Archiv für 2012

Pille auf Staatskosten

von CHRISTOPH WESEMANN

Da sage noch einer, Politiker hielten ihre Wahlkampfversprechen nicht. Auch zukünftig »Fútbol para todos«, »Fußball für alle«, hatte Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ihrem Land versprochen, als sie sich im vergangenen Jahr um eine zweite Amtszeit bewarb. Und sie gewann die Wahl im Oktober mit 53 Prozent.

»Fußball für alle« meint: Die Spiele der Ersten Liga werden seit drei Jahren im frei empfangbaren Fernsehen gezeigt, gestern Abend zum Beispiel Meister Arsenal FC aus Sarandí (bei Buenos Aires) gegen Unión (aus der Provinz Santa Fe) und Vélez Sársfield (aus Buenos Aires) gegen Argentinos Juniors (aus Buenos Aires). Heute Abend schaue ich mir an, wie die Boca Juniors (aus Buenos Aires) gegen Quilmes AC (aus der Provinz Buenos Aires) gewinnen, und am Sonntag gönne ich mir die Heimniederlage von River Plate (aus Buenos Aires) gegen Belgrano (aus Córdoba).

(Dass die Primera División ein bisschen hauptstadtlastig ist, behaupten nur Deutsche. Hertha BSC Berlin hat gestern Abend übrigens 2:2 gespielt. Zu Hause. Gegen Paderborn.  Primera B Nacional.)

»Canal 7« überträgt, und was »Canal 7« nicht überträgt, überträgt »Canal 9«, und was »Canal 9« nicht überträgt, überträgt »América«. So einfach ist das. Der Steuerzahler Staat bezahlt seit 2009 die Übertragungsrechte, immerhin 110 Millionen Euro pro Jahr. »Die Verquickung von Sport und Politik ist in Argentinien so verhängnisvoll wie in kaum einem anderen Land«, schrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« damals über den Deal zwischen Regierung und Fußballverband, zwischen dem Präsidentenpaar Kirchner und dem Allmächtigen: Julio Grondona, einem der übelsten Halunken des an üblen Halunken nicht armen Gewerbes. Sein Lebensmotto trägt der Chef des argentinischen Fußballs und Vizepräsident der Fifa eingraviert auf einem Goldring: »Todo pasa«, »alles geht vorüber«. Argentiniens Justiz versucht seit 2011, ihn zur Strecke zu bringen.

Ein bisschen kompliziert ist es auch mit den Regeln der Primera División. Bislang gab pro Saison es immer zwei Meister: einen Meister der Hinrunde, des »Torneo Inicial« (August bis Dezember), und einen Meister der Rückrunde, des »Torneo Final« (Februar bis Juni). Von dieser Saison an wird es nur noch einen Meister geben. Der Erste der Hinrunde trifft am Ende auf den Ersten der Rückrunde. Ist das eine Welterfindung? (Und wenn der Erste der Hinrunde auch der Erste der Rückrunde ist, spielt der natürlich nicht gegen sich selbst.)

Wie das mit dem Abstieg funktioniert, habe ich gelesen und nicht verstanden. Da geht es um Koeffizienten der vergangenen drei Jahre. Ist mir egal, Boca steigt ja nicht ab. Anderseits: Wer hätte damit gerechnet, dass im Juni 2011 der Rekordmeister River Plate nach 110 Jahren zum ersten Mal absteigt? Dieser Fan jedenfalls nicht:

(Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa, das Filmchen ist uralt. Aber als es neu war, hatte ich noch kein Argentinisches Tagebuch.)

Wenn Sie noch mehr wissen wollen, empfehle ich Ihnen, bei den Jungs von »Argifútbol« vorbeizuschauen, die aus Buenos Aires auf Deutsch über den argentinischen Fußball berichten. Das ist nicht so ein Gestümper wie bei mir. Mir ist am Freitag aufgefallen, dass am Freitag die Saison beginnt. Also habe ich mir schnell die Saisonvorschauen der beiden Tageszeitungen »La Nación« und »Clarín« besorgt. Die von »Clarín« hatte ich sogar aus einem Café stehlen müssen, weil an sechs Kiosken die Zeitung ausverkauft war.

