Archiv für Mai, 2013

Heil dem großen argentinischen Volk (und dem Deutschen im Poncho)!

von CHRISTOPH WESEMANN

Ach, dieser Deutsche! Ist mal wieder allein mit seinen drei Kindern. Es gelingt ihm aber ohne größere Probleme, den Siebenjährigen und die Vierjährige um 7.10 Uhr in den Schulbus zu setzen. Er muss dann nur noch mal schnell hoch – zur Schultasche. Um halb neun schiebt er die Eineinhalbjährige zum Kindergarten und macht unterwegs Pläne. Schlafen, auf der Terrasse die Herbstsonne genießen, ja!, aufräumen eventuell, also eher nicht. Er wird jedoch von der Kindergärtnerin kalt erwischt.

»Kommst du zum Fest?«
»Welches Fest?«
»Guckst du nie ins Mitteilungsheft?«
»Doch, jeden Tag«, sagt der Deutsche und denkt: Wenn ich an einem Lügendetektor angeschlossen wäre, würde der jetzt explodieren.

Kindergarten

Morgen ist argentinischer Nationalfeiertag. Am 25. Mai 1810 begann das Vizekönigreich des Río de la Plata, sich von Spanien zu lösen. Zentrum der so genannten Mai-Revolution war Buenos Aires. Sechs Jahre später enstand Argentinien als unabhängiger Staat. Der 25. Mai und der 9. Juli (1816) sind für Argentinier bedeutende Termine, also Weltereignis aufwärts. Und im Kindergarten soll gefeiert werden.

Gruppentanz

Der Deutsche spurtet nach Hause zur Morgentoilette und kommt eine Stunde später standesgemäß wieder: in Poncho und mit Mate. Die anderen Eltern, ausnahmslos Argentinier, begutachten ihn. Deutsche gucken so nur bei einem Chinesen in Lederhose.

Bevor die Gruppe der Großen zu tanzen beginnt, wird – selbstverständlich! – die Nationalhymne gesungen.

 

Hört, ihr Sterblichen! Den geheiligten Ruf:
Freiheit, Freiheit, Freiheit!
Hört den Lärm gesprengter Ketten:
Seht auf dem Thron die edle Gleichheit.

Schon zeigten ihren würdevollen Thron
die vereinigten Provinzen des Südens!
Und die Freien der Welt antworten:
Heil dem großen argentinischen Volk!
Und die Freien der Welt antworten:
Heil dem großen argentinischen Volk!

Refrain:
Ewig sei der Lorbeer,
den wir zu erlangen wussten.
den wir zu erlangen wussten.
Mögen wir von Ruhm gekrönt leben …
oder wir schwören ruhmreich zu sterben!
oder wir schwören ruhmreich zu sterben!
oder wir schwören ruhmreich zu sterben!

Der Fluch und die Läuse-Kolumne

von CHRISTOPH WESEMANN

Am 3. Juli 2012 kletterte ich mit meiner Frau und drei Kindern in ein Flugzeug, um die nächsten Jahre in Buenos Aires zu leben. In der Nacht, irgendwo über dem Atlantik, sagte ich River Plate ab und ließ mein Herz für die Mannschaft aus dem Hafenviertel schlagen. Als wir argentinischen Boden betraten und auf unsere 13 Koffer warteten, erfuhr ich, dass meine Boca Juniors am Abend das Finale der Copa Libertadores gegen Corinthians verloren hatten. Ich wusste zwar erst jetzt, dass wir so weit gekommen waren, war aber wegen der Niederlage augenblicklich zerstört. Ich wollte niedersinken und theatralisch trauern, aber dann kam das Gepäck, und wir mussten ja auch los. Juan Román Riquelme war zurückgetreten, der einzige Boca-Spieler, den ich kannte, ja, auch das noch.

Quilmes-Newell's 2

Quilmes-Newell's 3

Quilmes-Newell's 4

Quilmes-Newell's

In der Ligatabelle stehen jetzt Vereine vor uns, von denen ich bis vor einem Jahr noch nie etwas gehört hatte: Lanús. All Boys. Rafaela. San Martín. Angeblich gibt es sogar einen Klub namens Godoy Cruz, und der ist auch noch Fünfter. Wir sind Drittletzter. Wenn das so weitergeht, nehme ich, bevor wir nach Deutschland zurückkehren, noch Bocas Abstieg mit.

