Archiv für das Thema ‘Kolumnen’

Mit Pablo im Auto: Eine argentinische Regenkomödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, 20.10 Uhr; zwei Männer im Auto; stärker werdender Regen

PABLO. (fährt auf die Stadtautobahn) Mmmhh. (schaltet den Warnblinker ein, beschleunigt leicht)

ICH. Was machst du da?

PABLO. Ich habe den Warnblinker angemacht.

ICH. Warum?

PABLO. Unwetter.

ICH. Es regnet.

Drei Minuten später

ICH. Warnst du die anderen Autofahrer vor dem Regen? Oder vor dir?

PABLO. Das verstehst du nicht.

ICH. Ich will es aber verstehen.

PABLO. Kannst du nicht.

ICH. Warum?

PABLO Verstehen nur Argentinier.

ICH. Es regnet auch in Deutschland.

PABLO. (reibt sich mit der rechten Hand die Stirn) Ist mir bekannt.

Drei Minuten später

ICH. Unterscheidet sich der argentinische Regen sehr vom deutschen Regen?

PABLO. (unverständlich)

ICH. Ich glaube ja, der deutsche Regen ist hochwertiger. Ihr seid doch Schwellenland.

PABLO. (unverständlich)

ICH. Erinnerst du dich noch an die zwei schwarzen Hosen, die ich mir in Buenos Aires an meinem Geburtstag gekauft habe?

PABLO. Nein.

ICH. Bei der einen, nicht der aus Cord, ist der Hosenstall kaputt. Nach nicht mal einem Jahr! Ist verrückt, oder? Ich musste drei Tage mit offenem Hosenstall durch Patagonien laufen.

PABLO. Du gehst mir auf die Eier.

ICH. Fahren ganz schön viele Autos mit Warnblink. Nervt das nicht?

PABLO Das nervt nicht.

ICH. Ich hatte nur eine Hose für den Urlaub eingepackt. (prüft mit Daumen und Zeigefinger den Hosenstall) Ich war noch in der Näherei neben dem Hostel, um den Hosenstall provisorisch reparieren zu lassen. Und was sagt die Näherin?

PABLO. Keine Ahnung.

ICH. Ich soll den Schlitz nicht mit Gewalt öffnen. (lacht hysterisch) Mit Gewalt! Das kann auch nur eine Frau sagen, oder?

PABLO. Weiß nicht.

ICH. War aber gar keine Frau, hatte nur sehr lange Haare. Bis hier ungefähr. (beugt sich nach rechts und berührt mit der linken Hand den Po) Vielleicht solltest du irgendwo halten, bis der Regen aufgehört hat. Ich lad dich auf einen Kaffee ein. Du wirkst ein bisschen müde und angespannt.

PABLO. Unwetter.

ICH. Was?

PABLO. Das ist kein Regen. Das ist ein Unwetter.

Zwei Minuten später

ICH. Ein bisschen schneller fahren kannst du nicht, nein? Vielleicht 70 oder wenigstens 65einhalb? Ich habe übermorgen einen Termin.

PABLO. Sehr witzig.

ICH. So wie ihr fahrt, frage mich ja manchmal, wie es euch möglich war, einen fünffachen Formel-I-Weltmeister hervorzubringen.

PABLO. (mit schwärmerischem Ton in der Stimme) El Maestro.

ICH. Ich kenne kein Volk, das langsamer anfährt als ihr, wenn die Ampel grün wird.

PABLO. Einundfünfzig. Vierundfünfzig. Fünfundfünfzig. Sechsundfünfzig. Und siebenundfünfzig. Außerdem zweimal Zweiter: fünfzig und dreiundfünfzig. Damals, als noch nicht der Computer die Rennen fuhr.

ICH. Schien wahrscheinlich immer die Sonne damals.

PABLO. Halt die Schnauze! (guckt nach oben, flüstert) Hör nicht auf ihn, Maestro.

Eine Minute später

ICH. Man sieht kaum noch dreihundert Meter weit. Vielleicht solltest du auch die Nebelscheinwerfer anmachen.

PABLO. Hab ich schon.

Vorhang

 

Patagonisches Reisetagebuch (III): Ein falscher Rockstar, ein verwirrter Pinguin und viele andere Deutsche am Ende der Welt

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Route: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn > Viedma > Azul > Buenos Aires

Teil I: Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

Teil II: Die Drei-Tropfen-Töchter, der singende Papa und ein Auto im Sandkasten

♦♦♦♦♦

 

Tag 8. Puerto Madryn.

Eine Argentinierin beschimpft meinen Sohn oder mich, genau verstehe ich sie nicht, als »Idiot«. Einer von uns beiden soll den Pinguin verwirrt haben. Ich halte mich aber für unschuldig, und mein Sohn sich auch. Außerdem sind wir vorhin belehrt worden. Zwar habe ich die meisten Verhaltensregeln gleich wieder vergessen oder wegen des Genuschels der Belehrerin gar nicht erst verstanden. Aber an diesen einen Punkt erinnere ich mich noch: »Macht immer Platz für jeden Pinguin, der euch begegnet. Sonst kann’s passieren, dass er die Orientierung verliert und nicht mehr zu seiner Familie zurückfindet.«

Ich habe nicht herumgestanden, ich war höchstens langsamer als der Pinguin, und verwirrt bin ich selbst. Ich im Urlaub – das ist wie Rockstar auf Welttournee: Ich weiß gerade noch, in welcher Stadt wir übernachtet haben. Aber wo waren wir vor drei Tagen? Und wie sah das Hostel aus? Wir waren doch im Hostel, nicht wahr?

Dabei bin ich, alles in allem, ein schlechtes Rockstar-Imitat. Bei mir ist die Frau immer dieselbe, und ich schleppe alles selbst, auch die fast Fünfjährige, wenn’s sein muss, und ob es sein muss, entscheidet die fast Fünfjährige. Vor vier Stunden habe ich mich, mit ihr auf der Schulter, gebückt (und nicht hingehockt), um den von ihrem Fuß abgefallenen Badelatsch aufzuheben. Seitdem brennt und sticht es im linken Bein. Mitleid muss ich mir aber selbst verabreichen, denn die Frau hat ja drei Kinder auf die Welt gebracht. Was an Frauen wirklich nervt: das niemals endende Gejammer über die sogenannten Schmerzen der Geburt. Aus meiner Sicht, und ich war ja dreimal dabei, ist das Gebären kaum anspruchsvoller als das Ausbrüten.

»Hast du meinen Sohn gerade Idiot genannt? Spinnst du?«

»Schatz, ganz ruhig, vielleicht hat die blöde Kuh ja auch mich gemeint.«

»Dann hätt′ ich nichts gesagt.«

Wir sind am südlichsten Punkt unserer Patagonien-Reise, im Tierschutzreservar Punta Tombo, dem größten Pinguin-Nistplatz Lateinamerikas. Hunderttausende Magellan-Pinguine leben von September bis März auf der Halbinsel in der Provinz Chubut. Andere Quellen sprechen sogar von einer Million. Sobald es Frühling wird auf der Südhalbkugel, verlassen sie Brasilien und schwimmen 3000 Kilometer durch den Atlantischen Ozean, um beim Nachbarn ihre Jungen auszubrüten. Die Babys sind schon da, gucken aus Erdlöchern und hinter Sträuchern hervor.

Amerikanische Wissenschaftler, die von 1983 bis 2010 hier geforscht hatten, haben gerade ihre Studie veröffentlicht. Zwei von drei Geschlüpften, so das Ergebnis, überleben die ersten Wochen nicht. Sie sterben ohne das wasserfeste Federkleid an Nässe, Sturm und Kälte, finden keine Nahrung oder werden selbst gefressen. Einer der Autoren der Studie sagt Jahre voraus, in denen – Stichwort: Klimawandel – wegen der heftigeren und häufigeren Stürme keines der Jungtiere überleben werde.

Der Mensch hält sich bislang heraus. Die Pinguine werden nicht gefüttert und nur beschützt vor uns, den Besuchern. Der drei Kilometer lange, abgesteckte Weg durch den Park darf nicht verlassen werden, und Mülleimer gibt es genauso wenig wie Toiletten. Rauchen ist verboten. Wikipedia spricht von 65 000 Touristen jährlich – doppelt so viele wie in den Neunzigern. Clarín, die größte Tageszeitung Argentiniens, vermeldete Ende November 1500 Besucher pro Tag. Das Tourismusministerium der Provinz zählte 50 000 zwischen September und Dezember 2013. Die Zahlen klingen eher nach Geheimtipp, sind aber angesichts der Niemandsländlichkeit des Ortes wohl wieder recht beachtlich. Punta Tombo liegt ja nicht nur 125 Kilometer südlich einer Stadt (Trelew) und mehr als 1500 Kilometer entfernt von Buenos Aires, sondern auch am Ende einer langen Schotterpiste. Bis Arsch der Welt ist′s nur unwesentlich weiter. Trotzdem kommt jeder Zweite, der die Kolonie besucht, aus dem Ausland und zahlt, wie es sich in Argentinien und anderswo auf dem Kontinent gehört, einen deutlich höheren Eintrittspreis.

»Kommt alle raus, Pingus, kommt alle raus!«

Die Zweijährige ist für ihre Verhältnisse sehr gesprächig heute. Sie hat seit zwei Tagen Heimweh nach Buenos Aires und vermisst ihre Freundinnen aus dem Kindergarten. Wenn ihre Geschwister miteinander spielen, sitzt sie abseits, nimmt sich mein Telefon und redet auf Valentina, María und vor allem Laila ein. Sie hält sich auch Schuhe, Flaschen und Bauklötze ans Ohr. Laila nimmt immer ab – beste Freundin eben.

Schaut, Kinder, wie nett die Pinguine miteinander umgehen, wie lieb die sich haben. Es wird gekuschelt, ohne dass einer den anderen Sekunden später würgt. Es wird gewatschelt, ohne dass einer den anderen irgendwann umschubst. Es wird sich ausgeruht, ohne dass einer dem anderen ins Ohr schnarcht. Sind die immer so? Streiten die nie? Auch die Eltern nicht? Macht mir richtig schlechte Laune, dieses Gutpinguinentum: Kopf größer als ′n Gartenzwerg, aber Riesen in Sachen Moral. Fehlen nur noch VegetarierInnen, die aus »Respekt vor Natur, Tieren und Menschen« keinen Fisch essen.

Auf dem Rückweg überfahre ich ein Gürteltier, das über die Straße läuft. Die Kinder brauchen zweieinhalb Tage, um mir zu verzeihen.

Tag 9. Puerto Madryn.

Das schreibt der Reiseführer:

Das geschützt in der Bucht des Golfo Nuevo liegende Städtchen ist das Tor zum Tierschutzgebiet Península Valdés. Obwohl Tourismus und Industrie boomen, hat es seinen Kleinstadtcharakter bewahrt. Das Radio gibt Suchmeldungen nach vermissten Hunden durch, die Einheimischen sind gastfreundlich und gemütlich.