Andreas, Etienne, Christof und Viktor haben vor Beginn der Saison die Vereine geröngt und wissen mehr über die Mannschaften als die Mannschaften selbst. Atlético de Rafaela braucht zum Beispiel ganz dringend einen Ersatztorwart:

Für die B-Elf steht im Trainingsspiel derzeit der 15-jährige Axel Werner im Tor. Der Torwart der argentinischen U17 misst bereits 1,92m und gilt als das größte Talent der Jugendschmiede, aus der auch Sara kam. Ein Kandidat ist Vélez dritter Torwart Alan Aguerre.

Die Jungs erkennen sogar die Spielerfrauen am Hinterteil. Ohne anfassen, natürlich.

Und ich werde mal im Kanzleramt anrufen und erklären, wie Frau Merkel mit 53 Prozent die nächste Bundestagswahl gewinnt. Und falls sie mich abwimmelt, ruf ich Sigmar Gabriel an. Und falls der »zu viel zu tun hat«, um mit mir zu sprechen, tja, dann heißt der nächste Bundeskanzler einer FDP-Alleinregierung halt Rainer Brüderle. Ist doch nicht mehr mein Problem.

Nahrungsaufnahme

von CHRISTOPH WESEMANN

Das passiert übrigens, wenn ein Vater aus Deutschland auf Spanisch einfach nicht versteht, was er seinen beiden Mädchen zum Essen in den argentinischen Kindergarten mitgeben soll:

(Die schwarzen Balken sind natürlich von mir.)

 

Ein Pate, eine Zeitung und viel Geld

von CHRISTOPH WESEMANN

Manchmal bekommt man es nur unter dem Ladentisch und muss den Verkäufer um ein Exemplar bitten. Das »Argentinische Tageblatt«, die einzige deutschsprachige Zeitung des Landes, hat einen eher kleinen Leserkreis (Auflage: offiziell 10 000) und liegt deshalb am Kiosk selten an prominenter Stelle. Eine stolze Zeitung, vom Schweizer Einwanderer Johann Alemann 1889 gegründet und heute in vierter Generation herausgegeben, ist sie trotzdem. Das liegt auch daran, dass sie – anders als die längst gestorbene, strammdeutsche »La Plata Zeitung« – von 1933 und 1945 gegen den Nationalsozialismus angeschrieben hat. Sie war die Hauspostille der Deutschen in Argentinien, die sich zum Widerstand zählten. Propagandaminister Joseph Goebbels verbot das Erscheinen in Deutschland und ließ die Zeitung auch in Argentinien bekämpfen.

Seine Parteigenossen, von denen schon vor Kriegsende Tausende im Land lebten, klagten gegen das liberale und antitotalitäre »Tageblatt«, hatten aber keinen Erfolg. Die Zeitung überlebte Bombenanschäge und Anzeigenboykotte deutscher Unternehmen. Verboten wurde es – vorübergehend dreimal – erst nach dem Krieg, als Juan Perón Präsident war (1946-1955), ein Mann, dem die Nationalsozialisten in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft nicht unsympathisch gewesen waren. Auch so erklärt sich, dass viele Mörder und Schreibtischtäter über »Rattenlinien« nach Südamerika entkommen konnten.

Dass die heutigen Herausgeber, die Brüder Juan und Roberto Alemann, ausgerechnet in der Zeit der fürchterlichen Militärdiktatur in Argentinien Finanzminister und Wirtschaftsminister waren, gehört wiederum zu den rätselhaften Begleiterscheinungen. Wer es gut meint, sagt vielleicht, dass damals der Wille, dem Land in schwerer Lage zu dienen, stärker war als die liberale Überzeugung. Andererseits sind da diese drei Sätze, die Juan Alemann 2006 dem Reporter Oliver Wegner für die »taz« mitgegeben hat:

Die einzige Diktatur, die ich erlebt habe, war die unter Perón. Die Militärregierung war nur formell eine Diktatur. Die Justiz hat funktioniert, die Presse war frei, und die Einwohner wurden nicht belästigt.

Aber zurück in die Gegenwart: Jüngst hat Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) mit großem Wirbel ihr Vermögen von Dollar in Peso umgetauscht. Das ist durchaus kurios für eine Frau, die unbedingt aus dem Volk kommen will. Denn das Volk will’s wegen der üppigen Inflation von 25 bis 30 Prozent am liebsten andersrum und seine Pesos schnell loswerden. Es gibt inzwischen einen gewaltigen Schwarzmarkt, weil man zum offiziellen und festgelegten Wechselkurs von 4,5 Pesos je Dollar nicht mehr an die grünen Scheinchen aus den USA kommt. Beschaffen kann man sie sich auf der Straße. Der »blue dollar« kostet um die sieben Pesos. Cristina Kirchner hat dann übrigens auch gleich noch ihre Minister aufgefordert, ihr Erspartes in die Landeswährung umzutauschen.