Es scheint ein Fluch auf mir zu liegen, wahrscheinlich bekomme ich eines Tages, wie die sieben schwarzen Katzen von Independiente im Racing-Stadion, einen Abschnitt bei Wikipedia, weil sich herausgestellt hat: Meine Sippe und mich mit 13 Koffern für ein paar Jahre nach Buenos Aires zu schicken war nur ein großes Komplott von River Plate.

Mein Sohn findet Boca auch gut. Ich habe mich auf gar keine Diskussion eingelassen, ich werde noch früh genug jeden Einfluss auf ihn verlieren, er lässt sich ja schon jetzt wenig von mir sagen, was seine Mutter übrigens überhaupt nicht schlimm findet.

Ich will es als Fußballphilosoph nicht übertreiben, aber es ist doch so: Ich habe es meinem Sohn leicht machen wollen. Boca ist ein Erfolgsklub: 24 Meisterschaften, nur ein Verein hat mehr, und es spielt gar keine Rolle, welcher. Die meisten Spiele im Leben gehen aber nun einmal verloren. Man will immer gewinnen, und meistens verliert man. Vieles ist Kampf und Krampf. Man lauert auf Großchancen, um sie dann zu vergeben. Und wer nie ausgewechselt worden ist, obwohl es gerade ziemlich gut lief, hat Entscheidendes verpasst: die Hoffnungslosigkeit, die Reha fürs kranke Herz und das Comeback.

 

Nun habe ich mit meinem Sohn einen anderen Verein besucht und darüber eine Kolumne geschrieben, als Gastbeitrag für das wunderbare Blog Argifutbol – Argentinischer Fußball auf Deutsch. Darauf wollte ich hinaus – und außerdem die übrig gebliebenen Textreste weiterreichen, man soll ja nichts verkommen lassen.

Ein Lausbub bei den Bierbrauern von Quilmes

Seit mein Sohn bei den Cerveceros gewesen ist, hat er Läuse. Wegen der angedeuteten Kausalität zwischen der Cancha von Quilmes und dem Kopfkratzen des siebenjährigen Kolumnistenkindes könnten mich die Bierbrauer aus der kleinen Stadt im Speckgürtel von Buenos Aires locker verklagen. Ich habe nämlich keine Beweise, ich kann nur sagen: am Abend Estadio Centenario, am Morgen Pediculus humanus capitis.

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Danü hat wieder zwei zauberhafte Bilder gemalt – eins zeige ich hier. Wir trafen nämlich die Katzenfresser aus Rosario.

Katze

Eine tolle Dokumentation mit deutschem Untertitel gibt es über den Quilmes Atlético Club und seine Fans übrigens auch.

Zwei Schnellumzieher im Luna Park

von CHRISTOPH WESEMANN

Ach ja, die Pet Shop Boys und ihr als Popkonzert getarntes Musical: Neil Tennant und Chris Lowe, zusammen auch schon 111 Jahre alt, tragen noch immer alle unmöglichen Klamotten – vom orangefarbenen Trenchcoat bis zur schwarzen Federjacke. Macht am Ende mehr Garderobenwechsel als bei Kylie Minogue und Madonna. Aber zieht sich auf dieser Welt eigentlich jemand schneller um als die Pet Shop Boys? Selbst die Krawatte sitzt dann.

Pet Shop Boys

Schön war’s gestern Abend im Luna Park (wo übrigens Argentiniens Fußballgott Diego 1989 Hochzeit feierte). Nur das Publikum wirkte ein bisschen müde und philharmonisch. Andererseits: Wenn die eine Hand die ganze Zeit das Smartphone hochhält, kann die andere nun mal nicht klatschen. Generation Youtube.

Lauschangriffchen

von CHRISTOPH WESEMANN

Sonntag, 18.10 Uhr:

»Cristina ist verrückt.«

»Meine Eltern wählen sie.«

»Sie ist trotzdem verrückt.«

»Schau mal, jeder Mensch hat gute Seite und schlechte Seiten.«

»Aber Cristina ist verrückt.«

Fran und Franco, die beiden sieben Jahre alten Schulfreunde des Sohnes, über Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner.

kein radio im auto aber nen kühlschrank finste lustig

von CHRISTOPH WESEMANN

Wonach Leute bei Google suchen, um (dann) mein Argentinisches Tagebuch zu finden – Auszug aus der Statistik:

