Archiv für das Thema ‘Politik’

Habemus Leser weniger: Papst Franziskus und meine Kolumnen

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich weiß nicht, ob Papst Franziskus in Zukunft noch dazu kommt, meine Kolumnen zu lesen. Als Erzbischof von Buenos Aires hat er jedenfalls keine Kolumne verpasst, oft war Jorge Mario Bergoglio sogar der erste Leser. Nein, ich bilde mir nicht so viel darauf ein; der Mann hat Mitte der achtziger Jahre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt studiert, bestimmt hatte er immer auch Sehnsucht nach reiner deutscher Sprache.

Manchen Text, vor allem, wenn mein Nachbar Pablo darin vorkam, hat Jorge Mario Bergoglio dreimal gelesen. Meine statistischen Daten sind da eindeutig. Und wenn ich auf der Plaza de Mayo war, habe ich aus seiner kleinen Wohnung hinter der Kathedrale, gegenüber vom Präsidentenpalast, sein Kichern gehört – und manchmal durchs offene Fenster auch den Satz: »Dieser Pablo, wunderbar!«

Papst Franziskus (c) Danü

So gesehen bin ich seit der Papstwahl vor einer Woche hin und her gerissen: Einerseits freue ich mich, dass es einer meiner Stammleser ziemlich weit gebracht hat. Und ich gönne es Jorge Mario Bergoglio natürlich von ganzem Herzen, zumal ich ihn für die Idealbesetzung halte. Jemand, der Pablo mag, ist ein guter Mensch, und jeder, der meine langen Texte meistert, muss topfit sein, vor allem körperlich. Andererseits, tja, ist es so, dass ich eigentlich auf keinen Leser verzichten kann. So viele sind es ja nicht. Ich hätte also auch mit einem Papst aus Afrika gut leben können.

Schade finde ich nur, dass Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt nicht noch ein paar Wochen gewartet hat. Wahrscheinlich hätten Jorge Mario Bergoglio und ich uns sonst noch getroffen. Mir fällt ja auf, dass viele Leute in Buenos Aires den Mann, der jetzt Papst ist, schon gekannt haben, als er noch kein Papst war. Klar, er ist oft Subte gefahren, und in der vollen U-Bahn kommt man sich zwangsläufig näher. Außerdem sind neun von zehn Argentiniern katholisch, da hat ein Erzbischof und Kardinal natürlich eine ganz andere Fangemeinde als anderswo.

Obelisk

Papstfanhaus

Ich treffe kaum jemanden, der Franziskus fern steht. Mein Hausmeister fällt mir ein. Dem geht das ganze Gerede vom Papa Argentino auf die Nerven, aber der ist auch nicht katholisch. Außerdem ist er, was die Militärdiktatur betrifft, päpstlicher als der Papst. Die anderen? Schwärmen von seinen Predigten, seinem Händedruck, seiner Bescheidenheit, seinem Einsatz für die Armen, seiner unverkrampften Art. »Er war so warmherzig und hat sich immer nach den Kindern erkundigt«, hat die Frau aus meinem Stammbuchladen gesagt. Oder war es mein Zahnarzt? Wahrscheinlich beide.

Ich glaube trotzdem, dass sich der ein oder andere für ein bisschen Aufmerksamkeit gerade ziemlich an den Papst ranschmeißt. Man sollte niemals jede Geschichte glauben, die einem erzählt wird.

Pablo hat mich gestern gefragt, wann ich endlich eine Papstkolumne schreiben würde.

»Pablo, tut mir leid, aber mir fällt überhaupt nichts Witziges ein.«

»Das hält dich doch sonst auch nicht auf«, sagte er. »Also, wenn du Informationen brauchst, kein Problem. Ich kenne den Heiligen Vater ganz gut.«

♦♦♦♦♦

Die Zeichnung Franziskus‘ stammt natürlich von Danü, der übrigens jetzt auch in Buenos Aires lebt. Den eingefärbten Obelisken habe ich Herrn T. geklaut, der auch über den Papst nachgedacht hat.

Konsequenzen eines Weltereignisverpassers

von CHRISTOPH WESEMANN

Da wird ein Argentinier zum Papst gewählt, sogar ein Porteño1 wie ich, und ich habe vier Kinder in der Wohnung, komme weder weg noch an den Computer. Waren es nicht gestern noch drei Kinder? Ach ja, der beste Freund des Sohnes übernachtet hier. Es wird Pumuckl auf Spanisch geguckt. Und die Frau? Arbeitet wg. Papst aus Argentinien. Aja, klar.

Es ist zum Verzweifeln: Schon bei der großen Regenflut vor ein paar Monaten hatte ich das Haus nicht verlassen können.

Ich bitte Sie deshalb, zu den unten angegeben Terminen das Argentinische Tagebuch unbedingt zu meiden; als Weltereignisverpasser werde ich keinerlei Informationen anbieten können. Planen Sie rechtzeitig die Nachrichtenbeschaffung aus anderen Quellen.

  • 10. September 2013: Auf der 125. Session in Buenos Aires wird der Deutsche Dr. Thomas Bach zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gewählt.
  • 8. Januar 2014: Lionel Messi zum fünften Mal in Folge Weltfußballer
  • 2. März 2014: Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner eröffnet die diesjährige Parlamentssaison mit einer fünfstündigen Rede. Neuer Rekord!
  • 13. Juli 2014 (21 Uhr, MESZ): Anpfiff des Fußball-WM-Finals Argentinien gegen Spanien in Rio de Janeiro
  • 13. Juli 2014 (22.45 Uhr, MESZ): Abpfiff. Argentinien – Spanien 8:0 (Tore: Messi)
  • 14. Juli 2014: Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner beschließt per Dekret, dass zukünftig jeder neugeborene Junge in Argentinien mit Vornamen Lionel heißt (Mädchen: Lionela).
  • 9. Januar 2015: Lionel Messi schon wieder Weltfußballer
  • 3. März 2015: Cristina Fernández de Kirchner eröffnet die Parlamentssaison mit einer dreitägigen Rede.
  • 23. Oktober 2015: Argentinier wählen eine/einen Kirchner zum Staatsoberhaupt.
  • 11. Januar 2016, 8. Januar 2017, 10. Januar 2018: Messi.
  • 11. Januar 2018: Rücktritt von Messi (Grund: Langeweile)
  • 10. Januar 2019: Cristiano Ronaldo zum Weltfußballer gekürt
  1. Bürger der argentinischen Hauptstadt []

Pablo und meine einlaufende Wäsche

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich bin quasi allein nach Buenos Aires umgezogen. Natürlich, ich hatte drei Kinder und eine Frau dabei sowie elf Koffer aus Berlin. Elf Koffer klingt viel, aber wie gesagt: drei Kinder, eine Frau. Betten, Tische, Stühle, die Mikrowelle, den Fernseher, Schränke, Töpfe, Pfannen, Teller, Tassen, fast einen ganzen Haushalt, habe ich zurückgelassen. Auch die Waschmaschine. Ja, die Waschmaschine.

