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Der Jesuit, die Ana & die Konda, ihr Gott und die Pauschalreise – Erste Lieferung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Ich habe das Werk von M’boi gesehen. M’boi, das ist nicht etwa der hip-hoppende neue Lover von Heidi Klum. M’boi ist Gott. Also, einer von vielen. Zuständigkeitsgebiet: Schlangen. Und Eifersucht. Sagen die Guaraní, die im Dschungel zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay leben.

Guaraní_Wasser_Siedlungsgebiet

M’boi, der alte Schlangengott, kann übel fies werden, wenn es um Frauen geht: Die Guaraní-Prinzessin, auf die er mal scharf war, stand eher auf einen tapferen Krieger. Dummerweise sind die beiden … hach!, »Liebenden«, würde Fontane  auf’s holzige Schreibpapier kratzen … vor dem Gott in einem Kanu auf dem Fluss Iguazú abgehauen.

Da hat M’boi aber zugeschlagen. Mit seinem Mörder-Schlangen-Schwanz. Mitten ins Flussbett. SLAM!CRACK!CRASHBOOMBANG! TUTTIFRUTTI! − und die Wasserfälle von Iguazú waren da.

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Dafür waren die Prinzessin und ihr Krieger weg: Er in einen Baum verwandelt, der auf ewig zusehen muss, wie das Wasser über den Stein fließt, in den M’boi die Prinzessin transformiert hatte. Cool, oder?: Er: ein Baum. Sie: ein Stein, von schaumbrodelndem Wasser überspült. Baum. Stein. Wasser. Ü!ber!spült! Noch Fragen, Freud? Und jetzt haben sie da diese Wasserfälle, die als Naturweltwunder gelten und jährlich von Millionen Menschen angestarrt werden, die viel Bana-na-na in der Gegend lassen.

Ich bin jetzt einer von denen.

Anderer Männer Gattinnen treffen sich nachmittags mit ihren Freundinnen zu Tee & Torte in den Cafés des vornehmen Hauptstadtviertels Belgrano. Und blicken auf ihr Leben zurück.

Meine Gattin trifft sich nachmittags mit ihrer Freundin M. zu Tee & Torte in den Cafés des vornehmen Hauptstadtviertels Belgrano. Und macht Pläne.

So bin ich in diesen Bus gekommen.

Denn M. hatte meiner Gattin erzählt: Der fährt toootaaal günstig nach Iguazú. Dauert nur 18 Stunden. 1500 Kilometer. Alles organisiert. Pauschalreise. Alle Naturwunder inbegriffen. Unterkunft auch. Ab!so!lu!tes! A!ben!teuer!. Spo!ttend!billig! Sagte M., und nippte an ihrem Tee. Bu!che! ich! Sagte meine Gattin. Und nippte an meiner Kreditkarte.

Im Reisebus. Das zweigeschossige Monster, das wir im Busbahnhof Retiro besteigen, flößt sofort Vertrauen ein: Wie eine überdimensionale, dreiachsige Ameise, gesteuert vom kleinen & kettenrauchenden Carlitos und einem, der aussieht wie Hulk Hogan, aber »Rubén« genannt werden möchte. Mit den Jungs könnten wir in der langen Nacht der argentinischen (Hat eben jemand »Autobahn« gedacht?? Haha! Naivling! Oder Regierungsanhänger?) Landstraße bestehen. Gegen die dahinstürmenden 40-Tonnen-Trucks und die Rinder, die auf der Piste gerne mal ein Päuschen machen, hat ein normales Auto eher keine Chance.

Der Bus mäandert durch Buenos Aires. Wir laden ein:

  • in Tres de Febrero die rüstige Marta, wachshäutig, blond und hochtoupiert, mit einem Konzertabo für’s Colón
  • in Ciudadela zwei junge Frauen im Racing-Trikot, die aussehen, als würden sie zum Frühstück eine frisch gepresste Kuh nehmen
  • in Morón den dicken Miguel, der es am Herz hat, seine Frau und deren Schwester.