  • in meiner rechten tasche habe ich eine tüte bonbons, aus der schon 3 gegessen sind. in der linken tasche habe ich eine noch volle tüte. wenn ich aus der rechten noch 7 bonbons nehme und sie in djie linke tasche lege, dann hat es dort doppelt so viele bonbons wie rechts. wie viele bonbons hat es in der vollen tüte??
  • jemand hat sich verdächtig ums auto geschlichen
  • Herr Wesemann
  • christopf wesemann
  • mein neuer freund ist im urlaub in argentinien und meldet sich nicht
  • blick am abend kuss buenos aires
  • berliner angebissen
  • klapsmühle argentinien
  • bauplan argentinischer grill
  • papst ruft seinen zahnarzt in argentinien an
  • woran erkenne ich einen gehweg parkplatz pflasterwechsel
  • der mann der sich 38 jahre nicht geduscht hat
  • warum steht bei den argentinischem trikot kein name hinten dran
  • indianerkopf fussball
  • que significa nicht verstehen. er kommt aus argentinien.
  • »mach mir ein kind«
  • botox unfälle
  • heino nudel
  • was heisst gerne zwei spurig fahren
  • kein radio im auto aber nen kühlschrank finste lustig
  • pille in buenos aires kaufen
  • ich esse nie wieder einen pfirisch sagte er
  • mein sohn liebt eine argentinierin
  • woran ist zu erkennen, dass es jemand mit dem duschen übertrieben hat
  • Speiseplan Kindergarten.

Und natürlich, aber das war ja klar:

  • kalauer beispiel

(Alle Fehler sind original.)

Haste ma‘ ’nen Messi?

von CHRISTOPH WESEMANN

Den Einzigartigen gibt es jetzt zweimal: Weil der Dollar auf dem Schwarzmarkt demnächst wohl zehn Peso kosten wird, nennt man ihn schon »Messi«. Die Logik: Floh Leo hat die Rückennummer 10, und überhaupt ist ja alles Fußball in Argentinien. Der offizielle Wechselkurs von fünfkommairgendwas ist nur noch ein Witz, ein unterirdischer. Denn der Kurs, zu dem man überhaupt noch an Dollar kommt, liegt 80 Prozent höher.

Doppelmessi

Tja, es sind verrückte Zeiten, mal wieder. Der Wirtschaftsminister stammelt im griechischen Fernsehen, weil ihm zur Inflation nichts einfällt – nicht mal deren Höhe. »Me quiero ir, si, me quiero ir«, sagt er. »Ich will gehen, ja, ich will gehen.« Leute, die die Regierung nicht mehr so mögen, und das sind inzwischen eine Menge, haben nichts dagegen. »Ja, dann geh doch!« Aber das ist alles noch vergleichsweise harmlos. Denn die Regierung steht schwer unter Verdacht, und die Spuren führen bis zur Präsidentenfamilie: Angeblich mit Wissen Cristina Kirchners sollen in der Pinguinprovinz Santa Cruz, der Heimat des Staatsoberhauptes, über Jahre millionenschwere Bauaufträge an Freunde gegangen sein. Außerdem: Geldwäsche im großen Stil, mal in Uruguay, mal – na klar – in der Schweiz. Die Rede ist vom »Weg des Kirchnergeldes«.

Aufgedeckt hat den Skandal maßgeblich Jorge Lanata in seiner Sonntagabendsendung Periodismo para todos (Journalismus für alle). Heute wurde er im Radio gefragt, ob es übermorgen neue Enthüllungen gebe. Lanata sagte, sinngemäß: Es geht jetzt erst los.

Als die Präsidentin vor ein paar Tagen in Santa Cruz unterwegs war, rief eine Frau aus der Menge: »Vorsicht, sie stehlen!« Kirchner antwortete: »Niemand wird irgendwas stehlen, bleib ruhig, Liebste!« Dann zitierte sie noch Juan Domingo Perón, den Überpräsidenten von einst: »Wir alle sind gut, aber wenn wir uns kontrollieren lassen, sind wir noch besser.«

Sonst was Neues? Ja, der andere Jorge, der ausgewanderte, wird sich demnächst eine Putzfrau zulegen. Die Präsidentin glaubt nämlich, er habe schon eine, und weil er nicht weiß, wie er nachweisen soll, dass er keine hat, wird er bald eine haben. Glaube ich. Was sich die argentinische Regierung da wieder ausgedacht hat, steht jedenfalls drüben bei Jorge. Schon vor längerer Zeit hat er beschrieben, wie irre das mit dem Dollar ist. Ich empfehle dringend, auch die Kommentare zu lesen. Wer alles versteht, muss mit Stephen Hawking oder Bill Gates verwandt sein. Bei mir war’s extrem knapp.