Ich wollte hier nicht unsere Berliner Wohnung nachbauen. Zum einen bin ich sowieso ausgeschlossen von allerlei Vergnügen in Buenos Aires, weil ich zum Beispiel als dreifacher Vater nicht nachts durch die Clubs tanzen will – wahrscheinlich würde ich in meinem Alter sowieso an den Türstehern scheitern. Wenn ich schon nicht argentinisch feiere, will ich wenigstens argentinisch wohnen. Zum anderen brauche ich die Garantie, dass ich meine Lieben schnell in Sicherheit bringen kann, wenn es sein muss. Ich will nicht erst einen Spediteur suchen, der das von Uroma geerbte Kaffeeservice nach Deutschland verschifft.

Und Argentinien produziert ja im Augenblick nicht nur gute Nachrichten, ich mache mir durchaus Sorgen. Vielleicht ist’s nicht so dramatisch, wie ich denke, bestimmt übertreibe ich. Aber was soll ich denn davon halten, dass viele Geschäfte für eine Ratenzahlung keine Zinsen verlangen? Ich bin kein Unternehmer, ich kriege ja nicht einmal die Familienkasse anvertraut. Aber ein Produkt zu verkaufen, indem man dem Käufer mitten in einer  Inflation von mehr als 20 Prozent über Monate kostenlos das Geld dafür leiht – auf so einen Gedanken käme nicht mal ich. Klingt das nach guter Konjunktur oder einem gesunden Verhältnis von Angebot und Nachfrage?

Boca immer Junior: schrumpfende Wäsche (Symbolfoto)

Und es kommt vor, und zwar nicht selten, dass die Tankstellen kein Benzin haben. Gewiss, auch das ist kein Grund, Argentinien gleich krankzuschreiben, einerseits. Spätestens nach der fünften Tankstelle ohne kommt ja eine sechste mit Benzin. Anderseits habe ich leere Zapfsäulen zuletzt als kleiner Beifahrer meines Vaters Ende der achtziger Jahre erlebt – in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Staatsführung übrigens ließ von treuen Journalisten – andere gab es nicht – noch Erfolge verkünden, als längst Millionen jeden Glauben daran verloren hatten und Tausende in die Bundesrepublik abgehauen waren. So behauptete die SED-Parteizeitung Neues Deutschland im Sommer 1989, das rapide Wirtschaftswachstum der DDR zeige sich am »steigenden Ausstattungsgrad mit hochwertigen industriellen Konsumgütern wie Waschmaschinen, Kühlschränken, Fernsehgeräten, Pkw usw.«. Ja, auch Waschmaschinen.

Ich vermisse übrigens nichts, was ich in Berlin zurückgelassen habe – also, fast nichts, nur die Waschmaschine, und auch die erst, seit mich mein Nachbar Pablo an sie erinnert hat. Pablo hält mich für den größten boludo de la Capital Federal, nein, eigentlich von Gran Buenos Aires. Wenn wir uns treffen, mal zufällig, mal absichtlich, reden wir über dies und das, über Carlos Gardel und Diego Torres, Messi und Maradona, über die Krise von 2001/02 und den Dólar paralelo1, über die wunderbaren Menschen in diesem Land, an die wir glauben, und die Regierung.

Wir sind selten einer Meinung, und wenn es um mich geht, um mein Leben, dann erst recht nicht. Ich mag ihn trotzdem, weil er sich Mühe gibt, mir Argentinien zu erklären, obwohl ich als Zugewanderter nicht alles begreife. Neulich fragte Pablo: »Du hast in Deutschland eine Waschmaschine und bringst sie nicht mit? Du kaufst lieber eine in Argentinien? Eine argentinische Waschmaschine? Du bist wirklich der größte boludo …«

Seitdem schrumpfen die neu gekauften Klamotten der Kinder mit jeder Wäsche, und ich weiß nicht, warum. Liegt das an Industria Argentina, also an der Waschmaschine oder dem Pulver, dem Wasser oder sogar dem Kleiderstoff selbst? Bin ich, der Trottel made in Germany, bloß zu blöd, das richtige Programm zu wählen? Oder ist alles am Ende Pablos Schuld? Vielleicht bilde ich mir das Schrumpfen der Hemdchen und Söckchen ein – weil mein argentinischer Nachbar meine argentinische Waschmaschine nicht leiden kann.

  1. Ein Dollar kostet nach offiziellem Kurs 5 Pesos, ist aber nicht erhältlich; der Schwarzmarktkurs liegt bei 7,80 Pesos, steigend. Aktueller Kurs des so genannten blue dólar. []

Fast ein halber Castro

von CHRISTOPH WESEMANN

Meine Präsidentin hat übrigens gestern in Buenos Aires die diesjährige Parlamentssaison eröffnet. Cristina Kirchner sprach im Nationalkongress – und zwar nicht eine, nicht zwei und nicht drei Stunden, sondern: drei Stunden und 45 Minuten. Das sind auf dem nach oben offenen Fidelmeter zur Messung der Redelänge fast 0,5 Castro. Der Auftritt wurde natürlich, wie so oft, von allen wichtigen und unwichtigen Fernseh- und Radiosendern live übertragen.

Schauen Sie ruhig rein in den argentinischen Staatszirkus: Cristinas Fans vor dem Kongress, Gesang und Papierschnipsel im Kongress, bis es es aussieht wie bei Hempels unterm Sofa, dann Anfahrt der Limousine. Und schon nach 69 Minuten und 46 Sekunden beginnt die Rede der Präsidentin.