Gemütlich? Das ist untertrieben. Eine Minute dauert in Patagonien 90 Sekunden, mindestens, und jeder Patagonier scheint einen Tempomat zu tragen, der zu niedrig eingestellt ist. Zum Glück halte ich mit, seit ich nur noch humpeln kann. Die Ärztin im Krankenhaus diagnostiziert an meinem linken Bein gerade eine Art Hexenschuss für Anfänger, gibt mir Schmerztabletten und schickt mich dann ins Nebenzimmer. Jetzt noch eine Spritze, und dann wird es bestimmt gleich besser.

Der Spritzer macht aus dem Stich eine Zeremonie, murmelt vor sich, hoffentlich sind′s patagonische Flüche gegen Hexenschüsse, lässt sich meinen Namen buchstabieren, zieht am Mate, erfragt den Vornamen und reicht mir den Kugelschreiber für die Unterschrift. Um ihn zu beschleunigen, frage ich, mit schon heruntergelassener, also ohne Hose: »Wohin? In den Arsch?«

»Ganz genau.«

»Okay.«

»Dann wollen wir mal.«

»Ja.«

»Augenblick.«

»Ja?«

»Welche Backe?«

Er kassiert 30 Peso (2,77 Euro) – und lässt mich dann noch zehn patagonische Minuten aufs Wechselgeld warten.

Wir hatten auf dieser Reise noch keine so schöne Unterkunft. Gleich gestern, am ersten Abend, wurde uns zwar aus unserem Fach in der Gemeinschaftsküche ein Plastikbehälter samt schon gekochter Spaghetti (sehr al dente) geraubt. Und gesäubert wird das Geschirr, ein Klassiker des hostelismo latinoamericano, mit dem Helmut Schmidt unter den Abwaschschwämmen: Hat schon alles gesehen und könnte viel erzählen, ist ordentlich ramponiert, aber nicht totzukriegen.

Das alles gehört selbstverständlich zum Ambiente.

Hier könnten wir bleiben. Die Kinder sind ja ganz pflegeleicht, wenn man ihnen nicht dauernd begegnet. Der Siebenjährige lebt im Fernsehraum, er guckt alles, mexikanische Liga, Truckrennen, zwischendurch gern was Schlüpfriges und notfalls auch die Präsidentin, wenn gerade der Mann nebenan auf dem Ledersofa das Programm bestimmt; sobald der eingeschlafen ist, ist er die Fernbedienung natürlich los.

Habe ich eine Lust auf das Egocentro. Es »feiert die maritimen Schätze der Region«, steht im Reiseführer. Oje, bunte Fische vor Korallen auf Fotos also. Wir könnten zum Strand gehen und dann hunderte Meter hineinlaufen, es ist gerade Ebbe. Wie könnten zuschauen, wie die Sonne untergeht und das Wasser wiederkommt. Viele machen das so, vermutlich sogar alle außer uns, so voll ist der Strand. Der Sohn meint, wir könnten auch fernsehgucken.

Warum findet das Navigationsgerät denn dieses verdammte Museum nicht? Muss ja furchtbar angesagt sein.

»Ecocentro, nicht Egocentro. Wundert mich aber nicht.«

Immer diese unqualifizierten Kommentare.

Es sind tatsächlich noch andere Besucher hier, guck an, hätte ich nicht gedacht. Acht andere, um genau zu sein. Und um ganz genau zu sein: weitere acht Deutsche, zwei Familien, vier blonde Kinder, deren Köpfe von Weitem leuchten. Mein Sohn fragt ja jeden zweiten Tag, wann er sich endlich die Haare färben dürfe, damit sie genauso schwarz seien wie die seiner Schulfreunde. Seit einem halben Jahr vertröste ich ihn auf »nächste Woche«.

Die Vierjährige hat wieder einen ihrer Stolpertage erwischt. Sie stolpert ja jeden Tag mehrmals, über Steine und winzige Unebenheiten auf dem Bürgersteig. Aber an Stolpertagen stolpert sie ohne Grund, sozusagen präventiv. Wenigstens rennt sie nicht gegen das rote Riesenwal-Ding, um sich ordentlich den Kopf zu stoßen. Sie ist natürlich auch viel kleiner als ich.

»Wie kann man das denn nicht sehen?«

Es ist ja so: Alles Schlechte haben die Kinder sowieso von mir. Und alles Gute haben sie von anderen, vor allem von ihrer Mutter, manchmal auch von unserem Stromableser, von irgendeiner Frau, die ihnen mal über den Kopf gestrichen hat, oder ähnlich wichtigen Bezugspersonen, auf keinen Fall aber von mir. Aufregen bringt auch gar nichts. Wenn ich mich darüber aufrege, heißt es nur: »Das haben sie auch von dir, das Aufregen.« Ich bin doch aber auch sensibel.

Die Zweijährige hält sich die Eintrittskarte ans Ohr und telefoniert schon wieder mit Laila. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich das deutsch-spanische Kuddelmuddel, das sie da spricht, dechiffrieren. Ihre Mutter, klar, hört sogar, was Laila sagt.

Ist gar nicht so übel, das Museum. Gerade waren wir in einem Dunkelraum mit Walgeräuschen. Jetzt stehen wir vor einem Brunnen und lassen uns was erklären. Am Ende sitzen die Kinder unten im Unterrichtsraum an einem runden Tisch und lernen, dass der Wal kein … ähm … und der Delfin auch nicht … ist jedenfalls sehr interessant, was die junge Museumsmitarbeiterin erzählt. Ihre Neugierde haben die Kinder eindeutig von mir.

Jetzt wird es aber Zeit, die anderen Deutschen kennen zu lernen. Wenn sich Landsleute am Ende der Welt begegnen, gibt es ja tausend Themen.

»Seid ihr auch auf dem Zeltplatz?«

»Nee, wir sind im Hostel in der Avenida … also in der Nähe vom äh … ach, und ihr auf dem Zeltplatz, ja?»

Eineinhalb Jahre wollen sie Südamerika bereisen. Sie kommen gerade aus Uruguay und werden in zwei Wochen Chile erreichen. Ich gebe ein paar wertvolle Tipps, Valparaíso, da müsst ihr hin, Santiago de Chile ist hingegen nur Durchschnitt, hat mich nicht gerockt, die Hauptstadt, die Fahrt über die Anden lohnt sich natürlich, kann ich nur empfehlen, ja, nach Bolivien unbedingt, nehmt euch aber an der Grenze vor Rotkäppchen in Acht, und vergesst mir den Norden Argentiniens bitte nicht. Sie schauen, als hätte ich nachträglich Christoph Kolumbus die Entdeckung Amerikas streitig gemacht.

»Haben die’s gut«, sage ich, als wir wieder im Auto sitzen.

»Niemals.«

»Aber überleg doch mal: Ecuador, Peru, Kolumbien, Guatemala. Und alles als Familie. Da wäre man richtig aufeinander angewiesen, und jeder müsste sich ein bisschen zurücknehmen.«

»Papa, können wir endlich losfahren? Mir ist heiß, und ich habe Hunger.«

»Ich muss pieseln.«

»¡Hola Laila!«

»Mir reicht, dass ihr euch zweieinhalb Wochen zurücknehmt.«

»Stimmt: niemals.«

Das Patagonische Reisetagebuch (II): Die Drei-Tropfen-Töchter, der singende Papa und ein Auto im Sandkasten

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Route: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn > Viedma > Azul > Buenos Aires

Teil I: Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

♦♦♦♦♦

 

Tag 6. Pehuén-Co > Las Grutas. 600 Kilometer.

Mit drei Söhnen hätte ich die Nacht in Ushuaia verbracht, der südlichsten Stadt der Welt, wir würden jetzt die Antarktis durchqueren und kämen spätestens morgen Früh oben in Kanada raus. Aber der Siebenjährige hat zwei kleinere Schwestern, die uns aufhalten, besonders gern, nachdem ich drei Laster überholt habe.

»Piiiipiii, Papa.«

Mein Sohn pinkelt, wie jeder gesunde Mann, morgens und, wenn er’s nicht vergisst, noch mal abends vor dem Schlafgehen.

Bei seinen Schwestern: drei Topfen.

Drei Tropfen, drei Laster, wieder drei Tropfen.

Wir sind unterwegs auf der Ruta Nacional 3, Argentiniens berühmter Ostküstenstraße, die von Regisseuren gern für hiesige Roadmovies (Die Reise) besetzt wird. Sie führt von Buenos Aires nach Feuerland und ist 3060 Kilometer lang, wobei man hinter Río Gallegos, der Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, ein Stück durch Chile fährt. Der Reisende, dichtet der Lonely Planet, »durchquert weite, gähnend leere Landschaften, die am Horizont verschwimmen wie ein endloses unbeschriebenes Blatt Papier«. Wir wollen überübermorgen den Kilometer 1514 erreichen und dort ins Tierschutzreservat Punta Tombo abbiegen, um die Magellan-Pinguine zu besuchen. Ich hätte große Lust, weiterzufahren bis ans Ende der Straße. Aber: siehe oben.

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Mapa de la Ruta Nacional 3 en la Argentina., Creative Commons, Urheber: Dario Alpern

 

Hmmmh, sind das schon Altersflecken auf meinem Handrücken? Oder noch Sommersprossen? Und was singt da Andrés Calamaro? »Me parece que soy de la quinta que vio el Mundial 78, me toco crecer viendo a mi alrededor paranoia y dolor.1« Was meint er damit? Nichts gegen Andrés Calamaro: Wir hören sein 2005er Konzertalbum El Regreso, eingespielt in Buenos Aires, rauf und runter auf dieser Reise. Aber allmählich könnte mal wieder ein Auto von vorne kommen. Das Geradeausfahren in dieser Leere führt gedanklich ja doch zu nichts. Macht nur müde. Wenn mich nicht bald wenigstens eine Kurve aufmuntert, muss ich singen, um wach zu bleiben.

 

Wir sind bei Kilometer 970 und nun, am sechsten Urlaubstag, endlich in Patagonien, der Region südlich der Flüsse Colorado (Argentinien) und Bío Bío (Chile) und nördlich der Magellanstraße. »Das große, grandiose Nichts« nennen sie Patagonien bei Spiegel Online. Der argentinische Teil ist 765 000 Quadratkilometer groß – umgerechnet: zweimal Deutschland plus die Schweiz. Hach, sechs Wochen müsste man Zeit haben, nein, sechs Monate, und mit diesen Töchtern natürlich entsprechend mehr. Sechs Jahre, grob gerechnet.

Jedenfalls nicht nur: noch sechs Tage.

Auf dem Weg nach Las Grutas, der nächsten Station, können wir uns bloß ein paar Extravaganzen leisten. Die Nationalstraße haben wir eben hinter Carmen de Patagones verlassen. Die Stadt ist die südlichste der Provinz Buenos Aires und nennt sich selbst Eingangstor nach Patagonien. Auf dem Rückweg werden wir in Viedma übernachten, dem Nachbarort, Hauptstadt der Provinz Río Negro.