In der Ausgabe vom 28. Juli steht im »Argentinischen Tageblatt« nun die sensationelle Nachricht, dass die hiesigen Minister – es gibt 109, 20 – bis übermorgen beim Antikorruptionsamt ihre Vermögens- und Einkommenserklärungen für 2011 abgeben müssen. Und der Leser erfährt, dass Sicherheitsministerin Nilda Garré ein Kraftwagenregister besitzt und drei Immobilien in Esteban Echeverría, Pinamar und Palermo, dem Viertel, in dem ich noch zu Hause bin. Landwirtschaftsminister Norberto Yauhar hat keine Immobilien, fährt aber ein »deutsches Luxusauto«. Gesundheitsminister Juan Manzur hat zwölf Etagenwohnungen verkauft und Sozialministerin Alicia Kirchner vom Fiskus 833 Quadratmeter Bauland erworben – in El Calafate, einem Städtchen in Patagonien, über das der »Spiegel« vor drei Jahren schrieb:

In El Calafate haben die Kirchners in den vergangenen Jahren ein richtiges Immobilienimperium aufgebaut. Das halbe Städtchen gehört der Präsidentenfamilie, allein acht Hotels nennen sie ihr Eigen, darunter auch Los Sauces. Die Einrichtung der noblen »Evita-Suite« soll Cristina selbst ausgesucht haben. Evita, das war die Ikone der Argentinier, die Frau des Präsidenten Juan Domingo Perón, der wie ein Monarch über das Land herrschte. Manche Einwohner von El Calafate behaupten, die Präsidentin habe die Möbel für das Luxusappartement mit der Regierungsmaschine Tango 1 von Buenos Aires nach El Calafate transportieren lassen.

Sozialministerin Alicia Kirchner? Ach ja, Alicia ist die Schwägerin der Präsidentin, auch das ist in Argentinien möglich.

Aber kommen wir zu Guillermo Moreno. Der Staatssekretär für Binnenhandel ist eine Legende und trägt den Titel »Pate vom Río de la Plata«. Moreno ist zuständig für die Kontrolle des Außen- und Devisenhandels und bestellt angeblich auch gern große Bosse um Mitternacht zu sich, um ihnen dann die Pistole auf die Brust zu setzen: Er macht ihnen ein Angebot, dass sie besser nicht ablehnen. Dass in solchen Gesprächen auch eine Pistole auf dem Tisch liegt, habe ich mittlerweile so oft gelesen, dass ich es allmählich glaube. Señor Moreno habe »sein bescheidenes Vermögen« dank seines »Eisenwarenhandels und Finanzgeschäften« erhöht, schreibt das »Argentinische Tageblatt«. Er besitze jetzt fast eine Million Pesos, laut Währungsrechner also 177792,1889 Euro. Ein Häuschen hat er eigenen Angaben zufolge nicht, er fährt aber einen »Kraftwagen Modell 97«. Ich habe mich gerade zwei Stunden durch Autoforen gewühlt, um herauszufinden, was »Modell 97« bedeutet. Ich kann nicht mehr, ich habe einen Getriebeschaden, und mit meinem Kolben stimmt auch was nicht. Ich sage einfach mal: Das ist das Baujahr.

Ich mag das »Argentinische Tageblatt« übrigens auch, weil es mir das Gefühl gibt, dass ich nicht zu blöd bin, Nachrichten auf Spanisch zu verstehen. Ich bin es nämlich auch bei Nachrichten in meiner Muttersprache:

Das Schatzamt weist im Juni bei den Finanzen des Nationalstaates ein echtes (im offiziellen Jargon eufemistisch als »finanziell« bezeichnetes) Defizit von $ 3,77 Mrd. aus, gegen $ 3,31 Mrd. im gleichen Vorjahresmonat. Im 1. Halbjahr 2012 summiert das Defizit somit $ 10,63 Mrd., 390% mehr als das von $ 2,17 Mrd. der gleichen Vorjahresperiode. Doch in Wirklichkeit ist die Lage viel schlimmer: denn im 1. Halbjahr 2012 wurden als echte Einnahmen auch $ 12 Mrd. verbucht, von denen $ 4,56 Mrd. von der ANSeS und der Rest von der ZB und in geringerem Ausmass von anderen Staatsämtern stammen. Das echte Defizit erreicht somit im 1. Halbjahr insgesamt $ 22,63 Mrd. Finanziell kommt dann noch der negative Saldo hinzu, der sich dadurch ergibt, dass Staatsschulden amortisiert werden, aber keine neuen in diesem Ausmass aufgenommen werden, so dass die Differenz der ZB, der ANSeS u.a. Ämtern aufgebürdet wird.