 

Und trotzdem, liebes Spiegel online, das muss nicht sein:

Im Kanzleramt gilt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan als schwieriger Zeitgenosse. Zwar nervt er nicht wie Argentiniens aufgekratzte Präsidentin Cristina Kirchner, die ihre Gesprächspartner gerne in Grund und Boden redet. Aber er ist anstrengend.

(Zitat gefunden von Herrn T.; Fotos: Casa Rosada)

Zwischen Hühnern und Pinguinen

von CHRISTOPH WESEMANN

Cristina Kirchner regiert Argentinien seit mehr als fünf Jahren. Erst im Oktober 2011 wurde sie als Präsidentin wiedergewählt, und 2015 will sie vielleicht abermals antreten, obwohl dafür die Verfassung geändert werden muss. Sollte das nicht klappen, könnte ihre Schwägerin Alicia Kirchner einspringen, derzeit Sozialministerin, und dann 2019 Sohn Máximo übernehmen. Er soll der wichtigste Berater seiner Mutter sein. Bis 2007 hieß das Staatsoberhaupt übrigens Néstor Kirchner, der inzwischen verstorbene Gatte.

Pinguin-TV

Cristina versorgt ihr Volk mit Fleisch und Fußball, also nicht privat, sondern ganz staatlich über die beiden Regierungsprogramme Carne para Todos und Fútbol para Todos. Fleisch für alle sorgt dafür, dass die Preise stabil bleiben. Fußball für alle bringt die Ligaspiele live ins frei empfangbare Fernsehen. Dafür flimmert alle paar Minuten eine Werbebande der Präsidentin der Nation auf dem Bildschirm. Einerseits kosten all diese Wohltaten ein bisschen–allein 110 Millionen Euro die Ligaspiele im TV. Andererseits sind Fleisch und Fußball Grundnahrungsmittel. Wobei für Argentinier Fleisch nur vom Rind kommt. Huhn ist kein Fleisch, sondern, nun ja, Huhn. Ohnehin werden Hühner nicht ernst genommen. Spieler und Fans des vornehmen Hauptstadtklubs River Plate veralbert man als Gallinas, also Hühnchen im Sinne von Feiglingen. Neulich, bei einem Auswärtsspiel, liefen zwei Hühner über den Platz – die gegnerischen Fans hatten ihnen sogar River-Trikots angezogen. Der Anpfiff verzögerte sich um 15 Minuten.

Die Kirchners und ihre Freunde nennt man übrigens Pinguine, weil sie aus Santa Cruz stammen, der Pinguinprovinz im Süden. Dort war Héctor Marcelino García einst Vize-Gouverneur, und eine seiner vier Töchter könnte es noch weiter bringen. María Rocío ist Zahnärztin – und Dauerfreundin des Präsidentensohnes Máximo. Und dass die Frau vom Mann die Regierungsgeschäfte übernimmt, hat bei Kirchners doch Tradition.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

Cristinas Sonnenbrille und Merkels Handtasche

von CHRISTOPH WESEMANN

Es ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, im Land des weltbesten Fußballers zu leben. Mein sechseinhalbjähriger Sohn zum Beispiel kommt obenrum mit zwei Kleidungsstücken aus: Er trägt tagelang Leo Messis Nationaltrikot. Wenn das in die Wäsche muss, nimmt er Messis Barcelona-Trikot. Und wenn das schmutzig ist, dann – genau.

Es ist ein nicht zu unterschätzender Nachteil, in der Stadt zweier weltbekannter und tief verfeindeter Fußballvereine zu leben. Als wir vor einem halben Jahr von Berlin nach Buenos Aires gezogen sind, mussten mein Sohn und ich entscheiden: River oder Boca? Der Nobelklub aus dem Norden oder der Arbeiterklub aus dem Süden? Mein Sohn hat Boca gewählt, obwohl sein Vater wirklich kein Arbeiter ist. Ich weiß gar nicht mehr genau, was für die Bosteros sprach. Gegen die Gallinas sprach jedenfalls das Trikot mit dem roten Diagonalstreifen.

Seine Schulfreunde sind, so weit ich das überblicke, River-Fans – und deren Väter und Großväter natürlich auch. Er hält sich aber bislang tapfer. Nein, er hält dagegen. Ich bin da viel opportunistischer. Sobald ich mit einem River-Fan in Streit gerate und erkenne, dass ich mangels Sprache untergehen werde, bringe ich die argentinische Präsidentin ins Spiel. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen zwei Kontrahenten ist im Augenblick Cristina Fernández de Kirchner.

Für jemanden, der aus Deutschland kommt, ist diese Frau ein Rätsel. Uns Deutschen wäre ihre Art nicht zuzumuten. Zu laut. Zu giftig. Zu grell. Vielleicht will sie manchmal nur Macht demonstrieren, aber der Eindruck, der entsteht, ist eben auch: Die macht, was sie will. Und ein Staatsoberhaupt sollte das gerade nicht: tun, was es will.

Cristina mit Sonnenbrille

Als die Präsidentin neulich Venezuelas erkrankten Staatschef Hugo Chávez in Havanna besucht hat, behielt sie auch in geschlossenen Räumen ihre Sonnenbrille auf. Ich habe zweimal hingeschaut. Cristina, eine Sonnenbrille, keine Sonne weit und breit. In Deutschland würden Politiker, die so etwas tun, für arrogant, verrückt oder betrunken, wahrscheinlich aber für alles auf einmal, gehalten. Das Extravaganteste, das Journalisten an Angela Merkel in mehr als sieben Jahren als Bundeskanzlerin entdeckt haben, ist eine orangefarbene Handtasche, und selbst die kommt nur sehr dosiert zum Einsatz.

Aber vielleicht lerne ich auch, mich an diese extravagante Präsidentin zu gewöhnen, so wie ich ja vieles noch lerne. Manches habe ich auch schon gelernt: dass man Heiligabend in Buenos Aires ohne Strom feiern kann oder dass die Jungs, mit denen ich mittwochs im Parque Norte Fußball spiele, unbedingt mit besos zu begrüßen sind. Bei anderen Dingen hilft es, drei Kinder zu haben, die das Castellano nebenbei erlernen. Wenn ich mit ihnen in der Hauptstadt im Auto unterwegs bin und ein Schimpfwort brauche, weil ich irgendeinen Porteño zurück beleidigen will, wird mir von der Rückbank souffliert. Man kann ja nicht immer boludo rufen.