Ella no va a volver y la pena me empieza a crecer, adentro
La moneda cayó por el lado de la soledad y el dolor
La moneda cayó por el lado de la soledad otra vez
La moneda cayó por el lado de la soledad.

(Sie wird nicht zurückkehren und der Kummer beginnt in mir zu wachsen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit und des Schmerzes gefallen
Abermals ist die Medaille auf die Seite der Einsamkeit gefallen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit gefallen)

»Papa, du singst so schlecht!«

Zwischenstopp in El Cóndor, dem Seebad am Atlantik, Heimat der größten Papageienkolonie der Welt. Angeblich, natürlich. »Argentinier können über Argentinien eigentlich nur im Superlativ sprechen«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. Ein anderer Journalist, Jakob Strobel y Serra, meint:

Argentinien ist wie Maradona, und Maradona ist wie Argentinien. Niemals könnte er Brasilianer sein, genauso wenig wie Pelé jemals Argentinier sein könnte. In Diego Armando Maradona, dem argentinischen Archetypus par excellence, vereinen sich alle Widersprüche des zweitgrößten Landes Lateinamerikas: Triumph und Tragik, Genie und Wahnsinn, Demut und Divenhaftigkeit, Lebenshunger und Leidenslust, Großmannssucht und Schutzbedürfnis, Schaffenskraft und Selbstverstörungswahn.                          Argentinien: Ein Reiselesebuch, Hamburg 2010.

Apropos Selbstzerstörungswahn: In den Klippen unter dem ältesten Leuchtturm Patagoniens haben die Papageien ihre Nisthöhlen, mehr als 30 000 sollen es sein; und im Sand verstecken die Schildkröten ihre Eier. Trotzdem fahren Geländewagen und Pickups herum, es ist sogar erlaubt. Ach Argentinien, Du Klappstuhlnation. Man sonnt sich nicht auf Decken, sondern bringt seine Stühlchen mit zum Strand. Zur Grundausrüstung gehören außerdem gut gefüllte Kühlboxen, Sonnenschirme und mehrere Liter Warmwasser für den Mate. Und weil man nichts schleppen will, fährt man so weit wie möglich vor.

Hahaha, guckt mal, einer ist mit seinem Jeep im Sand stecken geblieben. Geschieht ihm recht! Der Fahrer buddelt und legt zwei Pappen an die Vorderräder, Mama, Oma und Tochter müssen gleich schieben. Was für eine idiotische Familie. Wir stellen uns auf und genießen.

Noch drei Stunden bis Las Grutas – mindestens. Denn wir haben beschlossen, die unbefestigte Route entlang der Küsten zu nehmen, die Provinzstraße 1. Asphalt, also die Nationalstraße 3, ist etwas für Anfänger.

»Was gibt’s eigentlich heut Abend zu essen?«

»Wie immer.«

»Lecker.«

Wie traumhaft schön diese endlosen, menschenleeren Strände doch sind! Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner. Irgendwo müssen ja keine Leute sein. Und hier sind sie nicht. In Patagonien teilen sich zwei Einwohner einen Quadratkilometer – in Deutschland sind es 226. Aber was dafür an Tieren herumrennt, auf und neben der Straße, schaut euch das an.

»Strauße! Wären mir fast vors Auto gelaufen, die Biester.«

»Das sind Nandus

»Da hinten: Lamas!«

»Guanakos

»Wer ist eigentlich klüger, Papa? Mama oder du?«

»Unentschieden.«

Hoppla, dort vorne liegt aber ordentlich Sand auf der Straße. Die Reifenspuren sind ziemlich tief, ich weiche mal nach rechts aus, wo der Untergrund fester ist.

Keine gute Idee.

In Island, im Sommerurlaub 2010, wollten wir einen Vulkan besichtigen oder einen Wasserfall, vielleicht auch Geysire, mehr gibt es ja in Island eigentlich nicht. Dann kam ein Flüsschen, das in keiner Karte verzeichnet war, aber nachweislich vor uns plätscherte – wohl, weil es in der Nacht geregnet hatte. Ich wollte hindurchfahren, als uns ein Franzose im Suzuki überholte – und gleich darauf, merci beaucoup, mit seinem Geländewägelchen im Schlamm einsank.

Wir stecken auch fest.

Wo, hijo de puta, ist in Patagonien der Franzose, wenn man ihn braucht?

Mittlerweile haben sich die Nachbarn versammelt, um die Köpfe zu schütteln. Fehlt nur noch die Spanner-Omi mit Kissen auf der Fensterbank. Während ich die Reifen freibuddele, fängt der Siebenjährige neben mir wieder mit seinen Amarok-Phantasien an. Ist das überhaupt heilbar? Der Franzose wurde damals übrigens von anderen Franzosen abgeschleppt, aber auf die Deutschen zähle ich hier, am Ende der Welt, eher nicht.

Ein paar Minuten später sind wir umringt von Argentiniern, die mit ihren Pickups angehalten haben. Natürlich wird erst mal eine Runde geplaudert und sich kennen gelernt. Das gibt mir Gelegenheit, zu einer Verteidigungsrede anzusetzen. Für mich ist’s auch schon die sechste Stunde am Steuer. Und schaut euch mal das gelbe Lämpchen am Tacho an, das leuchtet schon seit Buenos Aires. Ist doch ein Wahnsinn, oder? Wird immer gelber. Wisst ihr, ich bin nicht der Typ, der sich größer macht, als er ist. Aber dass wir überhaupt so weit gekommen sind, liegt vor allem an meinen hervorragenden Fahrkünsten und meinen außerordentlich guten Nerven.

Meinetwegen kann ich mich die ganze Welt, eigene und angeheiratete Familie eingeschlossen, für einen Trottel halten. Aber dass mich Argentinien gut findet, ist mir wichtig.

Beim ersten Abschleppversuch reißt das Seil, weil ich falsch lenke. Einer der Argentinier löst mich ab, lässt sich rausziehen, setzt das Auto zurück und rast dann problemlos über die hundert Meter lange Sandfläche. Das Ganze dauert keine zwei Minuten. Der Sohn bekommt das zerrissene Seil geschenkt und fährt gemeinsam mit der Vierjährigen noch ein Stück auf der Ladefläche des weißen Ford Ranger mit.

»Einmal Sand kommt noch«, sagt der Fahrer, geht in die Knie und malt die Strecke inklusive aller Kurven mit dem Finger – Humor hat er ja – in den Sand. »Darfst keine Angst haben.«

»Angst? Ich?«

Sicherheitshalber fährt ein Pickup voraus und einer uns hinterher, bis wir nach 30 Kilometern wohlbehalten zurück auf der Nationalstraße sind.

Tag 7. Las Grutas.

Das schreibt der Reiseführer:

ein im Sommer völlig überlaufenes Seebad

Ich mag Las Grutas nicht. Zu viel Zivilisation. Ich mag das Hostel nicht. Zu viel Jugend. Ich mag die Jugend nicht. Zu viel Gekoche. Wir kommen nicht mal zum Essen. Bei uns wird grundsätzlich geschlungen, wissend um die Zuverlässigkeit von Zwischenfällen (überfüllte Blasen, umkippende Gläser, Gefechte mit Messerchen und Gäbelchen, allgemeiner Futterneid). Es scheint Familien zu geben, auch große wie unsere, die vernünftig essen. Vielleicht haben die Eltern liebere Kinder oder die Kinder strengere Eltern.

Bei uns wird es heute Abend schon wieder Empanadas de Carne geben.

Vorhin, nach dem Aufstehen, hat sich die Toilette über die Fliesen erbrochen. Das neue Zimmer ist noch kleiner als das alte. Im Garten sitzen sich zwei Amerikaner gegenüber, reden miteinander und rubbeln gleichzeitig auf ihren Smartphones rum. Facebook mag ich auch nicht.

Ich vermisse Buenos Aires.

Am Abend gucke ich beim Abwaschen so lange in die Pfanne von Juan aus Córdoba, dass er mich nötigt, mitzuessen. Er hat dünne Rindfleischscheiben mit allerlei Gemüse für sich und seine Freundin angebraten. Ich erkenne Paprika und rieche Knoblauch. Juans Herz gewinne ich, als mir einfällt, dass es für boludo (Schwachkopf, Depp) ein Extrawort in Córdoba gibt: culiado. Jetzt wird sich verbrüdert. Der Herbergsvater hat mitgehört, kommt an den Tisch und fragt, ob ich schon mal Fernet mit Cola probiert hätte, das argentinische Kultgetränk. Argentinier trinken es – etwa vorm Fußballstadion – gern kollektiv aus einer geköpften Plastikflasche.

Noch nie. Ich schwöre. Her mit der Brühe! Ist doch kostenlos, oder?

Noch ein Glas, bitte. Danke.

Und der argentinische Rotwein, den du da hast, Juan, mein lieber culiado, der ist mir auch total unbekannt.

Die Familie guckt besorgt und hat damit, wie ich am Morgen erfahre, absolut recht gehabt.

Fortsetzung folgt

  1. Übersetzung: »Ich glaube, ich gehöre zur Generation, die die WM 1978 gesehen hat. Um mich herum musste ich Paranoia und Schmerz sehen.« Calamaro spielt an auf die Weltmeisterschaft in Argentinien während der Militärdiktatur. []

Das Patagonische Reisetagebuch (I): Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Tag 1. Buenos Aires > Tandil. 413 Kilometer.

»Ich sitz vorne, Papa.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Polizei. Du darfst noch nicht vorne sitzen.«

»Ich will aber vorne sitzen.«

»Du sitzt hinten. Basta.«

Wir sind gerade auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, als auf dem Tachometer das gelbe Lämpchen aufleuchtet. Mal im Handbuch nachgucken. Wir wollen ja nach Patagonien, nach Punta Tombo zu den Pinguinen. Wir haben zweieinhalb Wochen sogenannten Urlaub und werden in Etappen fahren: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn. Drei der 23 argentinischen Provinzen bereisen wir: Buenos Aires (so groß wie Deutschland), Río Negro und Chubut. Bis dorthin sind es noch 2000 Kilometer. Und es gibt schon jetzt Probleme.

Ah, kein Handbuch. Fragen wir jemanden, der sich mit Autos besser auskennt.

Leider ist der Siebenjährige gerade beschäftigt.

Also Tankstelle.

Der Tankwart will das Handbuch sehen. Er bietet dann Öl an.

»Öl ist super.«

»Das gute Öl?«, fragt er.

»Sicher.«

»Ist ein sehr gutes Öl.«

Dem Lämpchen ist’s, tja, sehr egal.

Man müsste eine Glasscheibe haben wie die Taxifahrer in New York City, ja, das wär’s, eine Scheibe, die das Cockpit von der Rückbank trennt. Könnte gar nicht dick genug sein. Die Kleine (2) und die Mittlere (4) stoßen seit zehn Minuten spitze Schreie aus und beklagen Bissspuren am Unterarm. Gleich wird der Zeigefinger in ein Auge gesteckt. Achso, stimmt, das hatten wir schon, beim Losfahren vor einer Stunde. Dann sind halt die Ohren dran oder die Haare, oder wie wäre es mit dem Ellenbogen in den Rippen, mein Sohn? Das mögen doch deine Schwestern überhaupt nicht.