Kostenloser Download der Ausgabe vom 28. Juli

 

Die Spanisch-Hausaufgabe

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn ich für meinem Spanischkurs schon mal Hausaufgaben mache, und dann noch halbwegs richtig, sollte auch ein bisschen was fürs Blog abfallen.

Die Aufgabe:

¿Cómo era tu rutina en tu país, antes de viajar a Buenos Aires?
Wie war der Tagesablauf in deinem Land vor der Reise nach Buenos Aires?

Die Lösung:

Cuando estaba en Berlin, me levantaba a las siete, tomaba un café con leche y no desayunaba. Frecuentemente  llevaba a mi hijo a su colegio. Íbamos en colectivo y en metro. Llevaba mucho tiempo, alrededor de treinta minutos. Después iba a la oficina y fingía que iba a trabajar. En realidad leía, descansaba y hablaba con mi compañero. Él era tan perezoso como yo.

Salía de la oficina a las tres y treinta minutos, estaba muy, muy cansado y iba al colegio de mi hijo para ir a nuestro departamento, tambien en metro y en colectivo. Allí nos bañabamos,  cenabamos y leíamos. Cuando mis ninos dormían, yo trataba de besar a mi esposa … etcétera. Casi siempre sin éxito. Por eso bebía quince cervezas (más o menos) y soñaba con Michelle Obama.

Der Spanischlehrer:

Du kannst gut lügen.

Der Google-Übersetzer:

Als ich in Berlin war, bekam ich um sieben Uhr auf, nahm einen Kaffee und Frühstück. Oft nahm meinen Sohn an seiner Schule. Wir fuhren mit dem Bus oder der Metro. Hat lange gedauert, ungefähr 30 Minuten. Dann ging ich ins Büro und so tun, ich wollte arbeiten. Eigentlich Lesen, Ausruhen und Gespräch mit meinem Partner. Er war so faul wie ich.

Büros verlassen um halb vier war ich sehr, sehr müde und ging zur Schule für mein Kind an unserer Abteilung zu gehen, auch in U-Bahn und dem Bus. Dort haben wir gebadet, zu Abend gegessen und gelesen. Als meine Kinder schliefen, habe ich versucht, meine Frau zu küssen … etcetera. Fast immer ohne Erfolg. Also trank ich fünfzehn Biere (oder so) und träumte von Michelle Obama.

Ergebnis: Google ist dümmer als ich. wzbw

 

Das Leben der Anderen (2): Villa 31

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Abendsonne hat geblendet, als wollte sie den Deutschen mit der Kamera erst ärgern und dann locken. Komm ruhig! Ein paar Schritte. Chico, deine Fotos werden nichts, ich blende dich doch. Hast dein Blitzlicht vergessen, che? Weiter! Ja, noch ein Stück. Es lohnt sich.

Der Stadtteil Retiro im Norden von Buenos Aires hat gleich hinter dem Bahnhof eine, ähm, Sehenswürdigkeit: Villa 31, ein Armutsviertel aus Wellblechhütten, das größte der Stadt. Einwohnerzahl: angeblich 30 000. Ich stand davor. Es hat gejuckt. Und es juckt noch immer, fast zwei Tage danach.

Nicht überall muss man allein hingehen.

Eine Parrilla (Grillstube)

Dieselbe Parrilla

Vor dem Bahnhof Retiro

Straßenmarkt

Auf dem Bahnsteig

Die Katzen auf dem heißen Wellblechdach

Durchgang zur Villa 31

Zeit zu gehen

 

Das Leben der Anderen

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Armut in Buenos Aires ist allgegenwärtig. Sie versteckt sich nicht am Rand dieser Riesenstadt, sie versperrt den Weg, sie liegt neben dem schicken Einkaufszentrum und vor dem Obelisk, man kann sie sehen und riechen und fürchten.

Da sind diese zerlumpten Gestalten, die einem in der U-Bahn Klebebildchen aufs Knie legen, damit man ihre Hand nicht zu berühren braucht. Sie verteilen stumm ihre Bildchen im Abteil und sammeln sie dann stumm wieder ein. Manchmal werden sie ein oder zwei los. Die zerlumpten Gestalten sind Sechsjährige.