(Diese Kolumne ist erstmalig im Argentinischen Tageblatt erschienen.)

Wo der Urin verkauft wird: Unterwegs im Elendsviertel von Monte Grande

von CHRISTOPH WESEMANN

Am Ende, nach vier Stunden in Monte Grande, bleibt ein Satz, der vieles erklärt. Der erklärt, warum das Elend nicht weicht, sondern wächst, Jahr für Jahr um zweihundert Meter, obwohl es doch immer wieder von einigen verlassen wird. Der erklärt, warum Carlito und seine Freunde in die Kapelle Medalla Milagrosa de Monte Grande kommen, wo es eine Bibliothek gibt, mit Schulbüchern sogar, Fußbälle, eine Sporthalle, eine Spielzeugkiste und heute Schokoladenkuchen. Der erklärt, warum in Buenos Aires an jeder dritten Ecke ein Polizist steht – und man hier in vier Stunden nicht einen sieht.

»Der Staat existiert nicht.«

Den Satz, der vieles erklärt, sagt ein zwölf Jahre altes Mädchen.

Monte Grande 9

Monte Grande 5

Das Elendsviertel von Monte Grande ist eines, wie es viele gibt in Argentinien. Es gibt größere Villas Miserias in Gran Buenos Aires, der Hauptstadt mit ihrem Speckgürtel, in Gran Rosario (Provinz Santa Fe) und anderswo. Vielleicht leben hier, eine halbe Stunde entfernt vom Zentrum der Metropole, ein paar Tausend. Warum sollten sie gezählt werden? Wer sollte sie zählen? Der Staat? Hilfe wird in Argentinien vor allem in der Familie gesucht und danach bei Freunden. Doch was, wenn Familie und Freunde als Problemlöser ausfallen, weil sie selbst mehr Fragen als Antworten haben?

Es ist Ferienzeit. Carlito und seine Freunde machen in der Halle Frühsport. Sie werfen und fangen Bälle, es wird getobt und gelacht. Aber da sind auch die roten Plastikhütchen auf dem Betonboden, und da ist ein Mann mit Trillerpfeife. Hütchen und Trillerpfeife, man kennt’s von Jogi Löw, bedeuten immer auch: Unterricht in Taktik und Philosophie.

Eine Regel für Besuche im Elendsviertel lautet: niemals allein hineingehen, nie ohne eine lokale Autorität, die den Leuten signalisiert, dass der Fremde bitte nicht angefasst werden darf. Rein kommt man immer…

Monte Grande 2

Monte Grande 1

Nicolás Falcone arbeitet in der Kapelle, dem einstöckigen Freizeit- und Bildungszentrum der katholischen Wohlfahrtsorganisation Cáritas. Er wird dafür sorgen, dass man auch wieder rauskommt.

Carlito laufen die Schweißperlen aus dem schwarzen Haar, als er den Raum betritt, der Büro, Bibliothek und Spielecke zugleich ist. Einer seiner Freunde liest im Biologiebuch. Auf dem Boden sitzt ein Sechsjähriger, legt Wörter aus Holzbuchstaben und baut dann Türme aus bunten Plastiksteinchen. Zum Warmwerden ein bisschen Fußball verbal. Carlito, wer ist dein Lieblingsspieler? Man kennt die Antwort schon: Natürlich, Leo Messi ist auch in Monte Grande ein Idol. Doch Carlito wählt Carlos Tévez, den Apachen. Der ist einer von ihnen: Kindheit im Schatten der Hochhäuser von Ejército de Los Andes im Großraum Buenos Aires, die Haut vernarbt von einem Unfall mit kochendem Wasser. Heute: Millionär. Und die Deutschen? Die zwei Spieler, die der 13-Jährige schätzt, sind wie überall in Argentinien Helden ohne Umlaut: Ozil und Muller.

Monte Grande

Monte Grande 6

Aufbruch. Vor der Schule Nummer 13 warten Kinder aufs Mittagessen. Noch ist das Gitter vor. Es geht vorbei an den typischen Villahütten, die über den Rohbau nicht hinausgekommen sind – von Weitem schon leuchten die unverputzten roten Steine. Es liegt Müll herum, aber es scheint eine gewisse Ordnung zu geben, und man versucht, gegen alle Unbill seine Würde zu verteidigen. Draußen wird gegraben und drinnen gewerkelt. Die vom Leben zerrupften Lumpengestalten, die durch Buenos Aires streuen – hier sind sie nicht. Wer an der Bushaltestelle steht, um in die Stadt Lomas de Zamora zu fahren, trägt, was die Herkunft versteckt. Keiner wäre draußen als Villa-Bewohner zu erkennen.

Ein paar Autos und viele Hunde sind unterwegs. Es gibt kleine Kioske mit Klingel an der Fensterscheibe. An der Straße, vor den Häusern, stehen Kanister. Urin. Literweise. Wird von Pharmaunternehmen fürs Labor gekauft. Wofür genau? Achselzucken.

Monte Grande 7

Reif wirken sie, Carlito und seine Freunde, sogar ein bisschen stolz. Niemand beklagt sein Leben. Zweieinhalb Stunden zeigen sie ihr zu Hause, ohne einmal zu murren, was vielleicht auch daran liegt, dass dieser Spaziergang heute aufregend ist. Fremde, Ausländer zumal, kommen sonst nicht hierher – und wenn doch, dann: um zu bleiben. Dieses Stück von Monte Grande ist Südamerika in Miniaturformat: Paraguayer und Peruaner, Bolivianer und Argentinier leben zusammen.

Armut wird in Argentinien über Generationen vererbt. Der Aufstieg ist schwierig – auch, weil die Unterschicht von einem stetigen Wirtschaftswachstum wie im vergangenen Jahrzehnt nach dem Fast-Bankrott von 2001/02 kaum etwas abkriegt. Im Elendsviertel von Monte Grande ist eine Familie mit vier, fünf Kindern eher Normalfall als Ausnahme – gewiss auch, weil der Nachwuchs mitunter die einzige Einnahmequelle ist. Der Staat macht nicht viel, aber Kindergeld zahlt er. Für jedes Kind gibt es umgerechnet 55 Euro. Spielzeug hat es trotzdem selten.