Mein Sohn sagt, er habe, wie immer, nichts gemacht. Ich bin selbst ein großer Bruder, ich kenne alle Tricks, ich habe mich auch immer nur verteidigt.

»Du kommst nach vorne.«

»Nein.«

»Sofort!«

»Ich will nicht vorne sitzen.«

»Du sitzt vorne!«

»Und die Polizei, Papa?«

Bis ans Ende unserer Reise wird der Siebenjährige beifahren und jedes Mal, wenn Polizisten zu sehen sind, fragen: »Soll ich mich groß oder klein machen?«

Tag 2. Tandil.

Das sagt der Reiseführer:

Die hübsche Stadt Tandil liegt am nördlichen Rand der Sierras de Tandil, einer 2,5 Mio. Jahre alten Bergkette. Durch Erosion entstanden sanfte, grasbewachsene Hügel und Felsvorsprünge, die zum Klettern und Mountainbiken geradezu ideal sind. Zum Reiz der Stadt gehört die Mischung aus dörflichem Charme und der Energie einer Großstadt.

Wir sind im Naturschutzgebiet unterwegs, der Reserva Natural Sierra del Tigre. Wir wollen uns aufwärmen für das, was uns erwartet auf dieser Reise: argentinische Wildnis. Oder wenigstens das ein oder andere exotische Tier, das bereit ist, sich fotografieren zu lassen: Pinguine, Gürteltiere, vielleicht ein Schwertwal, vor allem Robben oder Seehunde, vielleicht sind’s auch Seelöwen, egal, ich kann diese grunzenden braunen Säcke, die am Strand rumliegen, eh nicht unterscheiden. Bislang habe ich hier außerhalb des Zoos nur Lamas gesehen und auch gleich gegessen, damals in Salta, hoch im Norden Argentiniens; ich hatte mich nicht im Griff, ich war allerdings auch mit Herrn T. unterwegs, das gibt mildernde Umstände.

Guckt mal, Kinder, da vorn, ein Pferd, nee, ein Pony. Ein Esel, sag ich doch.

Großer Jubel im Auto. Wurde in unserer Welt jemals ein Esel so überschwänglich begrüßt? Oh, er ist ganz blutverschmiert. Die Familie ergeht sich sogleich in Mutmaßungen: Er hat sich bestimmt am Felsen beim Fressen die Schnauze eingeklemmt oder wurde ganz sicher von dummen, bösen, ekelhaften Menschen mit Steinen beworfen oder ist wahrscheinlich einem Raubtier begegnet. An der Börse von Buenos Aires wird weniger spekuliert. Die Zweijährige ist mit den Nerven komplett am Ende, eine halbe Stunde lang sagt sie unaufhörlich: »Armer Esel. Armer Esel.«

Ich heize hinab ins Tal, wir brauchen einen Arzt, dringend, der Esel verblutet uns, halt durch, Junge, halt durch. Wahrscheinlich musst du ausgeflogen werden, wir kommen selbstverständlich für alle Kosten auf. Ich mache schon mal meinen linken Arm frei, ich spende dir so viel Blut, wie du willst.

»Papa spinnt.«

»Sag bloß.«

»Armer Esel. Armer Esel.«

»Ist ja gut, Liebes.«

Einer der Parkwächter sagt, der Esel habe mit einem anderen Esel gekämpft. »Machen die ganz gern. Sind nun mal Esel.«

Tag 3. Tandil > Pehuen-Có. 337 Kilometer.

Abfahrt. Jetzt leuchtet noch eine zweite Lampe, und eine rote Schrift sagt, das Abblendlicht sei defekt. Abblendlicht, aha. Der rechte Scheinwerfer geht nicht mehr, was dumm ist, weil man auf argentinischen Nationalstraßen immer mit Licht fahren muss. Ich zupfe an ein paar Kabeln im Motorraum, ich lasse mir Zeit, mache mein Finger absichtlich schmutzig und starre zwischendurch ins Nichts. Dann tauche ich wieder auf, kratze mich am Kopf und sage der Familie den Satz, den ich vor Jahren in einer Werkstatt aufgeschnappt habe: »Pfffffff, kannst heute nichts mehr selbst reparieren am Auto, läuft alles übern Computer, nicht mal ne kaputte Glühbirne kriegste gewechselt, ja, früher, bei meiner ersten Karre, da habe ich den Motor noch zerlegt und …«

Ich werde gebeten, endlich loszufahren. Nächster Halt: Tankstelle.

Ein höchstens zwölfjähriger Tankwart mit mindestens 20 Jahre alten Koteletten beschaut den Schaden, also er guckt auf die zwei Lämpchen, und sagt dann: »Ich weiß nicht, was es ist, aber schlimm ist es nicht.« Ich könnte ihn küssen, fürchte aber, dass er sich in einen Esel verwandelt.

Ich stelle den Tempomat auf 130 Kilometer pro Stunde, 20 mehr als erlaubt; die 60-Schilder vor Abfahrten in irgendwelche entlegenen Dörfer ignoriere ich schon seit vorgestern, da bremst ohnehin keiner. Genauso ist es mit Baustellen, die großspurig angekündigt werden – Gefahr! Arbeitende Menschen und Maschinen! 20 km/h! – und dann verwaist sind. Außerdem weiß ich mittlerweile, dass vor jeder echten Baustelle in Argentinien ein Mann steht und eine Fahne schwenkt. Dann – und nur dann – wird gebremst.

Zwei Stunden und fast 200 Kilometer später beginnt das Auto zu ruckeln, wenn ich Gas gebe; ein Überholmanöver endet damit, dass der Fahrer des entgegenkommenden Autos scharf bremst und auf den Rasen neben der Straße wechselt. Danke, Du Retter! Die letzten 50 Kilometer bis Pehuen-Có fahre ich 80, beschleunige wie ein Sonntagsfahrer mit Regenschirm auf der Hutablage und spreche mit dem Auto: Das machst du ganz fein. Ein Stückchen noch, ja?

Der Mann in der einzigen Auto-Werkstatt von Pehuen-Có sagt, der Motor bekomme keine Luft. Aber helfen könne er auch nicht, er habe, genau, keinen Computer.

Wir wohnen, 200 Meter entfernt vom Atlantikstrand, beim Russen. El ruso, so heißt die Unterkunft und wohl auch ihr Besitzer. Argentinier sind ja Weltmeister im Spitznamengeben. Man orientiert sich gern an Äußerlichkeiten und nimmt es dabei nicht so genau: Wer ein bisschen asiatisch erscheint, ist el chino, der Chinese, wer eine dunklere Hautfarbe hat, wird el negro, der Schwarze, gerufen, und el turco, der Türke, ist entweder Moslem oder sieht aus, wie in der Vorstellung von Argentiniern Männer aus dem arabischen Kulturkreis auszusehen haben. Eine andere beliebte Methode ist, aus Menschen Tiere zu machen. Im Fußball gab und gibt‘s unter anderem: Esel, Enten und Entchen, Schildkröten, Küken, Aale, schwarze Spinnen, Tiger, Mäuschen und Mäuse, Hunde und Windhunde, Echsen, Löwen, Affen, Wölfe, Ponys, Tauben und Maulwürfe. Lionel Messi ist, klar, der Floh. Außerdem heißen Spieler: Kartoffelchen, Zwiebel, Butter, Kakao, Paprika, Salat, Bohne und Tomätchen. Jeder Argentinier hat obendrein mindestens einen Freund, den er gordo (Dicker) oder flaco (Dünner) nennt, wobei – hiesiger Humor – der gordo auch sehr flaco sein kann und umgekehrt. Und wenn man den Namen des Gegenübers nicht kennt oder vergessen hat, behilft man sich mit Schmeicheleien: Der Hotdog- und der Zeitungsverkäufer in unserem Viertel begrüßen mich als Chef und verabschieden mich als Champion.

Unsere Ferienwohnung, meint die Frau, ist ein bisschen schmuddelig. Sie findet angetrocknetes Bratfett auf der Mikrowelle, Staubschichten unter den Betten und alte Fußspuren in der Dusche. Wir sind im Urlaub und werden sowieso die meiste Zeit unterwegs sein, ich denke, da kann man ruhig mal ein Auge zudrüc … LÄSST SICH DIE VERDAMMTE SCHEISSHAUSTÜR ETWA NICHT SCHLIESSEN? Ich verlange ja keinen Schlüssel oder einen Riegel. Aber zumachen lassen sollte sich die Tür wenigstens.

Das schreibt der Reiseführer:

Im Strandort Pehuen-Có, 440km südwestlich von Mar del Plata, kann man den Strand noch für sich alleine haben – abgesehen von den Quallen, die wie die Badefreudigen das hier ein paar Grad wärmere Wasser schätzen.

Tag 4. Bahía Blanca.

Wir stehen um sechs Uhr auf, wir müssen zum VW-Autohaus nach Bahía Blanca, 80 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. Meine Plan ist: Wir werden die ersten Kunden sein, ich schicke die Frau mit den Kindern rein, das erweckt Mitleid und kitzelt die Beschützerinstinkte der ölverschmierten Kerle; ich existiere gar nicht. Während wir in der Nähe einen Kaffee trinken, wird das Auto an den Computer gestöpselt und der Fehler entdeckt; Ersatzteile liegen im Lager, es ist schließlich eine Vertragswerkstatt; nach einem Spaziergang zur Plaza Rivadavia, dem zentralen Platz, holen wir das reparierte Auto ab. Um 16 Uhr bin ich bereits wieder in Pehuén-Có am Strand und jage Quallen. Ich kann nicht erkennen, dass der Plan auch nur eine Schwachstelle hätte.

In Bahía Blanca (300 000 Einwohner) befindet sich übrigens der größte Marinestützpunkt des Landes; er wurde 1828 von Oberst Ramón Estomba als Fortaleza Protectora Argentina (Beschützerin Argentiniens) gegründet. Außerdem ist die Stadt das Zentrum der Petrochemie und hat seit dem vergangenen Jahr wieder einen Erstligafußballklub.

Wir sind nicht die Ersten, eher Nummer zehn. Oder zwölf. Kinder, ihr seht nicht niedergeschlagen genug aus! Und hört auf, so nett zueinander zu sein, benehmt euch wie immer. Los jetzt!

Nach einer halben Stunde treffe ich die Familie wieder; sie sieht niedergeschlagen aus. Es sei nicht klar, ob das Auto heute überhaupt noch drankomme. Wir sollen auf einen Anruf warten. Kann zwei Uhr werden oder auch fünf. Ich muss noch mal zum Auto, um die Sonnencreme und die Matetasche zu holen. Es ist inzwischen weggeparkt worden und steht, tja, wie soll ich’s beschreiben? Der Parkplatz gehört bestimmt offiziell noch zum Autohaus, der Weg dorthin ist aber weit und stellenweise sehr dunkel. Ich glaube nicht, dass die Autos ringsum irgendwann wieder fahren sollen. Die warten eher auf ihre Ausschlachtung.

