Leo Messi und die argentinische Volkskrankheit
von CHRISTOPH WESEMANN
Es ist ein Sieg, der Philosophen glücklich macht. Sekunden nach dem Abpfiff hat der argentinische Freund, der gern in Europa leben würde, eine SMS geschickt: »Wir Argentinier warten immer auf den Heiland. Es gibt keine Mannschaft.«
Nur Leo Messi mit seinem Traumtor hat die weißhimmelblaue Nationalelf am Sonnabend vor einem peinlichen Unentschieden gegen Iran bewahrt. Irgendjemand hat mal gesagt: Wenn Diego Maradona Neuseeländer wäre, hätte Neuseeland 1986 in Mexiko den Titel geholt. Die Weltmeisterschaft gewann Argentiniens ewiger Goldjunge mit einer eher durchschnittlichen Mannschaft um sich herum.
Argentinier folgen gern, und wenn der, dem sie lange gefolgt sind, sie enttäuscht, folgen sie dem Nächsten, obwohl, nein: weil der das Gegenteil verspricht. Er stilisiert sich selbst dann zum Antipoden, wenn er lange dem Enttäuschenden nachgelaufen ist. Wer ist im Augenblick Argentiniens Oppositionsführer, der Gegenspieler der Präsidentin Cristina Kirchner und einer der aussichtsreichen Kandidaten auf ihre Nachfolge, wenn im Oktober 2015 gewählt wird? Sergio Massa. Wer war Massa? Vor ein paar Jahren arbeitete er als Kabinettschef der Präsidentin, war also Kirchners – zumindest dem Organigramm nach – wichtigster Mann. Er koordinierte ihr die Regierungsgeschäfte. Heute ist er Antikirchnerist und versammelt um sich auch enttäuschte Kirchneristen.
Erscheinungen wie diese – Heiland Messi, Hoffnungsträger Massa – sind auch ein Erbe des dreimaligen Präsidenten Juan Domingo Perón. Mitte der vierziger Jahre beginnt sein Aufstieg, er gibt den Anpacker und Erlöser. Er erkennt, dass er Wahlen gewinnen kann, indem er Massen begeistert: Argentiniens Arbeiter und Argentiniens Arme. Schon vorher als Arbeitsminister hat Perón einen gewaltigen Ruf: Er ist der »Repräsentant eines hemdsärmeligen, informellen politischen Stils«1, der auf demokratische Spielregeln pfeift. Und er hat Evita. Peróns zweite Frau reist durch dieses riesige Land, verteilt Fahrräder, Puppen, Betten, Schuhe und Gebisse, eröffnet Krankenhäuser und Schulen, sie wirft Geldscheine aus dem Zug und ist Trauzeugin Tausender Paare. Wer Evita begegnet, der fühlt sich »vom Zauberstab einer Heiligen berührt«, wie die Journalistin und Buchautorin Silvia Mercado sagt. Ende der vierziger Jahre erhält die Arbeiterklasse zum ersten Mal Rechte: den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, den bezahlten Urlaub. »Perón cumple, Evita dignifica«, heißt die berühmte Parole dieser Zeit. »Perón schafft es, Evita verleiht Würde.«
Perón, ein Revolutionär und Populist, hat den Staat vermeintlich allmächtig gemacht. Seine Anhänger singen bis heute, oft unter Tränen: »Perón, Perón, wie großartig du bist!/Mein General, wie wertvoll du bist!/ Perón, Perón, großer Führer,/Du bist der erste Arbeiter!« Doch Argentinien trägt schwer an diesem Glauben. Dass man bis hinauf in die Oberschicht vom Staat viel erwartet (und zugleich von seinen Repräsentanten wenig hält), scheint fast zur unheilbaren, ansteckenden Volkskrankheit geworden zu sein.
Vieles ist geregelt in Argentinien, und was noch nicht geregelt ist, wird es vielleicht bald sein. Ein Gesetz verbietet, dass in der Provinz Buenos Aires – so groß wie Deutschland – im Restaurant Salz auf dem Tisch stehen darf. Argentinier essen nämlich mehr davon als andere und mehr als ihrer Gesundheit gut tut. Also versteckt die Politik den Streuer – in vielen anderen Ländern werden selbst Kinder erwachsener behandelt. (Das Salz ist trotzdem oft auf dem Tisch, aber das ist eine andere argentinische Geschichte.)