Manchmal arbeiten die Männer, als Fahrer, auf dem Bau oder als Cartonero, der Pappe und anderen Müll von der Straße sammelt und verkauft. Doch viele Väter haben sich, wenn sie nicht gestorben sind, irgendwann aus dem Staub gemacht, was durchaus wörtlich verstanden werden darf. Der Wind spielt mit dem Sand, und weil Straßen kaum asphaltiert oder gepflastert sind, gibt es viel davon. Zurück bleiben Mütter, alleinerziehend, fünf Kinder. Dass die Löhne steigen, bringt ihnen nichts.

Monte Grande 8

Im blauen Haus wohnt einer von Carlitos Freunden. Es riecht in diesem Teil der Straße ein bisschen nach verstopfter Kanalisation, wobei eine Kanalisation ja nur verstopfen kann, wenn es sie gibt. Die Oma hat gegenüber ihr Häuschen, an das der große Bruder für seine junge Familie angebaut hat. Er hat Arbeit. Deshalb sticht sein Anbau auch heraus und lässt Omas Hütte noch ärmlicher aussehen. »Aaabueeelaaaa!«, ruft eines der Mädchen. Oma öffnet das Tor, freut sich über den Besuch, sie verschenkt jedenfalls ein Lächeln. Die Armut hat sich bis in den Mund geschlichen. Es fehlen Zähne, viele Zähne.

An der Stubenwand hängen Familienfotos und eine Urkunde der Peronistischen Partei, die in Wahrheit eine Bewegung von links bis rechts ist, Argentinien seit Ewigkeiten beherrscht und selbst eine Orthodoxe wie die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner erträgt. Die Urkunde bescheinigt dem Opa, ein militanter Peronist, nun ja, gewesen zu sein. Er lebt nicht mehr. Militanz ist für Peronisten eine Art Großes Verdienstkreuz, die Anerkennung für Treue und – mitunter körperliche – Hingabe. Politik wurde und wird in Argentinien immer auch auf der Straße gemacht.

Monte Grande 3

Die Diözese Lomas de Zamora der Cáritas hat einen Plan de Inclusión Educativa entwickelt. Bildung solle armen Schichten den sozialen Aufstieg und Teilhabe ermöglichen, erzählt Nicolás Falcone. »Davon hängt alles ab. Ohne Bildung keine Zukunft.« Der Plan umfasst allerlei: wirtschaftliche Hilfe, eine gemeinsame Mittagpause mit gesundem Essen, das Angebot, die Räume zum Lernen, Spielen und Reden zu nutzen, Nachhilfe, Hochschulstipendien. Im vergangenen Jahr habe man die Erwachsenen im Viertel eingeladen, Schreiben und Lesen zu lernen. »Wir waren überrascht, wie viele nicht mehr als ein paar Buchstaben kritzeln konnten«, sagt Falcone. »Sie hatten es nie gelernt. Vielleicht hatten sie gar keine Chance.«

Argentinien ist zwar stolz auf seine Alphabetisierungsrate von mehr als 97 Prozent, die höchste des Kontinents, und auf seine kostenlosen Schulen und Universitäten. Nur: Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder auf private Schulen und Hochschulen. Und die geringe Zahl von Analphabeten verdeckt, dass viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und deshalb auch keine Arbeit finden, die sie für zumutbar halten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent – in Deutschland sind es acht. Vielen bleibt die Straße, die schnelles Geld verspricht und nicht nach einem Zeugnis fragt. Wie in allen Villas Miserias, wird auch in Monte Grande, wenn das Licht ausgeht, gedealt. Und es gibt die Süchtigen, die nach einem halben Jahr auf der Armutsdroge Paco nur noch Zombies sind.

Monte Grande 4

Doch selbst wenn zwei von fünf Kindern in jeder Großfamilie einen Abschluss machen und das Elend verlassen, was ein großer Erfolg wäre – es blieben immer noch drei, die es nicht schaffen. Nicolás Falcone nickt. Er weiß das alles, er ist kein Träumer. Er sieht auch, dass jedes Jahr Hütten hinzukommen – zweihundert Meter neue Armut. »Manche Kinder haben fünf Klassenlehrer in einem Schuljahr«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Die Lehrer bei uns kommen und gehen.«

Trotzdem soll das Haus hinter der Kapelle Medalla Milagrosa de Monte Grande einen zweiten Stock bekommen. Die Grundmauern aus leuchtend roten Steinen stehen ja schon. Im Augenblick fehlt: Geld fürs Dach.

Carlito verabschiedet sich genauso, wie er den Fremden vor vier Stunden begrüßt hat, wie man’s macht in Argentinien, egal, wo man zu Hause ist: mit einem Kuss auf die Wange.

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Cáritas Lomas Zamora

Plan de Inclusión Educativa

Facebook: Emaus Lomas de Zamora

 

Zwischen Topfschlagen und Toren von Klinsmann

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe für Kiek an!, die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Journalisten-Verbandes in Mecklenburg-Vorpommern, dem ich angehöre, einen Text gedichtet. Es ist ein sehr langer Text, und deshalb peppe ich ihn mit einem Gewinnspiel auf. Wer errät meinen Scherz, der mich am meisten zum Lachen bringt? Siegerpokal: Mate samt bombilla. Die Lösung bitte in den Kommentarbereich.

Nachtrag: Wacho_Chorro hat erfolgreich gelöst: Argentinier brauchen den Superlativ, wenn sie über sich sprechen: der leidenschaftlichste Fußball, die breiteste Straße, das beste Fleisch, die schönsten Frauen. Nicht alles stimmt, das brasilianische Fleisch ist ja auch nicht schlecht. Konnte wahrscheinlich nur ein Mann drauf kommen.