Wir halten erst mal am Plan fest und verbringen eine Stunde im Café. Als die Kinder beginnen, Tische zu verrücken, und zwar besetzte, brechen wir auf. Und jetzt? Die Museen sind geschlossen. Ferienzeit. In der Fußgängerzone sind Klettergerüste und Rutschen aufgebaut, das bringt wieder eine Dreiviertelstunde. Wie spät ist es jetzt? Halb zwölf.

Ich bekomme allmählich sehr schlechte Laune und beginne zu hassen. Leute, die nicht verstehen, nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, dass es ein riesiger Unterschied ist, ob ich allein in einer fremden Stadt bin oder mit drei kleinen Kindern, machen mich aggressiv. Wir haben weder eine Wohnung in Bahía Blanca noch kennen wir jemanden, bei dem wir die Zweijährige zum Mittagsschlaf hinlegen könnten. Heiß ist es außerdem. Ihr Männer im Autohaus, wie habt ihr euch das vorgestellt? Was sollen wir in eurer Petrochemie-Metropole machen, bis ihr irgendwann in ein paar Stunden anruft? Und was sagt ihr uns dann? Keine Zeit gehabt heute? Zu viele Terminkunden, ja? Und dann? Fahren wir zurück nach Pehuén-Có? Mit dem Bus? Und das Auto? Morgen ist Feiertag, nicht wahr? Und ich weiß dann immer noch nicht, ob das Auto bald erstickt? Hmmmh.

Wir kaufen erst mal ein Handtuch als Bettdecke, versuchen, die Zweijährige auf der Parkbank schlafen zu legen, trinken um die Wette kaltes Wasser und rufen im Autohaus an. Alle Männer sind zu Tisch. Ich würde jetzt am liebsten den Laden besetzen, so richtig breitmachen müsste man sich, wie die Bundys damals im Supermarkt. Toiletten, W-Lan, Klimaanlage, heißes Wasser für den Mate, Autozeitschriften für den Großen, Sessel zum Rumhüpfen für die Mädchen – ist ja alles da. Peggy meint, das sei meine beste Idee seit Jahren. Eine Stunde später ist das Autohaus erfolgreich besetzt.

 

Die Kleine schläft auf zwei zusammengeschobenen Sesseln, wir schlürfen Mate und lesen Kinderbücher vor. Wenn dem Sohn langweilig ist, schaut er sich die Neuwagenmodelle an und sabbert vorm Amarok, Listenpreis: 223 590 Peso. Es gibt auch Modelle für 190 000, aber er will Allradantrieb. Volkswagen Argentina wirbt übrigens mit dem Slogan Das Auto, also deutscher Artikel. (Auto heißt auch hier auto; coche sagen die Spanier.) Der Boss von VW ist war 1 Viktor Klima, der frühere österreichische Bundeskanzler. Präsident Néstor Kirchner hat er auch beraten. »Seit einer Herzoperation im Jahre 2009 hat er sein Leben umgestellt«, schreibt Wikipedia. »Er lebt mit seiner dritten Frau und drei Kindern im Alter zwischen 4 und 9 Jahren rund eine Stunde von Buenos Aires entfernt, wo er eine Farm mit 240 Hektar Grund und 200 Rindern besitzt.«

Fährt bestimmt Amarok, der Klima.

15 Uhr. Unser Auto wird aus der Abstellkammer geholt. Die Kleine schläft immer noch. Die Mittlere liegt auf dem Boden und malt. Der Große trinkt Mate, um mehr sabbern zu können. Ich weiß gar nicht, was diese Blicke sollen. »Gobernar es poblar«, schrieb schon der Verfassungsvater Juan Bautista Alberdi (1810 bis 1884). »Regieren bedeutet besiedeln.« Und in der Verfassung, Artikel 25 steht sogar:

Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu begünstigen; sie darf in keiner Weise den Eintritt von Fremden in das Argentinische Gebiet, welche in der Absicht kommen, das Land zu bebauen, die Gewerbe zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren, beschränken und mit Abgaben belasten.

16 Uhr. Die chicas von der Buchhaltung gucken angewidert, als ich vor der Glasscheibe ihres Großraumbüros meine Salamistulle aus Pehuen-Có esse. Sie haben sehr gute Fahrgestelle und werden offenbar serienmäßig mit langem, wallendem Haar und großen Airbags ausgeliefert. Ich sabbere nicht.

16.30 Uhr. Der Kanister des Wasserspenders wird ausgetauscht. Wurde aber auch Zeit.

17 Uhr. Ein Teil war locker oder abgebrochen, ich habe keine Ahnung, welches. Die Frau versucht’s mir zu erklären, sie hat ja die ganze Zeit mit den Jungs verhandelt und auch den Schlüssel empfangen. Ich nicke und freue mich, dass die beiden Lämpchen am Tacho nicht mehr leuchten.

Kleiner Haken, sagt sie: Das Auto ist nur provisorisch repariert.

Ich würde sagen: sehr großer Haken, man könnte einen Schwertwal dran aufhängen. Wir haben in Argentinien schon Toiletten und Markisen reparieren lassen, die dann gleich wieder kaputt gegangen sind – und das waren keine provisorischen Reparaturen. Auch der Rückspiegel im Auto fällt gern ab, wenn’s ihm zu heiß ist.

Tag 5. Monte Hermoso.

Ich will unbedingt den höchsten Leuchtturm Südamerikas besteigen und zwinge die Familie, mit mir nach Monte Hermoso zu fahren, einen Badeort 70 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. 70 Kilometer, das ist nichts. Höchster Leuchtturm Südamerikas! 293 Stufen! 67 Meter! Leider endet die asphaltierte Strecke nach 20 Kilometern. Man sieht: Schotter, Schlaglöcher, Sand und Staub bis zum Horizont. Wir beraten fünf Minuten und suchen nach einer Ausweichroute. Schon morgen werden wir eine doppelt so lange und dreimal so schlimme Piste ohne Murren zurücklegen. Aber das weiß noch keiner von uns.

Der Umweg über eine asphaltierte Straße kommt nicht infrage. Das wären 120 Kilometer.

»Jetzt einen Amarok, das wär’s, ne, Papa?«

Als wir am Leuchtturm ankommen, brennt das gelbe Lämpchen schon wieder.

 

Fortsetzung folgt

  1. Nachtrag: Llamadojorge ist schlauer als Wikipedia (und als ich sowieso) und korrigiert in den Kommentaren: Klima ist schon Ende 2012 in Rente gegangen. []

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

Die Spül-Theorie von der Insel der strickenden Männer

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Der Hausherr ist im Augenblick ein bisschen wortkarg. Ein Gerücht besagt, jedenfalls pfeifen es die Loris von den Dächern, CW bereite sich auf einen Wahnsinnstrip vor: Angeblich wird er am Sonnabend zum Wallfahrtsort nach Luján pilgern. Ob er weiß, auf was er sich einlässt? Ich zitiere:

40 km schnurgeradeaus, an der Bahntrasse entlang, die einzige Abwechslung sind wechselnde Grill-Getränke-Devotionalienstände am Wegesrand. Dann war es auch noch empfindlich kalt, da es ja noch Frühling ist, was einige Argentinier zu den erstaunlichsten Maßnahmen getrieben hat. Generell war aber die Leidensbereitschaft wirklich beeindruckend: Auf den letzten Kilometern haben sich viele Leute mehr geschleppt als sie gewandert sind, und die Straßen waren gesäumt von Pilgern, die nicht mehr konnten und einfach am Straßenrand lagen oder apathisch oder schlafend auf den Leitplanken hockend, manchmal notdürftig mit Decken zugedeckt, oft mit Kindern dabei. In der stoisch vorbeihumpelnden Masse kam ich mir oft eher vor wie in einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen als auf einer Pilgerfahrt.

Und da mein alter Reisekumpel CW vermutlich noch im Höhentrainingslager ist oder sich beim umstrittenen spanischen Sportmediziner Eufemiano Fuentes einer Blutdopingbehandlung (»Er will nur Chancengleichheit«) unterzieht, kapere ich jetzt einfach sein Blog, um das hier darbende »Premium-Publikum« (O-Ton Hausherr) nach Peru zu entführen. Wer mag, kann sich ein bisschen einlesen:

•••••

Einerseits bin ich froh, endlich angekommen zu sein. Der Alleinreisende hat ja doch selten Glück mit dem Busnachbarn. Meiner war groß und schwer, ein Mann, der gerade noch in den Sitz passte. Und wenn er sich bewegte, weckte mich seine über die Mittellehne ragende Körpermasse. Andererseits hätte ich noch gute fünf weitere Stunden Schlaf vertragen können, und die eisige Kälte und die Dunkelheit sind auch keine Stimmungsmacher.

Ich sehe, und das weiß ich ohne Spiegel, sehr geschunden aus: Sonnenbrand auf der Nase, Ringe unter den Augen, unrasiert seit – ja seit wann eigentlich? Seit einer Woche? Es ist jedenfalls, so viel ist sicher, Tag 9 meiner Peru-Reise, und ich bin in Puno, der Uferstadt am Titicacasee. Auf 3800 Metern über dem Meeresspiegel leben hier fast 120 000 Menschen.

Noch sieht man nicht viel. Es ist 4 Uhr in der Früh, und nur ein paar Lichter brennen. Ich schlurfe schnell zum Gepäckfach des Busses und stelle mich an, um meinen Rucksack abzuholen. Man kann über Argentinier sagen, was man denn möchte, aber sie verstehen es wenigstens, sich ordentlich in eine Schlange zu stellen. Eine ältere Peruanerin aber stellt sich in die vierte Reihe mitten ins Gewühl und schreit solange, dass der graue Koffer doch ihr gehöre, bis sie ihn bekommt. Äußerst lästig.

Als ich warte, stelle ich fest, dass mir das Hühnchen, das ich vor meiner Abreise in Cusco gegessen habe, nicht wohl bekommen ist. Es rächt sich postum in Form starker Magenkrämpfe. Schnell fliehe ich mit Rucksack in das Terminal und werde überrannt. Dutzende Reiseleiter stehen zu beiden Seiten und rufen mir Angebote zu. Ich winke ab und schlurfe zur ersten Sitzbank, die ich finde. Ein Reiseleiter ist an mir dran geblieben. »Na Amigo, willst du den Titicacasee sehen?«, fragt er. Ich habe nicht die Kraft, noch weiter zu widersprechen, und folge ihm in sein Büro. Eine Karte des Sees ziert die Wand, ebenso Fotos von Buslinien.