Und in den Elendsvierteln, die hier Villa Miseria heißen, auch in weiten Teilen Südamerikas, ist die Armut wohl noch unmenschlicher.

An der U-Bahn-Station Tribunales

Plaza Canadá im Stadtviertel Retiro

In der Avenida de Mayo, in der Nähe des Kongresses

Am Botanischen Garten im Viertel Palermo

Am Obelisk

Diego und die Holzfäller

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war acht Jahre alt und ganz sicher nicht einmal der klügste Achtjährige in meiner Straße, und ich bin nicht in einer Straße wie der Avenida Rivadavia aufgewachsen, die 35 Kilometer lang ist. Meine Straße hieß Ipser Weg. Kürzer geht’s kaum. Vielleicht erklärt das, was jetzt kommt.

Das erste Mal habe ich von Argentinien am 29. Juni 1986 gehört. Ich weiß das genau, obwohl seitdem ordentlich Zeit vergangen ist – wie viel genau, spielt jetzt keine Rolle, bitte. Ich saß an diesem Sonntagabend vor dem Fernseher, bestimmt trug ich einen gestreiften Schlafanzug, und die deutsche Nationalmannschaft stand gegen Argentinien im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko. Wahrscheinlich habe ich damals »BRD« gesagt. Meine Heimat war die DDR, und wer in der DDR lebte, der sagte auch »BRD«, nicht »Bundesrepublik« und nicht »Deutschland«.

Argentinien jedenfalls hatte Diego Armando Maradona, das Jahrhunderttalent, den besten und genialsten Spieler der Welt. Deutschland hatte ein paar Holzfäller. Sie spielten nicht nur so, sie sahen auch so aus. Und ihre Namen klingen heute, als wären sie unter Tage abgebaut und dann geschmiedet worden. Briegel. Förster. Eder. Jakobs. Hans-Peter. Karlheinz. Norbert. Ditmar. Abwehr made in Germany.

Ich war für die Holzfäller.

Ich war gegen Diego.

Rudi Völler schoss in der 81. Minute das Tor zum Ausgleich. Gerade hatte Argentinien noch 2:0 geführt, nun stand es auf einmal 2:2, und ich wusste ganz genau, wer gewinnen würde. Dann passte Maradona auf Burruchaga.

 

Argentinien ist mir danach immer wieder begegnet, und zwar alle vier Jahre, bei einer Weltmeisterschaft. Wie das Land spielte, war mir egal, glaube ich. Ich mochte andere Mannschaften, meistens Brasilien, wahrscheinlich habe ich so unbewusst überkompensiert. Eine größere Abkehr von den Holzfällern ist ja kaum vorstellbar.

Zum ersten Mal war ich im Sommer 2006 für Argentinien. Ich hatte eine Karte für das Viertelfinale gegen Deutschland, ich stand im Berliner Olympiastadion in der argentinischen Kurve und erlebte, wie ein paar Tausend Männer 120 Minuten lang toll sangen und dann kaum weniger schön heulten. Ich hatte einen Argentinienhut auf, den kein Argentinier weit und breit trug, und das nicht nur, weil es in ihrer Heimat kein »H&M« gab.

Den Hut habe ich irgendwann verloren. Und »H&M« gibt es heute, sechs Jahre später, noch immer nicht in Argentinien.

Als es neulich kein warmes Wasser gab, weil irgendetwas im Keller kaputtgegangen war, schien mir, als hätte unser Portier Luis Angst, dem Deutschen die Nachricht zu überbringen. »Unser Portier Luis«, das klingt ein bisschen nach Kolonialzeit, claro. Aber zum einen ist Luis eher eine Art Hausmeister, zum anderen gibt es im Zentrum von Buenos Aires kaum noch Wohnhäuser ohne einen Mann, der die stets verschlossene Eingangstür im Blick hat. Um Luis zu beruhigen, erzählte ich, dass ich mal eine Weile in der Ukraine gelebt hätte.

»¿Ukra … cómo?«, fragte Luis.

Weil mein Spanisch noch nicht reicht, um einem Argentinier die Ukraine vorzustellen, machte ich kurzerhand die Unabhängigkeit von 1991 rückgängig und schlug das Land wieder Putins Reich zu.