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Zwischen Topfschlagen und Toren von Klinsmann
Christoph Wesemann, seit fünf Monaten in Buenos Aires, über eine medial omnipräsente Präsidentin und ein Land, das seine besten Jahre hinter sich hat

Argentinien wird von einer Quasselstrippe regiert. Wenn Cristina Fernández de Kirchner den Drang verspürt, etwas sagen zu müssen, schreckt sie auch vor Mord nicht zurück. Die Präsidentin lässt sich unangekündigt auf die Radio- und Fernsehsender schalten, unterbricht das Programm und tötet die Quote. Die Auftritte sind wohl inszeniert, aber so wenig unterhaltsam, dass umgeschaltet wird. Man weiß, was kommt: CFK trägt schwarz, wie sie es seit dem Tod ihres Mannes Néstor vor zwei Jahren immer tut, tupft eine Träne weg und erzählt über ihre Politik nur Gutes.

Eigentlich braucht es einen Grund, eine Krise oder Katastrophe, für die Zwangszusammenschaltung der Kanäle. Aber die Präsidentin hat seit Januar 16 Stunden geplaudert – und in drei Jahren mehr als fünfzigmal. So katastrophal ist nicht mal Argentinien. Ihr Vorgänger, ein gewisser Néstor Kirchner, hielt in vier Jahren nur zwei Reden.

Die Präsidentin – in Zeitungen oft nur Cristina genannt – ist wortgewaltig. Und manchmal sind die Worte stärker als sie. In Jahresansprache Nummer 17 sagte sie, ihre Landsleute sollten sich nicht nur vor Gott fürchten, sondern ein bisschen auch vor ihr. Als sie Ende September in den USA weilte, bestritt sie, dass die heimische Inflation bei 25 Prozent liege, wie inoffizielle Studien behaupten. Bei 25 Prozent würde »das Land in die Luft fliegen«. Dann knöpfte sie sich die bösen Jungs vor. Bei jedem Termin rede sie mit der Presse.

Aber ein argentinischer Journalist fragt mich und fängt gleich an zu schreien. Wenn ihm die Antwort nicht gefällt, schreit er, ärgert sich und tritt gegen die Tür.

Es sprach La Reina, Königin Cristina I.

Die Redakteure von Clarín, der auflagenstärksten Zeitung des Landes, konnten ihr Glück kaum fassen und feierten vier Seiten lang. Eine Rubrik hieß »Cristinas Sprüche und die Fakten«. Ein Fakt: Im Pressesaal der Casa Rosada, des rosafarbenen Präsidentenpalastes, war Kirchner zuletzt am 15. August 2011. Die Feindschaft zwischen dem Medienkonzern Clarín und den Kirchneristen, wie Parteifreunde der Präsidentin genannt werden, steuert auf die Entscheidungsschlacht 7D zu: Bis zum 7. Dezember muss sich Clárin von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern trennen. So will es ein vor drei Jahren erlassenes Gesetz gegen Medienmonopole. Keiner weiß, was passieren wird. Die Regierung bewirbt das Vorhaben in minutenlangen TV-Spots als Beitrag zur Meinungsvielfalt. Clarín behauptet, knapp gesagt: Der Beitrag zur Meinungsvielfalt kommt doch von uns. Und tatsächlich, viele Blätter und Sender gehören längst Kirchneristen.1

Dabei ist Argentinien – fast achtmal so groß wie Deutschland mit nur halb so vielen Einwohnern – eine Zeitungsnation. Man sitzt im Kaffeehaus, taucht die Croissants, die hier medialunas (Halbmonde) heißen, in die Espressotasse mit dem cafecito und beugt sich über La Nación, das Sportblatt Olé oder eben Clarín. Zeitungen und Zeitschriften gibt es nur am Kiosk, nicht im Supermarkt oder an der Tankstelle.

Die Auftritte der Präsidentin werden bizarrer. Während ihrer USA-Reise wollte sie ihr Gespräch mit den Studenten einer berühmten Universität auf ein höheres Niveau bringen. Heraus kam ein Satz, der mittlerweile ein Klassiker ist: »Chicos, wir sind in Harvard, das sind doch Themen für La Matanza.« La Matanza ist eine Hochschule für die Ärmeren im Speckgürtel von Buenos Aires. Zu Hause schüttelte man den Kopf. Hat sie das wirklich gesagt? Und sie wusste, dass Kameras im Saal sind? »Tiene que ser loca.« – »Die muss verrückt sein.« Und so wird getuschelt. Ist es eine eher harmlose Krankheit, vielleicht Déformation professionnelle? Hat ihr die Macht den Blick für die Wirklichkeit gestohlen? Oder ist es ernst? War Néstors Tod zu viel? Hat die Nummer 1 gar psychische Probleme?

Es wächst der Widerstand. Der Cacerolazo, das Lärmmachen der Mittelschicht mit Töpfen und Pfannen, ist wieder zu hören. Mitte September hat das Land die größten Proteste seit vier Jahren erlebt, allein in Buenos Aires versammelten sich Hunderttausend. »Se va a acabar/Se va a acabar/La dictadura de los K«, sangen sie. »Sie wird verschwinden/Die Diktatur der Kirchneristen.« Der Kabinettschef sprach von einer »Minderheit«. Die Präsidentin selbst sagte: »Ich werde nicht nervös, und die werden mich auch nicht nervös machen.«

Am 8. November, beim nächsten Topfschlagen, waren es in der Hauptstadt schon 700 000 – und vielleicht noch mal so viele im Rest des Landes. »Olele, olala, si este no es pueblo/El pueblo dónde está?«, sangen sie diesmal. »Wenn das hier nicht das Volk ist/Wo ist das Volk denn dann?« Cristina Kirchner sagte, es habe in der Woche zwei bedeutende Ereignisse gegeben: die US-Präsidentenwahl und den Parteitag der chinesischen Kommunisten.

Es ist nicht nur ihre Dauerpräsenz, die für Unmut sorgt, es ist auch ihre Politik. Die Regierung misstraut ihrem Volk und erfindet immer neue Vorschriften. Wer für eine Auslandsreise Dollar braucht, muss einen Papierberg ausfüllen und Intimstes preisgeben. Seit der Fast-Staatspleite von 2001, als die Argentinier ihr Erspartes verloren, ist das Wegtauschen des schlappen Peso Volkssport. Cristina und ihre Leute machen dem ein Ende. Dollar gibt es zum offiziellen Kurs gar nicht mehr, getauscht wird auf der Straße.