Aber nun bereiten wir uns bitte auf den Sonntag vor. So schlimm kann keine Regierung sein, dass wir den Superclásico vergessen. Die Boca Juniors empfangen River Plate, den Erzfeind aus dem edlen Stadtviertel Nuñez, und ich bin grenzenlos optimistisch. Wir haben nämlich am Mittwochabend in der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions League, gegen Corinthians Paulista gespielt und die brasilianische Supertruppe aus dem Stadion gefegt1. Wir sind so gut drauf, wir würden sogar Bayern und Dortmund bezwingen, also jedenfalls die U-23. Der Schiedsrichter der Partie heißt übrigens Delfino mit Nachnamen und Germán mit Vornamen.

Sohn und ich brauchen nur noch einen Plan, um den Kindergeburtstag der Vierjährigen am Sonntagnachmittag zu schwänzen. Zwei Männer gegen acht Mädchen – nein!

  1. 1:0 []

Pablo und die komplexe Minderwertigkeitskolumne

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Nachbar Pablo versteht nicht, dass ich diese Matetasche aus echtem Kunstleder vom Markt im Rivadavia-Park unbedingt gebraucht habe. Dabei hat sie umgerechnet nur zwölf Euro gekostet. Und wie soll man außerdem alles transportieren, was man braucht, um unterwegs Mate zu trinken: die Thermosflasche, das Yerbakraut, den Trinkhalm, den Becher?

Matekram

Ich kann es aber Pablo sowieso nie recht machen. Wenn ich beim Sprechen argentinisch gestikuliere, also die Fingerkuppen zusammenführe und die Hand aus dem Gelenk unentwegt schüttele, weil mir das hilft, die Wörter zu finden, regt er sich auf. Wenn ich dann nicht gestikuliere, versteht mich Pablo nicht – und regt sich auch auf.

geste neu

Ein Deutscher, der schon ein paar Jahre in Buenos Aires lebt, hat mir neulich seine argentinische Theorie vorgestellt, die im Kern besagt, dass zwei Argentinier (oder mehr) auf einem Haufen für Nichtargentinier schwer erträglich seien. Die Formel lautet entsprechend:

• 1 Argentinier = 1 Mensch

• 1 Argentinier + 1 Argentinier = 2 Größenwahnsinnige

• x Argentinier + x Argentinier = x+x Größenwahnsinnige.

Ich halte die argentinische Theorie für unausgereift. Sie berücksichtigt zum Beispiel nicht den so genannten Pablofaktor.

»Häng einem Ausländer eine Matetasche um, und er denkt, er wäre Argentinier«, sagt Pablo.

Ich gebe übrigens zu: Ich habe die Matetasche vor allem für die Zeit gekauft, wenn ich wieder in Deutschland lebe und sonnabendnachmittags in meine kleine Charlottenburger Kneipe gehe, um die Bundesligakonferenz auf Sky zu gucken.

Ich habe meinen Auftritt bereits geplant und auch die Dialoge vorgeschrieben. Ich werde, egal wie heiß es gerade ist, den schwarzen Poncho und den schwarzen Lamahirtenhut tragen, die ich mit Herrn T. in La Quiaca (Bolivien) gekauft habe. Dann trete ich ein, puh, stinkt das hier, und meine Augen brauchen auch ein Weilchen, bis sie den Zigarettenqualm durchschaut haben. Ganz so schlimm ist es nicht, aber als großer Theaterfreund weiß ich natürlich: Hetzen lassen sich nur die Nebendarsteller.

»Dass ihr euch immer so groß machen müsst, ist nicht angenehm«, sagt Pablo. »Und uns erreicht ihr ja sowieso nicht.«

Poncho

Ich sehe den Tisch von Gabi, die in einem Spandauer Blumengeschäft arbeitet, und von Peter, der nicht arbeitet. Gabi ist wieder direkt von der Arbeit gekommen und trägt noch ihren Fleurop-Pullover. Sie wird in den nächsten zwei Stunden fünf Tassen Kaffee trinken und bei jedem Dortmunder Tor schreien. Was sie ganz besonders nicht mag: Tore der Bayern, Tore der Schalker und Kneipengäste, die nicht über Fußball reden oder von ihr jetzt, nach Feierabend, wissen wollen, wie man Orchideen umtopft.