Am Ende sind wir 34. Argentinische clase media, wie man so sagt. Von allen guten Geistern und der Regierung verlassen, von den Finanzbehörden und der Inflation verfolgt. Aber jetzt ist WochenJahresurlaub. Keine Politik!

Nordwärts, gegen Abend. Durch diese unendlich weite Pampa. Links legt sich die Sonne auf eine Wolke, der es unten rot raustropft.

Sunset Pampa

Der Bus ist ein coche cama. Auf Deutsch: Bettauto. Das ist sowas wie Business Class auf Rädern. Ziemlich bequem. Und nachher gibt es Filme. Und Bier habe ich auch reingeschmuggelt! Ha! Die in der Sitzreihe hinter uns heißen Cristina & Hugo. Sie hält mich für einen Nerd, weil ich noch vor der Stadtgrenze den Schalter für ihre Leselampe gefunden habe. Er hält mich für nicht ausgelastet. Wenn der wüßte … N paar hübsche Mädels an Bord, die mit Mutti reisen, aber ohne Papa. Schwiegersohnsuche im Dschungel? Die mit der großen Nase wird es schwer haben: Redet wie ein … nun ja: Wasserfall. Sehr kommunikativ. Ein Radio mit Riesennase, sozusagen.

Wegdösen. Das gleichmäßige Bamm-Ba-Bamm, wenn der Dreiachser durch’s nächste Schlagloch kracht. Dazu das SchrappSchrappSchrapp der ausgerissenen Achsgelenkmanschette vorne rechts . So eine … boahwiemüde … Pauschalreise … sss … ga’nich … unangenehm … schnarch … einschlaf …

ALARMESGEHTLOSINDENSCHÜTZENGRABENDIERUSSEN

KOMMENWAAA,NEIEEEEEN!!!!!!!

»Señoras y Señores, hola! hola! hola! gente«: Hier spricht ihre Reiseleiterin: Aldana (Echt jetzt! Ohne »i«!).

Aldana gibt Anweisungen. In charmantem Argentinisch, übrigens. Kommt nicht oft vor, dass ich sowas sage! Schöne Stimme. Bisschen laut, vielleicht. Inhaltlich wie die Mähdrescher-Kommandantin einer nordkoreanischen Kolchose: »Immer schön zusammenbleiben! Wir sind eine Gruppe! Keine Extratouren! Wenn Gott will, kommen wir an! Mor!gen! früh! Ihr seid hier nicht zum Ausruhen! Wir machen keine Pausen! Wir machen ›paradas tecnicas‹ − technische Stops! Ihr werdet Welt!wun!der! seh!en! Auf dem Bus-Klo: Nur pinkeln! Pipi unten! Popo draußen! Ver!stan!den?« (Sie macht den Eindruck, als würde sie das kontrollieren). Dann verteilt sie das Abendessen: Auch das ist irgendwie nordkoreanisch.

Schickt China etwa keine Kredite mehr nach Argentinien?

 

In der nächsten Folge:

  • wie das Radio mit der Riesennase plötzlich Angst bekommt
  • wie der dicke Miguel der Reiseführerin einen Wasserfall über den Kopf kippt
  • und wie der alte Juan seine Frau beim Bier besiegt

Der Ticker zum WM-Finale: Dem Diego Maradona su Wetter

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Sonnabend, 12. Juli, 10.30 Uhr

CW Buenas! Cómo andan, gente? Wir melden uns aus Buenos Aires und haben Großes vor, vielleicht auch nur Kleines, aber das würden wir niemals zugeben. Marc Koch und ich versprechen beim Heiligen aller Zauberkünstler, Diego Maradona, die Zeit bis zum Finale der Weltmeisterschaft halbwegs sinnvoll zu verplempern. Vor allem wollen wir uns selbst ablenken – von Langeweile und innerer Unruhe. Hätten wir einen Redaktionsbus, stünde draußen drauf die Parole: »13. Juli 2014 – Maracanã – Bereit wie nie. – Kann man das Finale einen Tag vorziehen?«

Es lohnt sich, heute und morgen immer mal wieder hier vorbeizuschauen. Wir werden tickern, was wir hören, sehen, lesen und erleben. Applaus, Lob und Blumen, Werbeverträge, Kuscheltiere, Telefonnummern und Heiratsanträge sind erwünscht. Fragen, Kritik und Kommentare natürlich auch. Nicht alles wird uns gelingen. Aber mehr über Argentinien vor dem Finale als hier erfahren Sie bei ARD und ZDF ja auch nicht. Jedenfalls habe ich aufgeschnappt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen doch sehr auf die deutsche Elf konzentrieren.