Mein Rattenfänger stellt sich als Marcelo vor, und er verkauft mir erfolgreich eine Bootstour zu den schwimmenden Inseln der Urus und zu der Insel Taquile. Dies werde den ganzen Tag dauern. Ich stimme zu. Ich habe nicht vor, länger hier zu bleiben, da ich rechtzeitig wieder in Lima für meinen Rückflug sein muss. Ich gebe Marcelo die Hand und gehe erst mal Frühstücken. Aus einem Fenster sehe ich, wie langsam die Sonne über Puno aufgeht. Mein Reiseführer nennt es: blühend und lebendig. Ich finde es eher unschön und karg. Auf den ersten Blick zeigt sich nur wenig von der kolonialen Architektur, die in Perus Städten so berühmt ist, aber mir ist schon klar, dass ich von einem Bahnhofsviertel zu viel erwarte. Auf meinen langen Reisen mit CW habe ich allerlei Erkenntnisse gesammelt, und eine lautet: Wenn du denkst, du hast schon nichts gesehen, kommt immer noch ein Bahnhof, der weniger zu bieten hat.

Die Krämpfe plagen mich nach wie vor.

Als es Zeit für die Tour ist, warte ich auf Marcelo. Er kommt einen Tick zu spät und flucht stark in sein Telefon. Wahrscheinlich denkt er, dass ich nichts verstehe. Er telefoniert mit dem Fahrer, lotst mich nach draußen und setzt mich in einen Wagen voller fremder Touristen. Der Bus fährt uns fünf Minuten zum Hafen und spuckt uns alle aus. Ich bin etwas unsicher, ob ich wirklich zu dieser Gruppe gehöre, zumal ich mehrfach gefragt werde, welches Hotel ich bewohne. Im Hafenwasser liegen alte Schwanenboote. Man sieht sofort, wie verschmutzt das Wasser ist.

Ich setze mich neben einen jungen Spanier. Er sieht aus wie Javier Bardem, trägt eine bunte Wollmütze und ist ganz aufgeregt wegen der Bootstour. Als wir uns unterhalten, merke ich, was von meinem einst in Deutschland gelernten Spanien-Spanisch nach einem Jahr in Argentinien übrig geblieben ist. Meine Ohren verstehen unargentinisches, also ungenuscheltes Spanisch kaum noch.

Ein Mann mit Baseballmütze steht jetzt vorne und stellt sich als unser Führer vor. Er heißt Leandro und er erklärt in Englisch und Spanisch die Regeln des Schiffes. So dürfen wir erst auf das Dach des Bootes, wenn wir außer Sichtweite des Hafens sind. Wir dürfen den Auspuff des Schiffes nicht berühren und die Toilette nur für Pipi benutzen. Nach einer halben Stunde verfluche ich die letzte Regel. Mein Magen schmerzt ja nicht ohne Grund. Als wir auf das Dach klettern, vergesse ich das immerhin kurz – die Aussicht ist wunderschön. Dies also ist der höchstgelegene befahrbare See der Welt: 178 Kilometer lang und 67,4 Kilometer breit. Javier ist die meiste Zeit draußen, weshalb ich seinen Platz nutze, um zu schlafen. Die Krämpfe werden schlimmer.

Unser erstes Ziel sind die schwimmenden Inseln der Urus. Aus schwimmendem Torf und dem Seegras Totoru haben die Urus hier ihre kleinen Hütten gebaut. Früher taten sie das, um sich vor den Inkas zu schützen. Heute tun sie es wohl mehr, um den Touristen eine Show zu bieten. Wir halten an und betreten die Inseln. Auf dem Gras zu gehen ist seltsam. Die Insel bewegt sich mit den Wellen, und man sackt ein wenig ein. Leonardo erzählt, dass er hier manchmal gegen die Inselbewohner ein bisschen Fußball spiele. Er habe noch nie gewonnen, weil er auf dem Gras einfach nicht laufen könne. Ohne Gram begrüßt er jedoch die Inselbewohner und stellt den Präsidenten vor: Ein barfüßiger Mann kommt leichtfüßig angesprungen. Falls ich jemals Bundespräsident werden sollte, werde ich – das ist hiermit versprochen – als erste Amtshandlung alle meine Schuhe wegwerfen.

Der Präsident und Leonardo erklären uns die Bauweise der Insel und erzählen vom Leben der Urus. Auch das Gras wird ausführlich gepriesen. Anscheinend gibt es nichts, wofür man Totoru nicht nutzen kann: Es ist Medizin, Bausubstanz und Nahrungsquelle. Einige meiner Tourbegleiter lassen sich in einem Totoru-Schiffchen um die Insel fahren. So ein Schiff sei für die Urus wie ein Mercedes-Benz, sagt Leonardo. Die Urus haben den Tourismus für sich erschlossen und verkaufen Decken und Spielzeuge. Auch die Vorteile einer Solaranlage haben sie entdeckt. Nach ein bisschen Freizeit fahren wir weiter. Ich nutze die Stunden des Unterwegsseins wieder zum Schlafen und wünsche mir vorher ganz doll, nachher ohne Magenkrämpfe aufzuwachen.

Natürlich ist nachher alles wie vorher, aber immerhin stricken um uns herum jetzt Männer. Sie machen traditionelle Mützen und Gewänder. In Deutschland sind die Strickmännchen ja mit dem Groß- und Altwerden der Grünen ausgestorben. Oder? Jedenfalls sind wir jetzt auf Taquile, der Insel der strickenden Männer, wie sie auch genannt wird.

Hunde seien verboten. Zu laut und zu dreckig. Die 1600 Einwohner wollen lieber ihre Ruhe. Am Hafen entdecke ich eine Toilette. Meine Rettung! Und ich vergesse sogleich die wohl wichtigste Verhaltensregel bei Magenkrämpfen: »Bitte renn nicht! Das Ziel wirkt näher, als es ist!«

Puh. Knapp war’s. Sehr knapp. Aber schlagartig geht es mir besser.

Jetzt nur noch weg mit dem Übel, das sicher gegen sämtliche Umweltauflagen und Emissionsrichtlinien verstößt. Nur: Wo ist die Spülung. Ich suche, aber da ist keine Spülung. Genau, und jetzt fällt’s mir auch wieder ein, Taquile hat ja keine Strom- oder Wasserversorgung. Gespült wird mit der Gießkanne. Schamerfüllt krame ich beim Hinausgehen in meiner Tasche und drücke der Toilettenfrau einen Sol in die Hand – umgerechnet keine 30 Cent.

Und flüstere: »Perdón.«

Taquile hat einen kleinen Berg. Ich befinde mich schon 3800 Meter über dem Meeresspiegel. Selbst ein kleiner Aufstieg kann hier zur Tortur werden, doch meine Scham beflügelt mich. Ich renne auch der Angst davon, dass mir die Toilettenfrau schlimme, seit Generationen weitergegebene Flüche (Impotenz! Haarausfall! Stricksucht!) hinterher schickt. Erst nach der Hälfte der Strecke merke ich, dass ich mich komplett übernommen habe. Keuchend gehe ich langsamer und begegne zwei Amerikanern. Die beiden älteren Herren leiden sichtlich unter der Höhe. Als ich einem von ihnen Wasser anbiete, scherzt er, dass er jetzt eher Sauerstoff brauche. Ich lass die Halbgreise zurück, ich setze mich ab und blicke nur hin und wieder zurück. Ich habe einen Lauf.

Und dann plötzlich: wieder Magenkrämpfe. Ich muss mich kurz setzen. Die Aussicht soll mich ablenken. Bitte, Aussicht! Es ist übrigens unvorstellbar ruhig. Ab und zu hört man einen Vogel, gelegentlich auch die Stimme eines Touristen in der Ferne, aber sonst nichts. Kein Auto. Keinen Bus. Stille. Ich bin beeindruckt. Mein Magen leider nicht.

Es hilft nichts, ich muss schon wieder nach einer Toilette suchen. Die kleinen verwinkelten Straßen mit ihren verborgenen Ecken sehen verführerisch aus, doch ich schleppe mich auf die Spitze des Hügels. Hier, im Zentrum der Insel, ist eine Markthalle. Ich krame noch mal einen Sol aus der Tasche und drücke ihn einer alten Dame mit einem kleinen Kind in die Hand. Da ich weiß, was geschehen wird, kundschafte ich schon vor der Tat einen Fluchtweg aus.

Als ich fertig bin, geht es mir tatsächlich einen Augenblick lang besser. Mit der Wasserkanne, die neben der Toilette steht, versuche ich, mein Chaos selbst zu beseitigen. Aber ich bin eben doch ein Kind der Moderne. Ich mache alles nur noch schlimmer. Aber was kann ich dafür, dass ich in einer Welt mit Klospülung aufgewachsen bin?

Ich weiß, man soll zu seinen Taten stehen, wegrennen macht alles nur noch schlimmer.

Aber ich bin ja schon weg.

Die Letzten aus unserer Gruppe erreichen den Berg. Auch die luftlosen Amerikaner. Zeit fürs Mittagessen. Fisch oder Omelette? Beides klingt suspekt, aber ich nehme den Fisch und esse ein wenig. Als ein Musiker auftaucht, schleiche ich mich zum dritten Mal auf die Toilette; der halbe Fisch, der noch auf dem Teller ist, kann mich mal.

Ich habe Taquile überlebt, die Insel ohne Hunde und ohne Lärm. Ach Taquile, wir sind auf ewig verbunden. Auf der Rückfahrt schlafe ich wieder, und als wir Puno erreichen, rufe ich ein Hostel an und reserviere ein Zimmer. Mit dem ersten Bus fliehe ich aus dieser kalten Stadt mit dem großen See.

•••••

Und so geht es weiter: Schluchten und Kondore

Zwei Kinderratten im Nebel

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Mann hat sich, weil seine Frau auf Reisen ist, vier Rindersteaks gekauft, er wiegt sie jetzt zärtlich und vermisst sie dabei mit den Augen. Kommt hin, denkt er, Breite: seine beiden Daumen, Länge: Schuhgröße 38. Schon vernebelt er beim Anbraten tüchtig die Küche, was die Frau immer hasst, also nie erlaubt, aber die ist ja … hihihi. Er kichert. Ein Mann wie er, der braucht doch keine Dunstabzugshaube. Ja, er brät, wie er schon lange nicht mehr gebraten hat, und gleich wird er essen, wie er verdammt lange nicht mehr wird essen dürfen. Er ist glücklich.

Plötzlich tauchen aus dem dichten Nebel zwei Mädchen auf — der Hungrige schätzt das eine auf bald zwei Jahre, das andere auf viereinhalb —, und sie verlangen Fleisch. Nichts anderes. Nur Fleisch. Sein Fleisch. He, Mädels, eure kalten Nudeln mit lauwarmer Sahne sind sehr lecker, nein, das Steak schmeckt euch überhaupt nicht, bekommt ihr sowieso nicht gekaut mit euren Mäusezähnchen, die fallen alle raus, glaubt mir, und gleich beim ersten Bissen werdet ihr euch in Frösche, nein: Ratten verwandeln, in eklige, große, fette und besonders dumme Ratten.

