Stadt.

Der bekannteste Paraguayer?

Für mich: Roque Santa Cruz.

 

Der Polizist vor dem Busbahnhof meint, das Taxi ins Zentrum werde ungefähr 50 000 Guaraníes kosten. Mhhmm, das macht, du hast es gleich, fuffzig durch dreikommaacht, sagen wir: vier, la puta madre,3 ist das ein Wechselkurs de mierda, fuffzig durch vier sind zwölf, und jetzt noch die Nullen hinten dran, la concha de mi hermana,4 so schwer ist das doch … ach komm, gib auf, unmöglich. Versucht hast du‘s ja.

Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

> Die paraguayische Nationalbank im Stadtzentrum von Asunción

Palacio de los López, der Präsidentenpalast

> Palacio de los López, der Präsidentenpalast

Das Nationalparlament

> Das Nationalparlament

Paraguay 9

Catedral Metropolitana, Bischofskirche des Erzbistums Asunción

> Catedral Metropolitana, die Bischofskirche des Erzbistums Asunción

Ich beschließe, mich treiben zu lassen. Kein Stadtplan. Mir bleiben ohnehin nur fünf, sechs Stunden, bis der Bus zurückfährt, und ich weiß ja ungefähr, was ich sehen will: das Parlamentsgebäude, die Kathedrale, den Panteón de los Héroes, in dem die Reste der Kriegshelden aufbewahrt werden, den stillgelegten Hauptbahnhof von 1861 und natürlich den Palacio de los López, den Präsidentenpalast. Seit zwei Jahren regiert dort der Konservative Horacio Cartes, ein gelernter Flugzeugmechaniker und Tabakbaron.

Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

> Auf dem Heldenplatz, der Plaza de los Héroes

Paraguays Ruf ist ja nicht der beste: Armut, Schulden, Korruption und Ungleichheit – von all dem hat das Land reichlich, mehr als viele andere Länder. Selbst für südamerikanische Verhältnisse soll es bisweilen ziemlich gesetzlos zugehen, und die Vetternwirtschaft hat ohnehin eine lange Tradition. In unguter Erinnerung sind auch die 35 Dienstjahre des Präsidenten Alfredo Stroessner (1954-1989). Der Sohn eines Buchhalters aus Oberfranken und einer Guarani-Indianerin war ein glühender Antikommunist und Tyrann, was erfahrungsgemäß keine angenehme Kombination ist. Stroessner ließ Widersacher foltern und trieb eine Million Landsleute ins Exil. Franz Josef Strauß verlieh ihm 1973 den Bayerischen Verdienstorden.

Ich kaufe doch mal einen Stadtplan. Wegen Pablos Auftrag sehe ich mittlerweile bloß noch Banken und Geldautomaten. Aber ich fühl mich wohl, ich bin vielleicht sogar verliebt, ein kleines bisschen. Eine Großstadt, die nicht unaufhörlich brüllt –  so etwas kennt man nach fast drei Jahren in Argentinien ja gar nicht mehr. Asunción ist jedenfalls zur Mittagszeit leiser als Buenos Aires nachts um drei, und das liegt nicht bloß an der Müllabfuhr, die dann durch unsere Straße rumpelt. (Also, jede Nacht um drei.) Hier ist es, als ob man Ohrenstöpsel trüge, so gedämpft erzählt Asunción von sich.

Der Stadtplan kostet 20 000 Guaraníes. Bestimmt ein Schnäppchen. ¡Vamos!

Polizistenverschnaufpause

> Polizistenverschnaufpause

Argentinier im Allgemeinen halten eher wenig von ihren Nachbarn – und trotzdem viel mehr als die umgekehrt von ihnen. Auf die Bolivianer, Brasilianer, Chilenen, Paraguayer und Uruguayer wirken sie überheblich und laut. Der Argentinier, heißt es, fällt, das Trikot seines Fußballklubs stets am Leib, ins fremde Land ein, flucht unaufhörlich und fordert: Bewundert mich!