 

 

Blick auf die Uhr, das rechnen wir jetzt schnell im Kopf aus, ¡vamos!, ähm, tja, nein, wir nehmen doch besser die Finger zu Hilfe: noch 24 plus eins, zwei, drei, vier, fünf, fünfeinhalb Stunden. Also 29einhalb Stunden bis zum Anpfiff des WM-Finales zwischen Deutschland und Argentinien.

11.15

CW. Ich schnuppere gerade an meinem Argentinientrikot. Gegen Bosnien am 15. Juno hatte ich es zum ersten Mal an, danach bei jedem anderen Spiel meiner Lieblinge. Sechsmal. Gewaschen wurde es in den vergangenen vier Wochen natürlich nicht, wir Argentinier sind ja abergläubisch. Sollte ich mir morgen vielleicht ein Duftbäumchen (Vanille oder Flieder) umhängen? Ja, sagt die Nase, unbedingt.

11.46

CW. Meine Familie ist übrigens gespalten. Die Frau hält zu Deutschland, der Achtjährige wohl auch, Argentinien ist nur seine zweitliebste Mannschaft. Vielleicht schaffe ich es aber noch, ihn umzudrehen, er wackelt, und ich kann gut verunsichern. Noch am Mittwoch nach dem Halbfinale gegen Holland hatte er auf dem Heimweg verkündet, im Endspiel beiden Teams die Daumen zu drücken. Kinder, pffffff, also wirklich. Am nächsten Tag war er dann wieder bei Deutschland; der aktuelle Stand ist: Er kann auch mit dem Weltmeister Argentinien einigermaßen leben.

Wo steckt eigentlich mein Kollege? Er sollte mich ja irgendwann ablösen, weil ich jetzt ein paar Stunden mit den Kindern unterwegs bin. Wir arbeiten im Schichtbetrieb. Das hat zum einen zeitökonomische Gründe. Zum anderen haben wir nach vier Wochen WM Lagerkoller. Der eine will dem anderen nur begegnen, wenn es unbedingt sein muss. Ich bin letzte Nacht über den Zaun geklettert und habe in der Stadt einen draufgemacht.

Unser Deutscher hat sich wahrscheinlich in der Toilette eingeschlossen. Seine Angst vor Argentinien ist gewaltig, aber psssssssst.

12.40

MC. Haha! Der Chefreporter hier! Kürzel: MC! Lustig, der Herausgeber, oder!? Geht Angstshoppen! Steht also in diesem Hypermarkt in unserem Viertel. Sein kleiner Sohn muss den Einkaufskarren mit Tiefkühlpizza und Quilmes beladen. Währenddessen steht CW vor der Sonderfläche mit weiß-himmelblauen Fanartikeln und überlegt sich, wie er seiner Frau beibringen soll, dass er schon wieder einen Haufen Pesos für den Plunder ausgegeben hat, der am Montag von bolivianischen Altplastikhändlern eingesammelt wird.

13.09

MC. Typisch wieder: Seit Monaten erzählt CW, dass »wir«(also: »er«. Also die Argentinier) Weltmeister werden. Und jetzt, keine 36 Stunden vor dem Finale, geht er EINKAUFEN! Macht sich aus dem Staub. Und ich wieder Sonderschicht. Ohne Bezahlung. Das Honorar geht wahrscheinlich wieder an die im Liegen bloggenden Edelfedern. Dabei zeigt ihm das argentinische Mittelfeldchefchen Mascherano doch, wie man seinen Mann steht: Dem gibt man ne Knarre, und er holt die Malwinen Falklands alleine zurück!