Peter fährt viel Fahrrad und betreut als Co-Trainer eine Fußballmannschaft, E-Jugend. Michael Ballack, der Micha, ist sein Allzeitheld, und jedes Mal, wenn einer zu lange mit dem Ball läuft, wird Peter den Fernseher anbrüllen: »Spiel doch ab, du Idiot!« Schon vor dem Anpfiff schaut er alle drei Minuten auf seinen Wettzettel. Die Bayern müssen heute zu Hause mit drei Toren Unterschied gegen Braunschweig verlieren. Aber Braunschweig kann befreit aufspielen, die Mannschaft steht ja schon seit fünf Wochen als Absteiger fest. Dann noch zwei Spiele, in denen jeweils mehr als sechs Tore fallen, aber bitte nicht alle in der ersten Halbzeit, plus ein Doppelpack des Stürmers, der seit Monaten nicht getroffen hat, und wenn die vier anderen Partien enden, wie Peter das annimmt, dann hat er aus fünf Euro 1628,34 gemacht. Seinen Gewinn wird er aber erst am Montag im Wettbüro abholen, denn gleich morgen, das wäre viel zu riskant. Die anderen denken ja, dass er gleich am Sonntag das Geld abholt, also denkt er, Peter, gar nicht dran.

Der Stuhl zwischen Gabi und Peter ist frei. Mein Platz. Ich gehe ein paar Schritte und grüße unterwegs den Mann hinterm Tresen: »Wie geht’s dir, Horst?«

»Hä?«

»Du erinnert dich nicht an mich, oder? Bin ’ne Weile weggewesen. Argentinien.« Kurze Pause. Das Wort muss ja erst wirken. »Ich war der mit der Cola. Ohne Glas. Aus der Flasche. Macht’s jetzt klick?«

»Jut«, sagt Horst, »ick bringse dir.«

»Nein, keine Cola mehr. Ich brauch heißes Wasser«, sage ich und hole die Thermoskanne aus meiner Matetasche. »Aber kochen darf‘s nicht, 75 Grad, ja? Und bisschen kaltes Wasser, bitte. Der erste Mateschluck darf nämlich nicht heiß sein.«

Dann werde ich schlürfen und mich demonstrativ nur mäßig interessieren für die Bundesligakonferenz, und das nicht nur, weil die Boca Juniors gleichzeitig spielen, was ich per Live-Ticker möglichst unauffällig, also so, dass es wirklich jeder mitbekommt, auf dem Handy verfolge. Hin und wieder werde ich murmeln, dass es der deutsche Fußball in punkto Leidenschaft gar nicht mit dem argentinischen aufnehmen könne.

»Argentinier kann man nicht kopieren«, sagt Pablo. »Der liebe Gott hat uns mit einem Kopierschutz ausgestattet.«

Als die Mauer fiel, war ich elfeinhalb. Bis dahin hatte ich die DDR zweimal verlassen, 1985 und 1988, immer Tscheh-ess-ess-ärr. Von der Welt kannte ich Prag, Bratislava und Mladá Bodeslav. Wenn ich heute, beinahe ein Vierteljahrhundert später, mittwochnachts um halb elf vom Fußballspielen nach Hause fahre und mich im Radio zufällig das falsche, also richtige Lied erwischt, muss ich manchmal schlucken. Vor Glück, dass ich hier lebe, vor Glück, dass ich gerade mit neun Argentiniern unter Flutlicht in einem Käfig gekickt habe, vor Glück, dass ich in diesem Augenblick am berühmten Monumental vorbeirolle, dem Stadion des Klubs River Plate, und natürlich vor Glück, dass mein Herz einem anderen Verein gehört. All das und noch viel mehr war doch bei meiner Geburt überhaupt nicht vorgesehen.

 

»Schön, dass du wieder da bist, mein Großer«, wird Gabi in der Halbzeitpause sagen. »Der ganze Kiez, vom Klausenerplatz bis zur Schustehrusstraße, hat übrigens dein Argentinisches Tagebuch gelesen, jede einzelne Kolumne, sag ich dir. Und wir haben dich bewundert, wie du klargekommen bist da am Ende der Welt, du warst ein richtiger Argentinier. Die Leute in Buenos Aires haben dich ja überhaupt nicht mehr als Ausländer wahrgenommen.«

»Das lag doch nur daran, dass ich akzentfrei spanisch gesprochen habe.«

»Nee, nee, Großer, nicht so bescheiden, das lag nicht nur daran. Da gehört schon mehr dazu. Wahnsinn, oder, Peter?«

»Absolut, Gabi. Einfach war das bestimmt nicht.«

»Ach, na ja, nun übertreibt mal nicht.«

»Schwachkopf, das Ding leih ich mir mal aus, brauchst du ja sowieso nicht«, sagt Pablo.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)