Es ist kein Geheimnis: Argentinier bilden sich auf ihre Herkunft viel ein, obwohl es mit dem Land im Grunde seit 80, 90 Jahren − die Spanier sagen: seit dem 9. Juli 1816bergab geht. »Wenn ich abends nach Hause komme, ist die Straße menschenleer. Ich sehe nur Bettler, die sich daherschleppen«, sagt die junge Journalistin im Flug der Königin zu ihrem Geliebten, dem Chefredakteur. »Wir sind uns dessen gar nicht bewußt, Bitte,5 aber Buenos Aires verändert sich. Es ist ein Schmetterling, der ins Larvenstadium zurückschlüpft.«

Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

> Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Asunción: Ein Elendsviertel hinter dem Nationalparlament

Aber die ganz alte Vergangenheit glänzt nach wie vor. Lange war Argentinien ja die größte Nummer auf dem Kontinent. Die erste U-Bahn Lateinamerikas (und der gesamten Südhalbkugel) fuhr 1913 in Buenos Aires, auch das erste Kinderkrankenhaus (1875) stand hier. Es war ein Argentinier, der Chirurg René Favaloro, dem 1961 die erste Bypass-Operation am Herzen gelang. Der erfolgreichste Formel-1-Fahrer, bevor der Kerpener kam? El Balcarceño, Juan Manuel Fangio, fünfmal Weltmeister in den fünfziger Jahren, 24 Siege in 51 Rennen. Das schönste und beste Opernhaus der Welt laut Wilhelm Furtwängler, dem Jahrhundertdirigenten? Das Teatro Colón, eröffnet 1908 und fast gelegen an der breitesten Straße der Welt, der 9 de Julio. Wer kann bei so viel Pracht schon mithalten?

> Verlassener Mate

> Verlassener Mate

> Fotograf im absoluten Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

> Fotograf im Parkverbot neben dem Panteón de los Héroes

Die Nachbarn rächen sich mit schlechten Witzen. Wie begeht ein Argentinier Selbstmord?, fragen sie. – Er springt von seinem hohen Ego. Warum rennt er aus dem Haus, wenn‘s draußen blitzt? – Er denkt, Gott fotografiert ihn.

Ganz schön warm heute in Asunción. Ich kann die Jacke wohl ausziehen. Mein Trikot: das weiße vom Quilmes Atlético Club.

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

> Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Clorinda, der argentinische Grenzort, am Abend

Paraguay 17

  1. weil es nur um den fabelhaften Einstieg in diesen Text geht []
  2. Schwachkopf/Depp, sehr beliebte Anrede in Argentinien []
  3. argentinischer Fluch: puta = Hure, madre = Mutter, la = die []
  4. das Geschlechtsorgan meiner Schwester, nur derber []
  5. ihr Spitzname für den Chefredakteur []

¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch

von DIRK RÜGER

 

Der Autor lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

♦♦♦♦♦

»¡Estás igual!«, kräht es jedes Mal aus dem Mund meiner Freundinnen und Freunde. »Du hast dich gar nicht verändert!« Einerseits sind das ja die Komplimente, die man gerne hört mit fast 44. Andererseits ist es immer so eine Sache mit dem »Sich-nicht-verändert-Haben« – selbst wenn das zunächst nur der erste Eindruck ist, vor allem rein äußerlich gemeint.

Eine Ewigkeit − 17 Jahre − ist es her, dass ich Argentinien und vor allem Buenos Aires verlassen habe, wo ich (lediglich) zwei Jahre gewohnt, gelebt, studiert habe. Vor der Wirtschaftskrise (welcher denn?) 2001. Mit meiner damals hochschwangeren argentinischen Exfrau flogen wir im Juni 1998 nach Berlin. Ich wollte nur mein Studium beenden und dann spätestens nach dem Examen wieder zurückkehren nach Argentinien. Dann machte uns die große Krise einen Strich durch die Rechnung. Die Straßen brannten, und das halbe Land versank in Armut.

Juristische Fakultät

> Eine breite Straße in den Norden von Buenos Aires: die Avenida Figueroa Alcorta mit der Juristischen Fakultät (r.)