Die Schulden wachsen, auch, weil Cristinas Herz groß ist. Die Nationalheilige Evita hat einst Fahrräder, Nähmaschinen, Betten und Gebisse verschenkt oder Geldscheine aus dem Zug geworfen und so den Staatshaushalt ruiniert. Cristina verteilt Wohnungen und erhöht das Kindergeld um 25 Prozent auf umgerechnet 55 Euro. Die Mittelschicht, die viel Arbeit hat und wenige Kinder, schimpft auf die Armen, bei denen es umgekehrt sei. Und dass sich die Präsidentin mit Schurken blendend versteht, Geschäfte mit dem Iran macht und Hugo Chávez zur Wiederwahl in Venezuela beglückwünscht, ist vielen peinlich. Ist doch kein Umgang für das Volk der Dichter und Dirigenten!

Argentinier brauchen den Superlativ, wenn sie über sich sprechen: der leidenschaftlichste Fußball, die breiteste Straße, das beste Fleisch, die schönsten Frauen. Nicht alles stimmt, das brasilianische Fleisch ist ja auch nicht schlecht. Auch die besten Jahre hat man hinter sich. Die Vergangenheit war besser, als die Gegenwart ist und die Zukunft wohl sein wird. Argentinien hatte 1913 ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Deutschland und war als einer der zehn reichsten Staaten der Welt Traumziel europäischer Auswanderer. Zwischen den Weltkriegen begann der Abstieg, sechs Staatsstreiche seit 1930 inklusive. Trotzdem ist man gefühlte Erste Welt, hat die höchste Alphabetisierungsrate Südamerikas (97,2 Prozent) und schaut herab auf die Nachbarn, die sich dafür mit Witzen rächen. »Was ist das beste Geschäft deines Lebens?«, fragen sie. »Kauf einen Argentinier für das, was er tatsächlich wert ist, und verkauf ihn dann für das, was er wert zu sein glaubt.«

Die Tage in Buenos Aires sind lang – und anstrengend sind sie auch. Die 150 000 Busse reichen für die Dreizehn-Millionen-Metropole einfach nicht, und die Subte, die erste U-Bahn Südamerikas (1913), kann in ihrem Alter auch nicht mehr so. Eng ist‘s in ihr und heiß. Händler quetschen sich durch, um Socken und Taschentücher zu verkaufen. Und da sind die zerlumpten, stummen Gestalten, Kinder aus den Elendsvierteln, die einem Klebebildchen aufs Knie legen, damit man ihre Hand nicht zu berühren braucht, und ein paar Münzen verdienen. Allein in der Villa  31, der größten Armensiedlung, sollen 30 000 Menschen leben. Andere kommen nicht mal dort unter und hausen vor dem Parlament oder den Ministerien. Wenn die Präsidentin aus ihrem Palast schaut, kann sie die Schlafsäcke auf der berühmten Plaza de Mayo zählen.

Es ist 21 Uhr, wenn Männer das Wichtige erledigen: Vamos a la cancha! Auf Kunstrasen spielt man fünf gegen fünf unter Flutlicht, jeder im Trikot seines Lieblingsklubs, die Passagiere der aufsteigenden Flugzeuge als flüchtige Zeugen. Ab und zu schießt der Neuzugang aus Deutschland, den sie aus unerfindlichen Gründen Klinsmann nennen, sogar ein Tor. »Muy bien, Kliiinsmann!« Am Ende gibt jeder 25 Pesos (vier Euro) für die Platzmiete. Ja, teuer sind die Tage obendrein.

Schweigen kann Cristina Kirchner übrigens auch. Als im Oktober ein US-Hedgefonds das Marineschiff Libertad in Ghana beschlagnahmte, weil Argentinien seine Auslandsschulden nicht bezahlen will, wartete das Land auf eine Erklärung der Quasselstrippe. Doch von der gab es wochenlang: kein Wort.

  1. Die aktuelle Entwicklung steht hier. []

Gänsehaut unterm Brustfell

von CHRISTOPH WESEMANN

Ist das nun ein gutes Zeichen? Der Protest gegen die Politik der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird professioneller und organisierter – ein bisschen jedenfalls. Gewiss, es gibt noch immer keine Tribüne, auf der sich ein Gewerkschafter heiser schreien oder ein Kirchenmann predigen könnte. Wieder wehen keine Parteifahnen. Die Suche nach einem charismatischen Gegenspieler zur Amtsinhaberin ist bislang erfolglos geblieben, so wie die Opposition insgesamt nicht genug glänzt, als dass der Volkszorn sie unbedingt dabeihaben müsste. Und die Plakate, die sind nach wie vor handgemalt. Manche Tafel wird noch bekritzelt, als am Donnerstagabend der 8N-Protest längst begonnen hat. Vieles ist noch immer wie am 13. September, als das Land den größten Wutausbruch seit vier Jahren erlebte.

Aber die fliegenden Händler sind da. Sie verkaufen die argentinische Fahne, andere blauweißblaue Winkelemente und Getränke. Und irgendwo auf der Avenida 9 de Julio, der angeblich breitesten Straße der Welt, steht auch ein Grill. Es gibt Choripán, also grobe Wurst im Brot.

Eine halbe Million soll es sein, die sich um den Obelisken zum kollektiven Topfschlagen versammelt hat. Nach Angaben der Stadt, die freilich von Mauricio Macri regiert wird, einem Gegner der Präsidentin, sind 700 000 Porteños auf der Straße, um mit Kochtöpfen und Pfannen gegen Korruption, Inflation, Kriminalität und eine dritte Amtszeit Kirchners Lärm zu machen. Auch vor der Haustür der Präsidentin ist es nicht ruhig. Im noblen Stadtviertel Olivos, wo Cristina Kirchner wohnt, haben sich 30 000 Menschen versammelt. Und in den Provinzen? Auch dort ist was los, mal mehr, mal weniger. Córdoba, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, meldet 40 000 Teilnehmer, Río Grande, die größte Stadt von Feuerland, »bis 100«.