13.15

MC. Immerhin steht CW zu seiner Albiceleste in guten und in schlechten Zeiten. Kann man nicht von allen behaupten: Die hiesige Regierung schickt keinen Repräsentanten zum Finale. Sie wollen ihnen kein Pech bringen. Und so richtig mit Tschingderassabum und Trommeln wird das Team am Montag nur empfangen, wenn es Weltmeister ist. Also nicht.

14.15

MC. Die Wetteraussichten für den Finalsonntag in Buenos Aires. Rudelgucker, aufgepasst: Sieht nicht gut aus. Fritz-Walter-Wetter!

14.32

MC. Vor dem Finale der Männer: Das Frauenfinale. Merkel vs. Cristina. Smokey Eyes gegen Naturlook. Uckermark gegen La Plata. Weltmeisterin gegen Vizeweltmeisterin. So oder so.

14.51

MC. Das Spiel um Platz 3. #NEDBRA. Wird zwei, drei Stunden später angepfiffen: Die Brasilianer müssen noch ihr Tor aufräumen.

Das brasilianische Tor

15.20

MC. Alter, CW hat sie nicht mehr alle! Weil sie auf der Sonderverkaufsfläche im Hypermarkt seines Vertrauens kein Mascherano-Trikot in XXL hatten (seit er mehr Fußball guckt als spielt, hat er zugenommen!), ist er jetzt extra nach Caballito gerammelt. Das ist ein Stadtteil. Und dort, im Parque Rivadavia, gibt es noch Fanartikel. Sicher hat er wieder in die Haushaltskasse gegriffen, während seine Gattin ihre wohlverdiente Siesta gehalten hat.

parque rivadavia 2

MC. Dabei gibt es in diesem Park ausnehmend schöne Statuen zu sehen. Aber für sowas hat ein argentinischer Fußballfan ja kein Auge…

Parque Rivadavia

15.58

MC. In Buenos Aires schüttet es in Strömen, gleich wird dann doch #NEDBRA angepfiffen, verhaltensauffällige junge Argentinier hupen und tröten auf der Straße rum. Da muss ich, vor meinem brabbelnden Kamin, doch gleich an den großen Eric Meiijer denken und den jungen Leuten da unten (und CW natürlich auch!) zurufen: »Nichts ist scheißer als Platz 2!«

16.06

MC. Doch. Arjen Robben fällt ein, dass es doch noch was Scheißeres als Platz 2 gibt. Gleich mehr dazu aus Brasilia…

16.21

CW. Mann, Mann, Mann, sieht das hier aus. Da gibt man dem Chefreporter die Schlüssel und muss hinterher erst mal aufräumen. Hässliche Anführungsstriche. Kleine Bilder. Falsch positionierte Kürzel. Ans Telefon geht er natürlich nicht. Bin gleich wieder da.

16.27

CW. Nichts als Ausreden. Schlimmer als jeder Argentinier. Na ja, Journalist.

Auch interessant: was man erfährt, wenn man mit dem Sohn im Auto unterwegs ist. Die Familie hat doch heute Morgen unsere zwei Meerschweinchen zu Freunden gebracht, weil wir ja am Montag für ein paar Wochen nach Deutschland fliegen. Ja, gleich am Montag, zu diesem Thema kommen wir später. Jedenfalls berichtete der Achtjährige, wie sich seine Mama und die Mama seines Schulfreundes gemeinsam über die Väter ihrer Söhne aufgeregt hätten. Weil die – also wir, Jorge und ich – seit Wochen nix anderes als Fußball im Kopf haben.