Ich war 1996 nicht unvorbereitet nach Argentinien gekommen. Ich hatte zuvor schon große Teile Südamerikas bereist, hatte in Perú ein Praktikum in einer Schule gemacht. Ich hatte durch mein Lateinamerikanistik-Studium und argentinische Freundinnen und Freunde Ahnung von Literatur (Sábato, Córtazar, Borges), Rockmusik (Sumo, Charly, Fito), Sozio-Kultur (Perón, Mate, Tango, Gauchos) und den Besonderheiten der Sprache (vos, che).

> Ezeiza, der internationale Flughafen von Buenos Aires

> Buenos Aires und sein berühmter Fluss, der Río de la Plata

Schon als ich das erste Mal in Buenos Aires ankam und mich mein Freund der Reisebürobesitzer (damals noch Student von irgendwas, jetzt in México lebend) in dem alten Fiat seiner Eltern vom Flughafen Ezeiza abholte, fühlte ich mich wie zu Hause. Obwohl ich bis dahin die Stadt nur aus Erzählungen von einem fünftägigen Besuch in Mendoza kannte: »Wenn du Argentinien richtig kennenlernen willst, musst du unbedingt nach Buenos Aires, das ist der Wahnsinn!«. Und das war auch 1996 schon mehr als zwei Jahre her.

Ich erlebte zunächst ein bonaerensisches Klischee: die italienische Einwandererfamilie des Reisebürobesitzers im »Vorort« Olivos, Boca-River-Fußballspiele im Fernsehen, sonntags selbstgemachte Lasagne, meine ersten Milanesas (argentinische Schnitzel, dem Wienerschnitzel nicht unähnlich, aber viel besser!), abends in Palermo Viejo im Auto vor irgendeinem Kiosk mit den Freunden Bier trinkend, die Wochenenden in Tigre mit Bootsfahrten, Asado und Mate.

Asado: Morcillas (Blutwürste), chorizo (Bratwurst) und Pollo (Huhn)

> Asado: morcillas (Blutwürste), chorizos (Bratwürste) und pollo (Huhn)

Danach tauchte ich ins Studentenleben ein, wohnte erst bei einer exaltierten Architektin in einer Designer-Wohnung im Bezirk Caballito, inklusive US-amerikanischen und brasilianischen Mitbewohnerinnen, und brachte argentinischen Yuppies Englisch in einer Sprachschule bei. Danach zog ich übergangsweise ins Barrio Once, in das Zimmer eines mir über zwei Ecken bekannten Dramaturgen (in dessen WG ich das Licht-Double von Brad Pitt in »Sieben Jahre in Tibet« kennenlernte, der damals in Mendoza gedreht wurde), und schließlich zu meiner Freundin der Theater-Lehrerin nach Chinatown. Das bestand damals nur aus drei Blocks der Straße Arribeños im Stadtteil Belgrano.

Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im Norden der Hauptstadt

> Chinatown auf Argentinisch: das Barrio Chino im im Stadtteil Belgrano

Ich las pro Woche zwei Romane in einem Seminar über argentinische zeitgenössische Literatur an der UBA, bestellte Heiligabend Eis per Liefer-Service, tanzte ein einziges Mal Tango, und zwar auf der Hochzeit meiner Freundin der Schauspielerin, besuchte Vorlesungen bei Beatríz Sarlo über Postmoderne in Argentinien, lernte von meinem Freund dem Dichter die Besonderheiten des Gangster-Slangs »Lunfardo« und ging abends auf Konzerte von Divididos, Illya Kuryaki and the Valderramas oder El Otro Yo und in Clubs wie das »Nave Jungla«, wo das Service-Personal aus Kleinwüchsigen bestand und man vor zwei Uhr morgens noch verbilligten Eintritt bezahlte.

Ich fühlte argentinisch, ich war porteño.

Und dann: 17 Jahre weg.

