Der Hausherr ist im Augenblick ein bisschen wortkarg. Ein Gerücht besagt, jedenfalls pfeifen es die Loris von den Dächern, CW bereite sich auf einen Wahnsinnstrip vor: Angeblich wird er am Sonnabend zum Wallfahrtsort nach Luján pilgern. Ob er weiß, auf was er sich einlässt? Ich zitiere:
40 km schnurgeradeaus, an der Bahntrasse entlang, die einzige Abwechslung sind wechselnde Grill-Getränke-Devotionalienstände am Wegesrand. Dann war es auch noch empfindlich kalt, da es ja noch Frühling ist, was einige Argentinier zu den erstaunlichsten Maßnahmen getrieben hat. Generell war aber die Leidensbereitschaft wirklich beeindruckend: Auf den letzten Kilometern haben sich viele Leute mehr geschleppt als sie gewandert sind, und die Straßen waren gesäumt von Pilgern, die nicht mehr konnten und einfach am Straßenrand lagen oder apathisch oder schlafend auf den Leitplanken hockend, manchmal notdürftig mit Decken zugedeckt, oft mit Kindern dabei. In der stoisch vorbeihumpelnden Masse kam ich mir oft eher vor wie in einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen als auf einer Pilgerfahrt.
Und da mein alter Reisekumpel CW vermutlich noch im Höhentrainingslager ist oder sich beim umstrittenen spanischen Sportmediziner Eufemiano Fuentes einer Blutdopingbehandlung (»Er will nur Chancengleichheit«) unterzieht, kapere ich jetzt einfach sein Blog, um das hier darbende »Premium-Publikum« (O-Ton Hausherr) nach Peru zu entführen. Wer mag, kann sich ein bisschen einlesen:
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Einerseits bin ich froh, endlich angekommen zu sein. Der Alleinreisende hat ja doch selten Glück mit dem Busnachbarn. Meiner war groß und schwer, ein Mann, der gerade noch in den Sitz passte. Und wenn er sich bewegte, weckte mich seine über die Mittellehne ragende Körpermasse. Andererseits hätte ich noch gute fünf weitere Stunden Schlaf vertragen können, und die eisige Kälte und die Dunkelheit sind auch keine Stimmungsmacher.
Ich sehe, und das weiß ich ohne Spiegel, sehr geschunden aus: Sonnenbrand auf der Nase, Ringe unter den Augen, unrasiert seit – ja seit wann eigentlich? Seit einer Woche? Es ist jedenfalls, so viel ist sicher, Tag 9 meiner Peru-Reise, und ich bin in Puno, der Uferstadt am Titicacasee. Auf 3800 Metern über dem Meeresspiegel leben hier fast 120 000 Menschen.
Noch sieht man nicht viel. Es ist 4 Uhr in der Früh, und nur ein paar Lichter brennen. Ich schlurfe schnell zum Gepäckfach des Busses und stelle mich an, um meinen Rucksack abzuholen. Man kann über Argentinier sagen, was man denn möchte, aber sie verstehen es wenigstens, sich ordentlich in eine Schlange zu stellen. Eine ältere Peruanerin aber stellt sich in die vierte Reihe mitten ins Gewühl und schreit solange, dass der graue Koffer doch ihr gehöre, bis sie ihn bekommt. Äußerst lästig.
Als ich warte, stelle ich fest, dass mir das Hühnchen, das ich vor meiner Abreise in Cusco gegessen habe, nicht wohl bekommen ist. Es rächt sich postum in Form starker Magenkrämpfe. Schnell fliehe ich mit Rucksack in das Terminal und werde überrannt. Dutzende Reiseleiter stehen zu beiden Seiten und rufen mir Angebote zu. Ich winke ab und schlurfe zur ersten Sitzbank, die ich finde. Ein Reiseleiter ist an mir dran geblieben. »Na Amigo, willst du den Titicacasee sehen?«, fragt er. Ich habe nicht die Kraft, noch weiter zu widersprechen, und folge ihm in sein Büro. Eine Karte des Sees ziert die Wand, ebenso Fotos von Buslinien.
Mein Rattenfänger stellt sich als Marcelo vor, und er verkauft mir erfolgreich eine Bootstour zu den schwimmenden Inseln der Urus und zu der Insel Taquile. Dies werde den ganzen Tag dauern. Ich stimme zu. Ich habe nicht vor, länger hier zu bleiben, da ich rechtzeitig wieder in Lima für meinen Rückflug sein muss. Ich gebe Marcelo die Hand und gehe erst mal Frühstücken. Aus einem Fenster sehe ich, wie langsam die Sonne über Puno aufgeht. Mein Reiseführer nennt es: blühend und lebendig. Ich finde es eher unschön und karg. Auf den ersten Blick zeigt sich nur wenig von der kolonialen Architektur, die in Perus Städten so berühmt ist, aber mir ist schon klar, dass ich von einem Bahnhofsviertel zu viel erwarte. Auf meinen langen Reisen mit CW habe ich allerlei Erkenntnisse gesammelt, und eine lautet: Wenn du denkst, du hast schon nichts gesehen, kommt immer noch ein Bahnhof, der weniger zu bieten hat.