Der Hauptstadtbürgermeister Macri behauptet, es seien landesweit zwei Millionen gewesen. Diese Zahl mag übertrieben sein. Wer weiß das schon? Aber die Wut auf Cristina und ihre Leute ist längst Massenware. Die Zeitung La Nación spricht heute von einem »historischen Protest«. Clarín, die meistgelesene Zeitung des Landes, titelt: »Gigantischer Protest gegen die Regierung«. Auf 17 Seiten widmet sich das Blatt dem Thema des Tages. Und ein bisschen Poesie gibt’s auch. Clarín schwärmt von der »Nacht der kurzen Hosen«.

Oh ja, es ist warm, fast heiß am späten Donnerstag. Und viel Haut liegt bloß. Mancher aber hat es wohl nach Feierabend nicht mehr nach Hause geschafft, um sich umzuziehen. Ärzte und Krankenschwestern sind noch in Dienstkleidung unterwegs.

Apropos viel Haut: Vor der Fußball-WM 2010 verkündete der pummelige Nationaltrainer Diego Maradona, er werde nackt den Obelisken umrunden, wenn er mit seiner Mannschaft den Titel hole. Die Welt sollte noch heute dankbar sein, dass es anders gekommen ist und ihr dieser Anblick erspart blieb. Aber der 1936 errichtete Obelisk, der die wichtigsten Daten der Stadt auf seinen Seiten trägt, ist ein mythischer Ort. Die Triumphe der Nationalmannschaft wurden hier gefeiert. Und Evita Perón ließ sich von Millionen bejubeln, als sie 1951 Vizepräsidentin werden sollte und vielleicht auch wollte, aber nicht durfte. Die Massen feierten die Nationalheilige am 67 Meter hohen Wahrzeichen – und Juan Perón, der Präsident, war nur ein Statist und schaute deshalb finster. Er hatte doch Evita erschaffen! Er hatte doch diese unbedeutende Schauspielerin aus Los Toldos geheiratet und zur Primera Dama gemacht.

Ich habe in den vergangenen Wochen zwei Romane des großen argentinischen Erzählers Tomás Eloy Martínez gelesen, erst seinen Welterfolg »Santa Evita«, dann »Der General findet keine Ruhe«. Martínez berichtet wieder und wieder von großen Aufmärschen. Seitdem frage ich mich, ob Argentinier leichter zu mobilisieren sind als etwa Europäer, Deutsche sowieso. Natürlich steht hier auch mehr auf dem Spiel, ist der eigene Wohlstand gefährdeter, sind die Kontinuitäten schwächer. Argentinien hat in 53 Jahren – zwischen 1930 und 1983 – sechs Staatsstreiche erlebt, auch das prägt und macht aufmerksamer, wenn sich jemand mal wieder am Land vergreift und es wie einen Familienbetrieb zu führen versucht.

Damit die Präsidentin es auch versteht, erklingt am Donnerstag wieder und wieder die argentinische Version vom 89er »Wir sind das Volk!« – natürlich nicht gerufen, sondern gesungen: »Oleeleeee, olala! Si este no es el pueblo/El pueblo dónde está?« – »Wenn das hier nicht das Volk ist, wo ist das Volk denn dann?«

 

Und dann die Nationalhymne, vorgetragen vom Großen Gemischten Chor Buenos Aires: Männer haben Tränen in den Augen und bekommen eine Gänsehaut. Die besten Männer der Welt! Argentinische Männer! Männer mit so viel Brustfell, dass es sich vom Hemd nicht einsperren lässt und immer auf einen offenen Knopf besteht.

Wie ist das nun mit dem professioneller gewordenen Protest? Gemach. Noch um halb neun – 30 Minuten nach Beginn des Protestes – haben sich Autos über die Avenida Corrientes in Richtung Obelisk gequält. Sie fuhren mitten durch den Aufmarsch, obwohl der schon seit Wochen angekündigt war. Erst dann sperrten zwei Polizisten die Zufahrt. Rund um den Obelisken war indes gar keine Polizei zu sehen. Es blieb, wie der Argentinier sagt, »bien tranquilo«, angenehm ruhig. Besondere Vorkommnisse: keine.

(Ich habe gerade ein paar Probleme mit dem Computer und bastele deshalb nach und nach Bilder und ein Gesangsstück rein. Dauert ein bisschen.)

 

Eine neue Runde Topfschlagen

von CHRISTOPH WESEMANN

Wichtiger Tag heute: Wir haben 8N, und das Kürzel meint mehr als den 8. November, es steht auch für einen weiteren Aufstand der Mittelschicht. Im ganzen Land wird es am Abend Proteste gegen die Regierung geben. Man knüpft an die Cacerolazos vom 13. September an, als allein in Buenos Aires Hunderttausend auf der Straße waren, um mit Kochtöpfen und Pfannen Lärm zu machen. Diesmal könnten es noch mehr werden, zumal optimales Demowetter ist: Der argentinische Frühling spielt schon mal Sommer und hat die Heizung aufgedreht, vorerst noch auf mittlere Stufe, also 33 Grad, was hier als humane Temperatur empfunden wird. Die Hitze geht übrigens auch nicht schlafen.

Protestiert wird gegen allerlei, es hat sich offenbar ein bisschen was angesammelt: Korruption, Kriminalität, Inflation, eine mögliche Verfassungsreform, die es Präsidentin Cristina Kirchner erlauben würde, 2015 ein drittes Mal zu kandidieren, und die Wirtschaftspolitik insgesamt, die zunehmend auf Kontrolle und Importbeschränkungen setzt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht Argentinien schon »auf dem Weg in die Planwirtschaft«.

Und dann ist da noch der 7. Dezember, 7D genannt. Bis zu diesem Tag hat die Clarín-Gruppe noch Zeit, sich von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern zu trennen. So will es ein vor drei Jahren erlassenes Mediengesetz, das Meinungsmonopole verhindern soll. Nun ist Clarín einerseits der finanzstärkste Medienkonzern des Landes und hat anderseits auch die lautesten Journalisten, wenn es darum geht, die Regierung zu kritisieren.

Es ist kurios. Clarín will, was die Regierung nicht will: alles behalten. Und die Regierung will, was Clarín nicht will: viel wegnehmen. Und beide behaupten, dasselbe zu wollen: mehr Meinungsfreiheit und mehr Demokratie. Das ist Argentinien.

Protestiert wird übrigens auch vor den argentinischen Botschaften und Konsulaten – wie hier in Sydney.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)