> Das Microcentro von Buenos Aires und ganz entfernt ein Wahrzeichen der Stadt: el Obelisco

Natürlich hat Argentinien auch danach eine Rolle in meinem Leben gespielt. Ich war in Berlin weitere acht Jahre mit einer Argentinierin zusammen. Ich redete in dieser Zeit mehr spanisch als deutsch. Ich trank weiterhin Mate, Familie und Freundinnen berichteten uns über die aktuelle politische Lage, ich gab eine spanischsprachige Zeitung heraus.

Aber 17 Jahre keinen Fuß auf argentinischen Boden.

Ich war so aufgeregt wie nur was. Und hatte auch Angst.

Die Argentinier so:

17 Jahre? Das ist so, als wärst du noch nie da gewesen! Alles hat sich total verändert. Und die Kriminalität! Alles ist viel schlimmer! Du kannst keinen Schritt mehr vor die Tür machen, ohne dass du Angst haben musst, überfallen zu werden. Und wenn du in Ezeiza ankommst: Pass bloß auf mit den Taxis. Nimm bloß kein Taxi, das nicht registriert ist! Es ist schon so viel passiert!

Ich habe meine argentinischen Freundinnen und Bekannten so gelöchert und genervt, dass ich gut verstanden hätte, wenn sie mich aus ihrem Facebook-Freundeskreis gestrichen und einfach nicht mehr geantwortet hätten.

Aber außerdem war ich auch aufgeregt, weil ich meiner deutschen Ehefrau, die noch nie in Argentinien gewesen war, den Ort zeigen wollte, den ich 17 Jahre nicht gesehen hatte. Ich hoffte natürlich, dass sie Buenos Aires genauso liebte wie ich.

Es hat sich nichts verändert. Als unsere Freundin die Schauspielerin uns in den Arm nimmt und »¡Pero estás igual, che!« zu mir sagt; als wir das erste Mal in einen »bondi«, den Stadt-Bus, steigen und ich sofort, ohne Stadtplan, wieder weiß, wie Buenos Aires funktioniert, wie die Stadt tickt, wie man in diesem Geschoss freihändig stehen muss, um bei dem rasenden Tempo durchs Verkehrs-Chaos nicht umzufallen, worauf man achten muss, um die Ziel-Haltestelle nicht zu verpassen: Da ist es, als wäre ich nie weg gewesen. Die Freude darüber, dass Freundschaften, die quasi 17 Jahre auf Eis gelegen haben, sich nach nicht mal einer Minute wieder so anfühlen, als hätten wir erst gestern zusammen Mate getrunken − diese Freude lässt sich kaum beschreiben.

Und, na klar, es hat sich auch vieles verändert. Meine Freundinnen von damals sind keine Studenten, Biochemikerin, Bonaerenser, Argentinier mehr, sondern jetzt Reisebürobesitzer, Schauspielerin, Cordobesen, Mexikaner und Pariserin, alle sind älter und bis auf einen auch Eltern geworden. Aber die italienischen Reisebürobesitzer-Eltern wohnen immer noch in Olivos, und die Mutter hat extra für uns frische Pasta handgemacht. Das Barrio Chino, also Chinatown, ist nur ein paar Blocks gewachsen, und die alte Gänsehaut, die ich jedes Mal hatte, wenn ich am Río de la Plata stand und bis zum Horizont nur Süßwasser sah, stellt sich auch sofort wieder ein.

Río de la Plata

> Die direkteste Verbindung nach Uruguay: über den Río de la Plata

Aber auch: Meine Frau ist von dem 17-Millionen-Moloch anfangs ganz schön überfordert − und nicht erst, als wir direkt an einem Slum vorbei im Dunkeln zur zehn Minuten entfernten Bahnstation laufen müssen, um von dort zum Busbahnhof zu fahren, der neben einem anderen, noch viel größeren Slum liegt. Und das alles vor einer zwölf Stunden langen Busfahrt in Richtung Córdoba.