»Mama ist froh, wenn die WM morgen vorbei ist. Und die Mama von Facu auch.«

»Deine Mama weiß aber nicht, dass ich eine Woche sehr traurig sein werde, falls Argentinien verliert. Und wenn Argentinien gewinnt: das restliche Leben sehr glücklich. Dann werde ich mir ab und zu frei nehmen, um übers Wasser zu laufen.«

»Übers Wasser kann man nicht laufen, Papa.«

»Ein Argentinier dann schon.«

 16.45

CW.  Apropos Mascherano: Der dementiert heute in Olé, Argentiniens großer Sportzeitung. »Ich bin nicht Rambo«, sagt er im InterviewSan Martín will er auch nicht sein. Hübsche Analogie. Nordamerikanischer Befreiungskämpfer mit fünf Buchstaben? Rambo.

Rambo MasChe

17.20

CW. Mascherano ist laut Olé übrigens nicht der beste Spieler des Turniers. Sein Olé-Notendurchschnitt: 7,5 (von 10). Hier die Noten der anderen Spieler, die die Fifa nominiert hat:

  • Robben: 8,2
  • James Rodriguez: 7,9
  • Thomas Müller: 7,4
  • Mats Hummels: 7,1
  • Toni Kroos und Philipp Lahm: 7,0
  • Neymar: 6,7.
  • Messi ist nominiert, aber seine Note finde ich nicht in der Zeitung. Wahrscheinlich: 12,9.

17.31

CW. Der Chefreporter guckt das Spiel um Platz 3 und fragt per Mail: »Ist Heulen eigentlich eine brasilianische Kulturtechnik?«

17.43

CW. Wenn uns jemand von einem Boten zweimal 120 000 Peso (in großen Scheinen!) vorbeibringen ließe, könnten wir noch schnell nach Río de Janeiro düsen. So viel, umgerechnet 11 000 Euro, soll ein Finalticket auf dem Schwarzmarkt maximal kosten. Wir würden natürlich hart verhandeln und uns auch mit Kurve begnügen. Unsere Spesenabrechnung reichen wir nächste Woche nach.

17.45

CW. Wir warten.

17.55 CW. Und wer mir eine echte Freude machen will, der kaufe bitte diesen hübschen Sessel zum Schnäppchenpreis von 2300 Peso:

Sessel

Hoppla, soeben fällt mir ein, dass ich ja versprochen habe, mich tätowieren zu lassen, wenn Argentinien Weltmeister wird. Glatze obendrein, behauptet mein Sohn. ¡Vamos Alemania, carajo!

18.03

CW.  Die Deutschen greifen aber auch zu allen Mitteln. Gerade habe ich die Frau dabei ertappt, wie sie Sohnemanns weiß-himmelblauen Trainingsanzug in die Waschmaschine stecken wollte. Der hat uns doch so viel Glück gebracht am Mittwoch im Elfmeterschießen. Ich frage mich, wie es die Frau geschafft hat, dass er das Ding auszieht. Er war damit zwei Tage in der Schule, er schläft darin, ich kann mir sogar vorstellen, dass die Zwei zusammen baden.

1.03

CW. Rätselhafter Satz in der Süddeutschen Zeitung: »Der Mann mit der Alfredo-Di-Stéfano-Gedächtnisfrisur ist der heimliche Chef in der argentinischen Kabine, was auch daran liegen könnte, dass er vergleichsweise unfallfrei spricht.«

Ich frage mal den Chefreporter, was das heißen soll.

»Meinen sie Dich? Oder den Trainer?«

Nein, Pablo Zabaleta. Die Unverzichtbarkeit des Rechtsverteidigers hat sich mir in sechs Partien nicht erschlossen. Ein paar Mal habe ich sogar schon nach zehn Minuten seine Auswechslung gefordert.

Ich mache für heute mal das Licht aus.

*****

Sonntag, 13. Juli 2014

7.51 Uhr

CW. Buenas! Todo tranquilo? Seit gestern regnet es in Buenos Aires, aber der Morgenkaffee hat weniger bitter geschmeckt als sonst. Ein guter Tag wird das! ¡Vamos Argentina, carajo!