Die Krämpfe plagen mich nach wie vor.
Als es Zeit für die Tour ist, warte ich auf Marcelo. Er kommt einen Tick zu spät und flucht stark in sein Telefon. Wahrscheinlich denkt er, dass ich nichts verstehe. Er telefoniert mit dem Fahrer, lotst mich nach draußen und setzt mich in einen Wagen voller fremder Touristen. Der Bus fährt uns fünf Minuten zum Hafen und spuckt uns alle aus. Ich bin etwas unsicher, ob ich wirklich zu dieser Gruppe gehöre, zumal ich mehrfach gefragt werde, welches Hotel ich bewohne. Im Hafenwasser liegen alte Schwanenboote. Man sieht sofort, wie verschmutzt das Wasser ist.
Ich setze mich neben einen jungen Spanier. Er sieht aus wie Javier Bardem, trägt eine bunte Wollmütze und ist ganz aufgeregt wegen der Bootstour. Als wir uns unterhalten, merke ich, was von meinem einst in Deutschland gelernten Spanien-Spanisch nach einem Jahr in Argentinien übrig geblieben ist. Meine Ohren verstehen unargentinisches, also ungenuscheltes Spanisch kaum noch.
Ein Mann mit Baseballmütze steht jetzt vorne und stellt sich als unser Führer vor. Er heißt Leandro und er erklärt in Englisch und Spanisch die Regeln des Schiffes. So dürfen wir erst auf das Dach des Bootes, wenn wir außer Sichtweite des Hafens sind. Wir dürfen den Auspuff des Schiffes nicht berühren und die Toilette nur für Pipi benutzen. Nach einer halben Stunde verfluche ich die letzte Regel. Mein Magen schmerzt ja nicht ohne Grund. Als wir auf das Dach klettern, vergesse ich das immerhin kurz – die Aussicht ist wunderschön. Dies also ist der höchstgelegene befahrbare See der Welt: 178 Kilometer lang und 67,4 Kilometer breit. Javier ist die meiste Zeit draußen, weshalb ich seinen Platz nutze, um zu schlafen. Die Krämpfe werden schlimmer.
Unser erstes Ziel sind die schwimmenden Inseln der Urus. Aus schwimmendem Torf und dem Seegras Totoru haben die Urus hier ihre kleinen Hütten gebaut. Früher taten sie das, um sich vor den Inkas zu schützen. Heute tun sie es wohl mehr, um den Touristen eine Show zu bieten. Wir halten an und betreten die Inseln. Auf dem Gras zu gehen ist seltsam. Die Insel bewegt sich mit den Wellen, und man sackt ein wenig ein. Leonardo erzählt, dass er hier manchmal gegen die Inselbewohner ein bisschen Fußball spiele. Er habe noch nie gewonnen, weil er auf dem Gras einfach nicht laufen könne. Ohne Gram begrüßt er jedoch die Inselbewohner und stellt den Präsidenten vor: Ein barfüßiger Mann kommt leichtfüßig angesprungen. Falls ich jemals Bundespräsident werden sollte, werde ich – das ist hiermit versprochen – als erste Amtshandlung alle meine Schuhe wegwerfen.
Der Präsident und Leonardo erklären uns die Bauweise der Insel und erzählen vom Leben der Urus. Auch das Gras wird ausführlich gepriesen. Anscheinend gibt es nichts, wofür man Totoru nicht nutzen kann: Es ist Medizin, Bausubstanz und Nahrungsquelle. Einige meiner Tourbegleiter lassen sich in einem Totoru-Schiffchen um die Insel fahren. So ein Schiff sei für die Urus wie ein Mercedes-Benz, sagt Leonardo. Die Urus haben den Tourismus für sich erschlossen und verkaufen Decken und Spielzeuge. Auch die Vorteile einer Solaranlage haben sie entdeckt. Nach ein bisschen Freizeit fahren wir weiter. Ich nutze die Stunden des Unterwegsseins wieder zum Schlafen und wünsche mir vorher ganz doll, nachher ohne Magenkrämpfe aufzuwachen.