Argentinisch Reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

> Argentinisch reisen: im Bus, mangels Zugverbindungen

Und ja (ganz realistisch): Buenos Aires ist nicht mehr der verklärte Sehnsuchtsort, an den auszuwandern ich mir vorstellen kann, wenn wir alt sind. Es wird wohl doch eher Uruguay, in das wir uns verliebt haben, insbesondere Colonia del Sacramento. Von dort ist man mit der schnellen Fähre auch in einer Stunde drüben, nur für den Fall, dass sich meine Sehnsucht alle zwei Wochen bei mir meldet und um ein Wiedersehen mit Buenos Aires bittet. Meine Frau begleitet mich sicher auch gern, und sei es nur, um bei unserer Freundin der Schauspielerin auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen und ein helado von der Eisdiele um die Ecke zu essen. Am letzten Tag hat sie, die Quasi-Italienerin, übrigens zugeben müssen, dass dieses Eis (fast) besser schmeckt als das italienische.

Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

> Leben wie ein Argentinier: Mate und Sonnenschein

Und noch: Auf die Frage meiner Frau, was denn anders sei als auf der Nordhalbkugel, wusste ich, trotz jahrelangem Aufenthalt und wiederholten Reisen auf die Südhalbkugel, nur zu erwidern, dass ich gelesen hätte, der Strudel im Klo drehe sich in »die andere« Richtung. Außerdem wusste ich, dass man das »Kreuz des Südens« am Himmel sehen kann und die Jahreszeiten »umgekehrt« zum Norden stattfinden.

Meine kluge Frau hat schon am ersten Abend in Buenos Aires gemerkt, dass der Mond spiegelbildlich, in die jeweils andere Richtung hin, zu- und abnimmt und dann später auch, dass die Sonne mittags im Norden im Zenit steht und nicht wie bei uns zu Hause in Berlin im Süden.

Heute vor elf Jahren: Der Präsident räumt in der Geschichte auf

von CHRISTOPH WESEMANN

Eines der berühmtesten Fotos des kirchneristischen Narrativs stammt vom 24. März 2004. Es zeigt Präsident Néstor Kirchner, wie er am Jahrestag des Staatsstreiches von 1976 in der Militärschule die Porträts der Ex-Diktatoren Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone von der Wand nehmen lässt. Kirchner, zehn Monate im Amt, verurteilt die Diktatur als Staatsterrorismus gegen das argentinische Volk. Vor allem aber gelingt ihm eine besonders symbolträchtige Geste, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben wird.

Historischer Augenblick: Staatspräsident Néstor Kirchner in der Militärschule                                                                   Foto: Casa Rosada

Denn erstens bekräftigt Kirchner, als er die Bilder abnehmen lässt, seinen Willen, die Täter juristisch nicht länger zu schonen. Das Bekenntnis zu den Menschenrechten gehört zu den unauslöschlichen Grundsätzen kirchneristischer Ideologie – nun wird es besiegelt. Im Alltag und im Wahlkampf spielt dieses Bekenntis zwar kaum eine Rolle. Nach innen, als Band innerhalb der Bewegung, hat es indes eine besondere Bedeutung. Zweitens geht der neue Präsident auf Abstand zum Staat, der nicht nur in der Diktatur versagt hatte, sondern als Folge des Zusammenbruchs von 2001 noch immer eine »massive Ablehnung des gesamten politischen Establishments«1 erlebt: Nur noch sieben Prozent der Argentinier geben in Umfragen an, der gesetzgebenden Gewalt (poder legislativo) zu vertrauen – 1984 waren es noch 73 Prozent gewesen. Drittens grenzt er sich von Carlos Menem ab, der als Präsident (1989 bis 1999) die Aufklärung der Diktatur aufgab und Videla und andere hochrangige Militärs begnadigte. Er war zudem mitverantwortlich für die Ende der neunziger Jahre aufziehende ökonomische und institutionelle Krise.