»Todo depende de Messi«, hatte es vor dem Turnier in Argentinien geheißen, von Messi hängt alles ab. Und weil wir aus tiefer Bewunderung Argentiniern alles nachplappern, stand der Satz auch bei uns. Und es stimmte doch: In der Vorrunde schoss der Kapitän Tore und führte seine Mannschaft zum Gruppensieg. Mittlerweile aber überzeugt das Kollektiv. Der Schriftsteller und Fußballpoet Eduardo Sacheri (den wir selbstverständlich bewundern und lesen und dann wieder bewundern usw. usf.), Sacheri sagt heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Argentiniern sei »das Teamdenken schon immer schwergefallen: Als Gesellschaft sind wir individualistisch, chaotisch und ziemlich undiszipliniert. Und so spielen wir auch Fußball«. Im Verlaufe des Turnier allerdings habe sich die Albiceleste jedoch erstaunlich entwickelt. »Unser neuer Stil ist solidarisch, geordnet, geduldig.«

Sacheri tippt übrigens – ich sage doch: guter Mann – auf Sieg ohne Elfmeterschießen. Plappern wir gleich nach.

Und Ihr? Geht’s rein und lest’s Sacheri. Seinen Roman »Papeles en el viento« gibt es – wir sind schlauer als Wikipedia – seit dem vergangenen Jahr auf Deutsch. Titel: »Vier Jungs auf einem Foto«. Eine herrlich absurde Geschichte.

8.07

CW. Vielleicht verdeutlicht das ein bisschen den Stellenwert, den der Fußball in Argentinien hat: Supermärkte sind hierzulande das ganze Jahr über geöffnet, auch an den beiden Nationalfeiertagen (25. Mai und 9. Juli), auch an Weihnachten und Ostern. Heute schließen sie um 13 Uhr unserer Zeit, drei Stunden vor dem Anpfiff des Endspiels. Dann werden auch wir hier einpacken und aufbrechen in Richtung Obelisk. Dort irgendwo versuchen wir dann, einen Tisch zu blockieren. Im Café habe ich neulich mit meinem Sohn das Elfmeterschießen gegen Holland gewonnen, davon können wir jetzt nicht mehr abweichen. Man muss nur früh genug da sein; denn das Café ist einer der Orte, an denen sich der Argentinier besonders wohl fühlt.

Halbfinale 7

Um sieben, halb acht – kein Elfmeterschießen, nein – strömen wir hinaus auf die Avenida 9 de Julio, die breiteste der Welt, und feiern mit Hunderttausenden, nein, wahrscheinlich zwei bis drei Millionen, den dritten Weltmeistertitel.

Ein guter Plan.

8.19

CW. Falls Sie den Chefreporter vermissen: Der hat sich im Abschlusstraining den Zeigefinger gezerrt und will sich nicht fitspritzen lassen. Der ist heute rund um die Uhr für die Deutsche Welle im Einsatz. Ich soll ganz lieb grüßen.

8.40

La Nación, die zweitgrößte Zeitung des Landes, hat den Argentiniern einige der unheimlich witzigen Fantasie-Schlagzeilen von Deutschlands größtem Hetz- und Dreckblatt übersetzt. »Franziskus tritt aus Scham zurück« – »El papa Francisco abdica de la vergüenza«.  Unter dem Text kommentiert einer: »Die Deutschen machen sichere Pläne – und Gott lacht hinter ihrem Rücken. Sie wissen, wie viele Äpfel am Baum hängen. Aber nur Gott weiß, wie viele Äpfel ein Saatkorn gibt.«

9.20

CW. Wenn wir Weltmeister werden, wird es sehrsehrsehr bitter: Am Montag landet die Mannschaft in Buenos Aires, und ich hebe nach Europa ab. Der jährliche Sommerurlaub. Ich hatte schon vor einem Jahr am Esstisch verkündet: »Ich will die WM in Argentinien erleben! Wir fliegen nach dem Endspiel! Argentinien wird Weltmeister!«

So wurde Montag, der Tag nach der WM, gebucht. Vielleicht hätte ich dazusagen sollen: Ein Land feiert so einen Titel und empfängt seine Helden.

Wie es feiern wird! Am Obelisken und überall! Und ich sitze im Flugzeug nach Amsterdam.

9.27

CW. Genial.