»Oh«, sagte Luis, »Russland.«

»Ja, und Russland in Wasser sehr kalt.«

Wenn ich mich nicht täusche, hält er mich seitdem für einen Eisbär auf zwei Beinen, für jemanden, der sich gern mit Schnee wäscht, in Bergseen mit bloßen Händen Forellen fängt und hilft, wenn ein Mieter Ärger macht. In Wahrheit habe ich innerlich geflucht, eine eiskalte Dusche am Morgen bleibt eine eiskalte Dusche am Morgen. Die wird auch nicht wärmer, weil man in zwei Jahren Odessa fünfmal nicht heiß geduscht hat.

Oder aber Luis denkt: »Spanisch lernt der Kerl nie.«

In meinem Sprachkurs sind drei andere Jungs: ein australisches Brüderpaar und Salim, ein Amerikaner, dessen Eltern in den Siebzigern aus Indien eingewandert sind. Er steht auf Trance-Musik und ist trotzdem der Schlaueste von uns vieren. Salim löst die Aufgaben, die wir gar nicht lösen müssen, weil er die Aufgaben, die wir lösen müssen, schon lange fertig hat, während die beiden Australier und ich noch wild raten. Wenn ich zufällig zwei Minuten vor den Australiern fertig bin, erhole ich mich von den Strapazen und glotze an die Decke. Sollte ich ehrgeiziger sein? Strebsamer? Ich meine: als Deutscher?

Dafür bin ich der, über dessen Scherze und Sprüche am meisten und am lautesten gelacht wird. Ich gebe mir Mühe. Witzig zu sein ist für mich eine ernste Angelegenheit. Überdies warte ich jeden zweiten Tag ein paar Minuten vor dem Unterrichtsraum, um mich zu verspäten. Mehr kann ich aus der Ferne für Deutschland nicht tun.

Mal angenommen, Deutschland hätte das Endspiel gewonnen. Maradona, neben Pelé der Beste, der sich im Fußball bisher versucht hat, wäre also 1986 nicht Weltmeister geworden. Gewonnen hätte ja nicht nur eine Mannschaft mit einem Durchschnittsalter von 28,37 Jahren, die sich durchs Turnier gerumpelt und geduselt hatte: 1:1 gegen Uruguay, 2:1 gegen Schottland, 0:2 gegen Dänemark, 1:0 gegen Marokko, 4:1 nach Elfmeterschießen gegen Mexiko, 2:0 gegen Frankreich. Gewonnen hätten Rummenigge, der nur noch humpelte, ein Hoeneß, der nicht Uli heißt, die Holzfäller.

»Bitte begrüßen Sie unsere vier Weltmeister von 1986: Karlheinz Förster, Hans-Peter Briegel, Norbert Eder und Ditmar Jakobs.« (Applaus, Fußgetrampel)

Und zum WM-Kader gehörten noch Uwe Rahn, Wolfgang Rolff und Matthias Herget. Ja, der Herget von Bayernullfünf, nein, nicht Bayernullvier, also nicht Leverkusen, sondern Uerdingen (sprich: Ör-ding-en, Dudenlautschrift: ˈyːɐ̯…).

Sie alle wären heute Weltmeister. Und Maradona, der Goldjunge aus einem Elendsviertel am Rande von Buenos Aires, den sie hier verehren, der seinen Trainer Carlos Bilardo einst dazu brachte, Gott zu danken, weil der Diego als Argentinier auf die Welt geschickt hat? Der wäre es nicht.

Kein Weltmeister.

Wer außer mir, einem Achtjährigen aus dem Ipser Weg, wer um alles in der Welt kann so etwas damals noch gewollt haben?

18 Pesos (Axel vorgestreckt)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ein Segelschiff namens Freiheit

von CHRISTOPH WESEMANN

Eine schöne, uralte und spanische Schnulze, weil hier heute der Tag des Freundes ist und überhaupt. Mir ist danach.

Ich übersetze den Text mal sehr frei: Er haut ab, eine Jeans, ein Hemd, ein Lied, segelt drauflos, Möwen am Himmel, die Suche nach einem anderen Leben, nachts komische Träume, die Frage »Wo bist du?« und immer wieder diese verdammten Möwen, bis er weiß, dass er zurück muss. Und dann sind ihre Augen so blau wie das Meer.

»Un velero llamado libertad« von José Luis Perales:

 

 

 

Schlafschützen

von CHRISTOPH WESEMANN

Vor dem Museum des Senats in der Avenida de Mayo

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)