Kirchner, einst peronistischer Gouverneur der patagonischen Provinz Santa Cruz, wurde 2003 mit gerade einmal 22 Prozent der Stimmen Präsident. Ins Amt gelangte er als Kandidat des Anti-Menemismus, »als geringeres Übel«2 – einer Mehrheit war vor allem wichtig gewesen, nicht ein drittes Mal von Menem regiert zu werden. Der Ex-Präsident hatte den ersten Wahlgang knapp gewonnen, dann aber angesichts schlechter Umfragewerte auf die Stichwahl verzichtet und so den Weg für Kirchner freigemacht. Der Sieger propagierte weiter eine Politik der Entmenemisierung und begann auch entsprechende Reformen, hob die Amnestiegesetze auf und erneuerte die Führung von Justiz, Polizei und Militär. Das stabile Wirtschaftswachstum von mehr als acht Prozent jährlich ermöglichte eine expansive Ausgabenpolitik, die sich deutlich unterschied vom neoliberalen Modell. Seine persönlichen Zustimmungswerte erreichten zeitweise fast 80 Prozent; sie lagen damit weit über denen anderer Politiker und aller demokratischen Institutionen.3

Néstor Kirchner inszenierte sich als Regierungschef, der die Forderungen der Massenproteste von 2001 aufgreift und Argentinien nach links führt; ein Kurs, der den Tod des Anführers 2010 überlebt hat und heute von seiner Nachmieterin im Präsidentenpalast, Cristina Kirchner, vertreten wird, »auch wenn es sich teilweise um Rhetorik handelt«4. So entstand eine Bewegung, die wie keine andere seit dem Ur-Peronismus der vierziger und fünfziger Jahre Argentinien verändert hat, nach Hegemonie strebt und polarisiert.

♦♦♦♦♦

Der Kirchnerismus selbst versteht sich als Nachfolger der setentistas, des national-revolutionären Flügels des Peronismus der siebziger Jahre. In dieser Zeit hatten linke und rechte Peronisten um die Vorherrschaft gerungen, teilweise mit Waffengewalt. Die Montoneros, eine peronistische Guerillaorganisation, hatten damals eine nationale sozialistische Republik erkämpfen wollen. Als Juan Domingo Perón 1973 nach 18 Jahren aus dem Exil zurückkehrte, kam es am internationalen Flughafen von Buenos Aires zu einem Blutbad zwischen beiden Lagern. Perón selbst verweigerte sich dem Linksruck. Er war mit 62 Prozent zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt worden, besaß aber, bereits alt und gebrechlich, nicht mehr die einstige Autorität.

Nach seinem Tod gab die Regierung, nun angeführt von Peróns dritter Frau Isabel, der Armee den Auftrag, die Guerilleros zu bekämpfen. Am Ende stand die Militärdiktatur, von der sich viele eine neue Ordnung nach dem Chaos der Gewalt auf den Straßen versprachen. Die Montoneros gehörten zu den Verlierern und Opfern dieses schmutziges Krieges, den Argentinien von 1976 bis 1983 erlebte.

La Cámpora März 2015

La Cámpora, die kirchneristische Nachwuchsorganisation, vor dem Präsidentenpalast (12. März 2015)

20 Jahre später waren sie es, denen Néstor Kirchner das Gefühl gab, sie zählten zu den »Gewinnern der Geschichte«5. Kinder der Montoneros und der sogenannten desaparecidos (Verschwundenen) wurden Stützen der Regierung, gelangten über kirchneristische Nachwuchsorganisationen wie La Cámpora in Führungspositionen von Verwaltung, Staat und Staatsunternehmen oder wurden Parlamentsabgeordnete.6

♦♦♦♦♦

Im Innersten ist der Kirchnerismus eine verspätete Bewegung, die nachzuholen verspricht, was einst gescheitert ist. Sie verheißt Wiedergutmachung, auch materiell. Das macht sie so attraktiv für frühere Montoneros und deren Nachwuchs, für Menschenrechtsaktivisten und Anhänger der verblühten Piquetero-Bewegung7. Die Hoffnung auf Einfluss und Vorteile hält die Kirchneristen wesentlich zusammen. »Durch die Kirchners regiert in Argentinien heute der intellektuelle Linksperonismus der Siebzigerjahre.«

Dass die Kirchners tatsächlich aus Überzeugung links waren und sind, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Es könnte auch der pure Pragmatismus sein, eine Orientierung am politischen Zeitgeist, eine bloße Machtstrategie. Es wird gern daran erinnert, dass Néstor Kirchner vor seiner Präsidentschaft weder Interesse an den Menschenrechten noch an den Müttern der Plaza de Mayo gezeigt habe, jener Organisation, die zur Garantie seiner Legitimität wurde.