Ist ja gut, sagt der Mann. Er knurrt es mehr. Wir teilen.

Und er beschließt, bessere Gruselgeschichten einzuüben.

Das Riesenembryo und sein Chauffeur: Der ultimative Mar-del-Plata-Reisebericht (I)

von CHRISTOPH WESEMANN

Danü, der Heldenmaler, den es auch nach Buenos Aires verschlagen hat, muss eine halbe Tonne Bücher an die Atlantikküste bringen. Die argentinische Frohnatur CW bewirbt sich um die Stelle des Chauffeurs (die kein anderer will) mit dem Satz: »Viejo, nach Mar del Plata fahr ich dich rückwärts und mit beschlagenen Scheiben.« Er war ja schon zweimal dort. Oder doch nur einmal? Verwechselt er das gar mit Warnemünde? Ach, wird schon. Unsere zwei Helden machen sich jedenfalls auf den Weg, ein gewisser Herr T. übt noch mal seinen Gastauftritt, und der Leser wird eine Baustelle entdecken, die es inzwischen nicht mehr gibt. Weil Schweizer noch langsamer schreiben als Argentinier bauen. 

Danü: Wo bleibt CW? Um halb acht hat er eine SMS geschickt, dass er im Auto sitze. Jetzt ist es kurz vor acht – und CW ist immer noch nicht da. Hoffentlich hat er wenigstens die drei Kindersitze ausgebaut. Wir werden viel Platz brauchen.

CW: Ich dreh gleich durch, also zum zweiten Mal, denn gerade bin ich ja schon durchgedreht. Die Navigation hatte mir vorgeschlagen, gegen die Einbahnstraße zu fahren, es waren nur noch 100 Meter bis zu Danü und seinen Büchern, die wir in die argentinische Atlantikküstenkapitale Mar del Plata bringen sollen. Jetzt bin ich wieder 500 Meter weg vom Ziel und folge der Anweisung, nach rechts abzubiegen.

Danü: Wenn ich Kaffee trinken würde, könnte ich mir jetzt einen kochen.

CW: Was ist denn das? Eine Straße aus Sand, links und rechts wird gebuddelt. Könnte mal bitte jemand den Betonmischer zur Seite schieben? Danke, sehr nett. Gut, die nächste links, dann noch zwei Blocks – oh, Sackgasse. Ich wende, ich fahre in einer Baustelle gegen die Einbahnstraße, ist so was eigentlich noch mit Führerscheinentzug zu ahnden, oder gibt das schon Bewährungsstrafe?

Danü: »Alles scheiße.« (SMS von CW, 8.14 Uhr)

CW: So, ich hab’s, jetzt noch ’n Parkplatz, puh, sind das viele Bücherkartons, Mist, kein Parkplatz, ich dreh noch ’ne Runde, ja?

Danü: Wieso parkt der denn nicht auf dem Bürgersteig?

CW: Warum ist denn gegenüber vom Büro eine Polizeistation?

Danü: Weg ist er. Das kann dauern.

CW: Jetzt bin ich zum dritten Mal auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, die gerade auch eine Großbaustelle ist, weil hier eine Metrobus-Linie entsteht. Die Busse bekommen eine eigene Spur und müssen sich nicht mehr durch den Stau quälen. Weiter im Norden der Stadt gibt es so etwas schon, und die Fahrtzeit von Palermo nach Liniers ist um 30 Prozent gesunken. Steht in der Zeitung. Eigentlich sollte man die Fahrscheine nicht mehr beim Fahrer, sondern draußen am Automaten kaufen können, aber das dauert noch ein bisschen. Auch das versprochene W-Lan im Bus lässt auf sich warten.

Danü: »Riesenscheiße.« (SMS von CW, 8.25 Uhr) Ich kann leider nicht antworten, weil auf meinem Handy kein Guthaben ist. Ich bedauere das nicht im Geringsten.

CW: Mann, ich wollte um 13 Uhr in Mar del Plata sein. Das schaffen wir doch nie. Von Buenos Aires zum größten und bekanntesten Badeort Argentiniens sind es mehr als 400 Kilometer, und nirgends darf man schneller als 130 fahren. Außerdem ist Danü Schweizer, das ist doch ein komplett verweichlichter Stamm, nie einen Krieg mitgemacht und verloren, nie hungern müssen. Danü wird also viele Pausen brauchen.

Danü: Ich bin Schweizer – und Argentinier. Und denke: Ach, was würde ich für das Cliché der Geduld geben. Die werde ich wohl brauchen.

CW: So, jetzt parke ich auf dem Bürgersteig; der Polizist auf der anderen Straßenseite guckt – und sagt nichts. Ich habe in Argentinien wirklich noch keine schlechten Erfahrungen mit Polizisten gemacht. Ich bin natürlich auch ein unauffälliger Verkehrsteilnehmer, ich blinke wenig und hupe viel, ich springe von Lücke zu Lücke und parke, wo ich will. Meine große Spezialität: als Letzter die Ampel schaffen und dann die Kreuzung blockieren.

Danü: Respekt, CW hat tatsächlich die drei Kindersitze ausgebaut. Dann laden wir mal ein.

CW: Das sind ja mindestens 28 mittelgroße Bücherkartons.

Danü: Oben stehen auch noch ein paar.

CW: Ich bereite schon mal den Mate zu. Gestern habe ich übrigens noch eine Thermoskanne gekauft. Die alte Kanne, aus Plastik, hatte ich neulich in Córdoba verloren oder vergessen, war sowieso schon etwas undicht. Jetzt habe ich eine aus Metall, Industria Argentina, die garantiert nicht tropft. Ich weiß gar nicht, wie Danü hier noch sitzen will. Die Karre hängt auch ganz schön durch. Vielleicht sollte ich ein bisschen Mate-Wasser ablassen?

Danü: Dann mal los. Ei, ist das eng hier. Damals im Mutterleib war’s geräumiger. Mate?

CW: Gerne.

Danü: Die Kanne ist undicht und tropft.

Zwei Stunden später

CW: Mit Danü kann man wunderbar schweigen oder über den Sinn von Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert reden. Aber ich muss sagen: Die Kommunikation mit meinem Reisebegleiter Herrn T. hatte ein höheres Niveau.

Herr T.: Boludo, wir müssen den letzten Teil unseres BolivienReiseberichts noch fertigmachen!

CW: Du bist doch nicht aus dem Arsch gekommen!

Danü: Wie bitte?

CW: Hast du das gehört?

Danü: Was gehört?

Wüstentanz

CW: Mit Herrn T. konnte man herrlich tratschen, wirklich herrlich getratscht haben wir miteinander. Massenweise Gerüchte konnte ich in Umlauf bringen – die meisten davon über mich. Zum Beispiel hatte ich ja eine Reihe von Affären mit südamerikanischen Supermodels.

Danü: Auf mich kannst du dich verlassen, ich schweige wie ein Grab.

CW: Siehst du, lieber Leser! Und wenn ich zum Beispiel frage, ob Danü den und den auch so schrecklich finde oder die und die auch komplett nervig, dann sagt er …

Danü: … ich bin die Schweiz, ich bin neutral.

CW: Noch da, Herr T.?

Danü: Ich möchte bitte bald austreten. Wir trinken ja jetzt schon zwei Stunden Mate; erstens zieht CW ganz schön was weg, zweitens treibt das Zeug ohnehin. Als Naturbursche, der ich als Schweizer natürlich bin, verbringe ich übrigens gerne viel Zeit in den Parks von Buenos Aires und schaue jedes Mal wehmütig den Argentiniern zu, wie sie Stunden lang zusammensitzen und Mate schlürfen. Ich müsste schon nach 40 Minuten das erste Mal in die Büsche.

CW: Pfff, Schweizer!

Danü: CW leidet unter Vergesslichkeit. Oder er ist ein Lügner. Vielleicht muss er auch angeben, um sich argentinisch zu fühlen. Denn seinetwegen – genauer gesagt: seiner Blase wegen – haben wir schon dreimal anhalten müssen.

CW: Nein, ich kann kein Angeber sein, ich bin viel zu bescheiden. Ich bin ja der bescheidenste Mensch der Welt.

Danü: Die Landschaft in der Provinz Buenos Aires

CW: … die fast so groß ist wie Deutschland …

Danü: … bietet aber wirklich gar keine Reize. Wir fahren jetzt seit drei Stunden geradeaus, und links ist genauso viel oder genauso wenig wie rechts. Felder mit Kühen darauf. Das Spektakulärste waren bisher die drei Autos an der Tankstelle eben. Sie standen nebeneinander an den Zapfsäulen, und alle hatten die Motorhaube oben. So standen sie 15 Minuten lang, und CW kam nicht dran zum Tanken. Dann wurden sie nacheinander mit weiter geöffneter Motorhaube auf den Parkplatz gefahren.

Reisebericht 2

CW: Als wir einmal gemeinsam durch Mecklenburg-Vorpommern fuhren, hat mir Danü erzählt, dass er schier wahnsinnig werde, weil er überall den Horizont sehe. In der Schweiz gebe es keinen Horizont. Nur Berge. Ich glaube, ich muss ihm jetzt was bieten.

Danü: Mal wieder eine Mautstation. Auf argentinischen Autobahnen muss man nämlich hin und wieder bezahlen. Es gibt Schranken, die sich erst öffnen, wenn man dem Schrankenwärter das Geld gegeben hat. Manchmal, so wie jetzt, treffen zu viele Autos auf zu wenige Schrankenwärter. Dann staut es sich. Es staut sich ein bisschen. Ein Stau ist es eigentlich nicht. Es stehen vor jeder Schranke fünf Autos.

CW: Aufpassen, Danü! Ich zeig dir, was Argentinien ist.

Danü: CW hupt. Er hupt wie ein Irrer. Mehrmals. Staccato. Es ist zwei Sekunden ruhig, und dann hupen ringsum mindestens zehn andere Irre. CW macht auch wieder mit. Sie hören nicht auf.

CW: Kann nicht sprechen. Muss hupen.

Danü: Die Schranken gehen hoch. Alle dürfen durchfahren, ohne zu bezahlen. CW brüllt: »AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA!«

CW: Das, mein lieber Danü, das ist Argentinien!

Danü: Im Durchfahren sieht man am Schrankenwärterhäuschen übrigens ein Schild: »Bitte nicht hupen!«

Fortsetzung folgt

El chico que camina como Menem y está más loco que El Loco

von Christoph Wesemann y Moní (traducción)

Mi hijo dice que alguna vez habló finés. No recuerdo esto. Por supuesto tiene talento para las lenguas extranjeras, habla ruso y castellano. Y una vez estuvimos en la capital Helsinki para visitar a una amiga que vivia ahí. Pero en aquel entonces tenía cinco. Cinco meses. La próxima lengua que quiere aprender es chino. Empezará cuando tenga nueve, le falta un año y medio.

Tal vez no tolera a la Argentina.