Hiesige Politiker haben ein besonders negatives Bild von ihren Untertanen. Präsidenten, Gouverneure (die die Provinzen regieren) und Bürgermeister treten gern wie Familienoberhäupter auf und versprechen, sich um das Wesentliche zu kümmern. Man beruft sich zwar fortwährend aufs Volk, auf dessen Willen, tatsächlich aber geschieht dies ohne die Absicht, echte Mitbestimmung zuzulassen. Politik wird in Argentinien mehr als in Deutschland auf der Straße oder im Viertel gemacht − und zugleich im hintersten Hinterzimmer. Wer Macht hat oder haben will, muss Massen mobilisieren. Wenn die eigenen Anhänger Fußballstadien oder große Plätze füllen (und teilweise angekarrt oder sogar gekauft werden), dann ist das eine Art Plebiszit, eine Volksabstimmung, über die der Anführer seinen Kurs legitimiert, ohne tatsächlich darüber abstimmen zu lassen. Die Parteien und Bündnisse lassen es sich gefallen, solange der Chef Wahlerfolge verspricht.
Vor Jahren schrieb Josef Oehrlein von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
Lateinamerika leidet noch immer vor allem unter dem Caudillismo, jener Sucht, die manche Politiker befällt und sie glauben lässt, sie seien die Einzigen, die ihr Land aus dem Elend führen können und die dabei doch hauptsächlich persönliche Neigungen und nicht selten die eigenen Taschen bedienen.
Der Glaube an die Schaffenskraft des Patriarchen wurzelt tief. Schon die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wurden angeführt von Mitgliedern der Oberschicht. Die Befreiung von den Kolonialherren war gerade kein Volksaufstand, kein Umsturz von unten, keine echte Revolution. All die Männer, die bis heute als Befreier fast religiös verehrt werden, ob José de San Martín oder Simón Bolívar, waren fast ausnahmslos Söhne aus dem Großbürgertum. Nicht einmal Che Guevara, der Posterboy der Antifaschisten und Antiimperialisten, kam aus der Arbeiterklasse.
»Alles hängt von Messi ab«, sagen viele in Argentinien. Aber Messi ist − anders als Maradona 1986 − nicht in der Form seines Lebens, und selbst wenn er’s wäre: Neuseeland würde mit ihm heute niemals Weltmeister werden. Der Fußball des 21. Jahrhunderts ist komplex, taktisch viel durchtriebener; die Superstars, ob Cristiano Ronaldo, Neymar oder Messi, werden notfalls 90 Minuten lang von drei Gegenspielern gestört. Dann eröffnen sich zwar Räume für die Kameraden ringsum, aber diese Freiheit muss erkannt und ohne Angst genutzt werden. Erinnert man sich nach 180 argentinischen WM-Minuten an irgendeine besondere Szene von Kun Agüero oder Gonzalo Higuaín, Ángel Dí María oder Javier Mascherano, allesamt zentrale Spieler großer europäischer Klubs? Nein, sie haben Messi nicht entlastet.
Dem Anführer ist außer den zwei Wahnsinnstoren bislang wenig gelungen. Man kann sich vorstellen, wie es ohne Treffer um Leo Messi augenblicklich stünde in Argentinien.
Ich habe im vergangenen Jahr den Aufsatz »Evita Perón – Die Heilige, die nicht sterben darf« geschrieben. Erschienen ist er im Buch »Oh Du geliebter Führer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert« (Ch. Links Verlag). Das Zitat der argentinischen Journalistin Silvia Mercado entstammt dem Interview, das ich mit ihr geführt habe.
- Birle, Peter: Parteien und Parteiensystem in der Ära Menem – Krisensymptome und Anpassungsprozesse, in Peter Birle/Sandra Carreras (Hrsg.). Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität. Frankfurt am Main 2010, S. 215-216 [↩]