 

Im April 1977 hatten sich die Frauen mit den weißen Kopftüchern zum ersten Mal vor dem Präsidentenpalast versammelt, um schweigend an das Schicksal ihrer verschwundenen Söhne und Männer zu erinnern. Weltweit wurden sie für ihren Mut bewundert. In den vergangenen Jahren hat ihre Strahlkraft jedoch erheblich nachgelassen; man wirft ihnen vor, von der Treue zur Regierung auch finanziell erheblich zu profitieren. Umstritten ist vor allem die Anführerin Hebe de Bonafini, eine radikale Linke, die für die kubanische Revolution schwärmt, die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) bejubelte und über die Anschläge vom 11. September 2001 sagte, diese hätten ihr »überhaupt nicht wehgetan«. Zudem bereicherten sich – angeblich ohne Wissen Bonafinis – leitende Angestellte der Organisation beim sozialen Wohnungsbau in den Elendsvierteln, den die Regierung den Müttern überlassen hatte.

♦♦♦♦♦

Der Journalist James Neilson bezweifelt, dass es zwischen den vier großen Caudillos des Peronismus – Perón, Menem, Néstor und Cristina Kirchner – große Unterschiede gebe:

Alle sind Opportunisten gewesen. Ihre vermutlichen Überzeugungen hatten mehr mit den Umständen zu tun, die sie vorgefunden haben, als mit irgendwelchen unverzichtbaren Prinzipien, die zu haben sie schworen.8

Neilson spekuliert, dass Perón der Labour-Partei nachgeeifert hätte, wäre er erst 1950 und nicht schon 1946 Präsident geworden; Menem sei an die Macht gekommen, als in den neunziger Jahren der Neoliberalismus als »Zukunftswelle« gegolten habe.

Er hatte vor, auf ihr besser als irgendein anderer lateinamerikanischer Führer zu surfen. Die beiden Kirchners (…) hätten genauso gehandelt. Wenn Menem seine Präsidialkarriere 2003 begonnen hätte, würde er mit Krallen und Zähnen das heilige Modell der Inklusion verteidigen, zu dem sich Cristina weiter bekennt.9

Für einzigartig und innovativ hält den Kirchnerismus vor allem: der Kirchnerismus. Man sei mehr als eine Person, sagte  Präsidentin Cristina Kirchner im Oktober 2013 in einem Fernsehinterview. »Das ist der Unterschied zu anderen politischen Richtungen, die der Peronismus angeführt hat und die auf einer Person beruhten, die später bedeutungslos wurde.«

  1. Wolff, Jonas: Vom »Argentinazo« zu Néstor Kirchner. Krisen und Überleben der argentinischen Demokratie (2001-2007), in: Birle, Peter/Carreras, Sandra (Hrsg.): Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität, Frankfurt am Main 2010, 55-72, S. 62. []
  2. Ders., S. 63. []
  3. Ders., S. 62-63. []
  4. Werz, Nikolaus: Einleitung: Politische Gesichter Lateinamerikas, in: Ders. (Hrsg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika. Frankfurt am Main 2010, 10-48, S. 90. []
  5. Werz, Nikolaus: Argentinien, Schwalbach/Ts. 2012, S. 47. []
  6. Di Marco, Laura: La Cámpora, Buenos Aires 2012. []
  7. Piqueteros, abgeleitet von piquete (Streikposten) protestieren in Argentinien gegen Arbeitslosigkeit und schlechte Lebensverhältnisse, indem sie stunden-, manchmal tagelang wichtige Straßen blockieren und so den Verkehr aufhalten. []
  8. Neilson, James: Perón y sus muchach@s, in: Noticia extra. 10 años de kircherismo, 2010, S. 32. []
  9. Ders., S. 32 []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)