Helsinki

Un alemán que desde hace poco está viviendo en Buenos Aires pero extraña Valencia, donde trabajó por cinco o seis años, no piensa bien de los argentinos. »Son fanfarrones, mentirosos y estafadores«, dice. Y lo dice en serio, al menos en un 80 por ciento. También se resiste a hablar castellano. Así que cecea las letras c y z como la gente en Valencia. Así por ejemplo dice caie, cuando en realidad aquí a la calle se le dice cashe. El conoce mil veces más palabras españolas que yo pero, por lo menos, yo no hablo como un conquistador del siglo dieciocho que tiene su velero atracado en el puerto de la ciudad de Buenos Aires.

Ahora mi hijo va todos los miércoles al entrenamiento de fútbol organizado por su colegio. La primera vez lo acompañé. A las 12 Santiago, el profesor de educación física, pasa a buscar a 120 escolares, de los cuales 95 llevan la camiseta de Leo Messi. Después despotrica con los chicos de seis a diez años y les dice: »¡No corremos! ¿Está claro?« Y … ¿qué pasa? Los chicos cruzan la calle a paso muy lento; una bandada de patos hubiera sido más rápida. Y generan un atasco de tránsito de tal magnitud, que en Alemania sería noticia por la radio.

Messi

Después se eligen equipos que se enfrentan en ocho canchitas. Como espectador se ve sólo que cada plantel juega con la misma táctica: ¡Todos hacia la pelota! Esa tarde mi hijo jugó sin pena ni gloria.

»Che, ¿cómo te fue?«, lo pregunté después del entrenamiento.

»¡Re-bien!«

»¿Y qué les dijo al final el entrenador?«

»Dijo que habíamos jugado bien y que teníamos que pasar mejor la pelota.«

»¡Gran DT!«

»¿Viste mis tres golazos, papá?«

»¿Qué?«

Heldenteams

Claro que puede haber metido los tres goles mientras yo estaba ocupado en atar el cordón de mi zapato derecho. Por otra parte, ese hubiera sido la tripleta más rápida del mundo.

En el regreso a casa me repitió exactamente el mismo relato de sus tres goles. Antes de hacer el primero había eliminado a cinco adversarios y pateado la pelota con la izquierda al ángulo derecho. En el segundo fue una volea después de un córner. Y el tercer gol lo hizo de cabeza. Me costó entender a mi hijo porque todo el tiempo me acuerdo del alemán de Valencia y de su frase: »Los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores« – es una buena frase, para situaciones difíciles en la vida, para montañas rusas.

Disneyland

De viaje a Alemania nos quedamos algunos días en París porque los niños querían visitar a toda costa Disneyland. Disneyland en francés podría resumirse como: salir del centro de París a la pampa francesa, llegar después de una hora de viaje, mostrar entradas por valor de 300 euros y esperar en todas partes.

Es necesario esperar incluso frente a atracciones simples, como las que hay en lugares similares – por ejemplo ese carrusel con tazones de café. En uno de los tazones podrían sentarse flojo cinco adultos o siete niños. Pero había sólo dos hindúes. Y en el otro, dos hindúes más. No tengo nada contra los hindúes (ni contra los paquistaníes, por supuesto) pero ocho hindúes en cuatro tazones de café – ¡eso es un escándalo!

Así es que se necesita una paciencia grandísima. Para un lugar como Disneyland fueron inventados los abuelos.

Para subir a la montaña rusa es necesario que los niños midan al menos 1,20 metros. A mi hijo le faltaban cinco milímetros y por eso lo volvieron a medir. Sorprendentemente no había crecido en estos 20 segundos. Dios mío, ¿a quién le gusta medir con tanta exactitud? A una chica de Alemania, ¡claro que sí! Cuando lo rechazó, mi hijo estaba a punto de llorar.

En un primer momento se me ocurrió la idea de tirar de él frente a la revisora: la mamá de sus manos y yo de sus piernas. Pero ratito después pensé en Carlos Menem, a quien cuando era presidente le gustaban los zapatos de tacón para disimular su baja estatura. Y pensé también en el alemán y su frase de que los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores.

Así que fuimos a la vuelta con mi hijo y yo llené sus zapatillas deportivas con todas las cosas que encontramos en nuestros cuatro bolsillos: un mapa de París, una bolsita vacía de pan, un pañuelo usado, caramelos, billetes de subte, tiques del supermercado, panfletos y piezas de Lego.

Él caminaba de forma un poco extraña pero orgulloso como Menem y sonreía de oreja a oreja cuando fue medido por tercera vez por la revisora. Después fuimos cuatro veces en la montaña rusa. Hasta que yo estaba mareado.

Tres golazos en un partido.

¡Ese es mi hijo!

Ciudad de Buenos Aires, 18 de agosto 2013 – El Día del Niño

Die Kindertagskolumne: Mein Sohn, sein blinder Vater und zwei Inder in der Kaffeetasse

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn sagt, er habe mal finnisch gesprochen. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Nun besitzt er bestimmt ein Talent für fremde Sprache, er kann Russisch und Spanisch, und wir haben auch mal eine Woche mit ihm bei einer Freundin in Helsinki verbracht. Aber da war er fünf. Monate. Die nächste Sprache, die er lernen will, ist übrigens Chinesisch. Er wird damit anfangen, wenn er neun ist – es dauert also nur noch eineinhalb Jahre.

Vielleicht verträgt er ja Argentinien nicht.

Helsinki

Der Deutsche, der in Buenos Aires lebt, aber Valencia vermisst, wo er fünf, sechs Jahre gearbeitet hat, hält nicht so viel von Argentiniern. »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger«, sagt er manchmal, und er meint das, obwohl er an sich ein intelligenter Mann ist, zu mindestens 80 Prozent ernst. Er weigert sich auch, argentinisches Spanisch zu reden, er lispelt das C und das Z, wie man das in Walennssija macht, und er sagt zum Beispiel kaje, obwohl Straße, also calle, bei uns hier kasche ausgesprochen wird. Er kennt ungefähr tausendmal mehr Wörter als ich, aber ich klinge dafür nicht wie ein spanischer Kolonialherr aus dem späten 18. Jahrhundert, der gerade mit seinem Segelschiff im Hafen von Buenos Aires angelegt hat.

Mein Sohn geht neuerdings mittwochs zum Fußballtraining, das von seiner Schule angeboten wird. Beim ersten Mal habe ich zugeschaut. Es beginnt damit, dass Sportlehrer Santiago um zwölf Uhr 120 Jungen abholt, von denen 95 ein Messi-Trikot tragen. Dann schnauzt er die Erst- bis Viertklässler erst mal an: »Es wird nicht gerannt! Ist das klar?« Daraufhin überqueren die Jungen im Zeitlupentempo die Straße, ein Schwarm von Stockenten wäre schneller drüben. Zurück bleibt ein Stau, lang genug, dass er es in Deutschland in die Verkehrsnachrichten der Radios schaffen würde.

Messi

Es werden dann Mannschaften gewählt, die auf acht Kleinstkunstrasenplätzen gegeneinander spielen. Als Zuschauer kann man gucken, wohin man will, die Teams versuchen sich an der gleichen Taktik: Alle auf den Ball! Mein Sohn hat an diesem Nachmittag, nun ja, unauffällig gespielt.

»Und hat’s Spaß gemacht?«, fragte ich nach dem Training.

»Und wie!«

»Was hat euch der Trainer eigentlich am Ende gesagt?«

»Dass wir gut waren, hat er gesagt, wir sollen nur mehr abspielen.«

»Super Trainer.«

»Hast du meine drei Tore gesehen, Papa?«

»Äh.«

Er kann die drei Tore nur geschossen haben, als ich damit beschäftigt war, die Schleife meines rechten Schuhs neu zu binden. Andererseits wäre das der schnellste Hattrick in der Geschichte des Weltfußballs. Er hat mir auf dem Heimweg auch haargenau und zehn Minuten lang seine drei Treffer nacherzählt. Vor dem ersten tänzelte er fünf Gegenspieler aus und traf dann mit links in die rechte Ecke. Beim zweiten verwandelte er einen Eckball mit Volleyschuss. Das dritte Tor erzielte er mit dem Kopf. Ich hatte ein bisschen Mühe, ihm zu folgen, weil ich die ganze Zeit an den Satz des Deutschen aus Walennssija denken musste.

»Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger« – das ist übrigens ein guter Satz, einer für die schwierigen Lebenslagen. Für Achterbahnen.

Neulich, auf dem Weg nach Deutschland, waren wir in Paris zwischengelandet, weil die Kinder unbedingt einmal Disneyland  besuchen wollten. Disneyland auf Französisch bedeutet, grob gesagt: eine Stunde rausfahren aus dem Pariser Zentrum ins Niemandsland, Eintrittskarten im Wert von fast 300 Euro vorzeigen und dann überall anstehen.

In die lange Schlange muss man selbst bei Attraktionen, die jedes schlechtere Volksfest zu bieten hat – etwa das Karussell mit den überdimensionierten Kaffeetassen. In eine Tasse passen fünf Erwachsene oder sieben Kinder, aber es sitzen nur zwei Inder drin. Und in der daneben auch nur zwei. Ich habe nichts gegen Inder (und auch nichts gegen Pakistanis). Aber acht Inder in vier Kaffeetassen – das geht einfach nicht.

Man braucht eine Wahnsinnsgeduld. Für einen Ort wie Disneyland wurden Großeltern erfunden.

Um überhaupt mit der Achterbahn fahren zu dürfen, muss man mindestens 1,20 Meter groß sein. Der Sohn endete bei 119,5. Es fehlten fünf Millimeter, woraufhin er auf meinen Wunsch von der Kontrolleurin noch einmal vermessen wurde. Gewachsen war er überraschenderweise nicht in der Zwischenzeit. Fünf Millimeter, wer misst denn bitte so genau? Ach, eine junge Deutsche, natürlich. Mein Sohn war den Tränen nahe, als er abgewiesen wurde.

Zunächst hatte ich die Idee, ihn in der Luft quer zu legen und vor den Augen der Kontrolleurin gemeinsam an ihm zu ziehen, seine Mama an den Händen, ich an den Beinen. Aber dann fiel mir Carlos Menem ein, Argentiniens Präsident von 1989 bis 1999, der gern Absätze trug, weil er von Natur aus eher klein ist. Und mir fiel der Deutsche ein und sein Satz: »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger.«

So ging ich mit meinem Sohn um die Ecke und stopfte ihm in die Turnschuhe, was wir in seinen und meinen vier Hosentaschen so fanden: den Stadtplan von Paris, eine leere Brottüte, ein volles Taschentuch, Bonbons, zerknüllte Fahrscheine, Kassenzettel, Flugblätter und Legosteine.

Er ging ein bisschen unrund, aber stolz wie Carlos, ließ sich ein drittes Mal vermessen und grinste die Kontrolleurin dabei an. Dann fuhren wir viermal Achterbahn. Bis mir schlecht war.

Drei Tore in einem Spiel.

Mein Sohn.

Buenos Aires, 18. August 2013 – Kindertag in Argentinien


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)