Natürlich ist nachher alles wie vorher, aber immerhin stricken um uns herum jetzt Männer. Sie machen traditionelle Mützen und Gewänder. In Deutschland sind die Strickmännchen ja mit dem Groß- und Altwerden der Grünen ausgestorben. Oder? Jedenfalls sind wir jetzt auf Taquile, der Insel der strickenden Männer, wie sie auch genannt wird.
Hunde seien verboten. Zu laut und zu dreckig. Die 1600 Einwohner wollen lieber ihre Ruhe. Am Hafen entdecke ich eine Toilette. Meine Rettung! Und ich vergesse sogleich die wohl wichtigste Verhaltensregel bei Magenkrämpfen: »Bitte renn nicht! Das Ziel wirkt näher, als es ist!«
Puh. Knapp war’s. Sehr knapp. Aber schlagartig geht es mir besser.
Jetzt nur noch weg mit dem Übel, das sicher gegen sämtliche Umweltauflagen und Emissionsrichtlinien verstößt. Nur: Wo ist die Spülung. Ich suche, aber da ist keine Spülung. Genau, und jetzt fällt’s mir auch wieder ein, Taquile hat ja keine Strom- oder Wasserversorgung. Gespült wird mit der Gießkanne. Schamerfüllt krame ich beim Hinausgehen in meiner Tasche und drücke der Toilettenfrau einen Sol in die Hand – umgerechnet keine 30 Cent.
Und flüstere: »Perdón.«
Taquile hat einen kleinen Berg. Ich befinde mich schon 3800 Meter über dem Meeresspiegel. Selbst ein kleiner Aufstieg kann hier zur Tortur werden, doch meine Scham beflügelt mich. Ich renne auch der Angst davon, dass mir die Toilettenfrau schlimme, seit Generationen weitergegebene Flüche (Impotenz! Haarausfall! Stricksucht!) hinterher schickt. Erst nach der Hälfte der Strecke merke ich, dass ich mich komplett übernommen habe. Keuchend gehe ich langsamer und begegne zwei Amerikanern. Die beiden älteren Herren leiden sichtlich unter der Höhe. Als ich einem von ihnen Wasser anbiete, scherzt er, dass er jetzt eher Sauerstoff brauche. Ich lass die Halbgreise zurück, ich setze mich ab und blicke nur hin und wieder zurück. Ich habe einen Lauf.
Und dann plötzlich: wieder Magenkrämpfe. Ich muss mich kurz setzen. Die Aussicht soll mich ablenken. Bitte, Aussicht! Es ist übrigens unvorstellbar ruhig. Ab und zu hört man einen Vogel, gelegentlich auch die Stimme eines Touristen in der Ferne, aber sonst nichts. Kein Auto. Keinen Bus. Stille. Ich bin beeindruckt. Mein Magen leider nicht.
Es hilft nichts, ich muss schon wieder nach einer Toilette suchen. Die kleinen verwinkelten Straßen mit ihren verborgenen Ecken sehen verführerisch aus, doch ich schleppe mich auf die Spitze des Hügels. Hier, im Zentrum der Insel, ist eine Markthalle. Ich krame noch mal einen Sol aus der Tasche und drücke ihn einer alten Dame mit einem kleinen Kind in die Hand. Da ich weiß, was geschehen wird, kundschafte ich schon vor der Tat einen Fluchtweg aus.
Als ich fertig bin, geht es mir tatsächlich einen Augenblick lang besser. Mit der Wasserkanne, die neben der Toilette steht, versuche ich, mein Chaos selbst zu beseitigen. Aber ich bin eben doch ein Kind der Moderne. Ich mache alles nur noch schlimmer. Aber was kann ich dafür, dass ich in einer Welt mit Klospülung aufgewachsen bin?
Ich weiß, man soll zu seinen Taten stehen, wegrennen macht alles nur noch schlimmer.
Aber ich bin ja schon weg.
Die Letzten aus unserer Gruppe erreichen den Berg. Auch die luftlosen Amerikaner. Zeit fürs Mittagessen. Fisch oder Omelette? Beides klingt suspekt, aber ich nehme den Fisch und esse ein wenig. Als ein Musiker auftaucht, schleiche ich mich zum dritten Mal auf die Toilette; der halbe Fisch, der noch auf dem Teller ist, kann mich mal.
Ich habe Taquile überlebt, die Insel ohne Hunde und ohne Lärm. Ach Taquile, wir sind auf ewig verbunden. Auf der Rückfahrt schlafe ich wieder, und als wir Puno erreichen, rufe ich ein Hostel an und reserviere ein Zimmer. Mit dem ersten Bus fliehe ich aus dieser kalten Stadt mit dem großen See.
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Und so geht es weiter: Schluchten und Kondore