 

9.40

CW. Frage an die Experten: Was machen diese Leute hier in Buenos Aires?

Panini-Tausch

Antwort: Sie tauschen Paninibilder.

Zehn Schritte weiter habe ich mich gestern noch abergläubisch verstärkt und für umgerechnet drei Euro bei einem Straßenhändler diesen schönen Rosenkranz mit Papstanhänger gekauft. »Rosenkranz« heißt auf Spanisch übrigens »rosario«, ja, genau wie die drittgrößte Stadt Argentiniens, in der unter anderem Che Guevara, Leo Messi und die drei berühmten Trainer César Luis Menotti, Marcelo Bielsa und Gerardo Martino geboren … ach ja, hatten wir schon.

Rosario mit papa

9.55

CW.  Eine Mail von vorgestern aus Alemania:

Lieber Christoph!

Soeben habe ich aus der Zeitung erfahren, dass in Brasilien eine Großveranstaltung läuft, deren Sinn darin besteht, eineinhalb Stunden lang Lederkugeln in auf Holzrahmen gespannte Fischernetze zu schießen. Als ich weiter las, erfuhr ich, dass die besten zweiundzwanzig Männer aus Argentinien und Deutschland kommen, und dass in den nächsten Tagen die allerbesten elf Männer durch weitere Schüsse in die Fischernetze ermittelt werden.

Beim Lesen dachte ich sofort an Dich. Denn ich meine mich erinnern zu können, dass Du mit großer Begeisterung solche Lederkugelinsfischernetzwettkämpfe verfolgst.

Und da Du ja nun seit einiger Zeit in Argentinien bist, dachte ich, dass Du nun wohl hin und her gerissen sein musst, welcher Gruppe der Lederkugelspieler Du die meisten Schüsse in die Fischernetze wünschen sollst. So wünsche ich Dir trotz dieses Zwiespaltes einen spannenden Endkampf.

Die WM bekommt nicht nur mir nicht.

Noch sechs Stunden. ¡Vamos Argentina, carajo!

Übrigens: kein Regen mehr. Sonnenschein. Dem Diego Maradona su Wetter.

10.23

CW. Relativiert das holländische Dreinull gegen Brasiliens Zehnkampfnationalmannschaft von gestern Abend eigentlich das 7:1 der Deutschen im Halbfinale? Die Frau kam ja von diesem Spiel ganz begeistert nach Hause und fragte, ob ich schon mal dieses tolle Lied gehört hätte. Dann sang sie: »Oh, wie ist das schön.« Natürlich, das Lied wurde schon gesungen, als Uwe Seeler noch spielte. Aber wie sollte ich ihr das sagen? Den kennt sie doch gar nicht.

Wir haben auch die geileren Lieder.

 

Kurze Pause. Muss Olé kaufen.

11.25

CW. Der Oléverkäufer hier im Viertel hat mir gerade die Ohren lang gezogen, weil ich für Argentinien bin. »Patriotismus ist kein Geschäft. Man leugnet nicht sein Vaterland.« Als er nach 15 Minuten beim Wählen als demokratische Pflicht landete, musste ich wirklich los.

11.29

CW. Mein Freund Vicente, der klügste Argentinier unter 30, schickt eine SMS:

Buen día!!! Me levanté de muy buen humor. Ganamos 2:0. – Guten Tag!!! Ich bin mit sehr guter Laune aufgestanden. Wir gewinnen 2:0.

11.50

CW. Ich habe Vicente mal gefragt, welches Bild die Argentinier von Deutschen und Deutschland haben. Hier seine Antwort, die ich übersetzt habe:

Argentinische Oberschicht: hält die Deutschen für sehr gut gebildet und geschäftstüchtig; denkt bei Deutschland an die großen Denker und die bedeutende Kultur; Deutschland ist für diese Argentinier ein Vorbild, das Ideal eines Landes.

Argentinische Mittelschicht/Arbeitklasse: hält die Deutschen für pedantisch, gewissenhaft und extremst pünktlich; kennt bestimmte Marken wie Mercedes und BWM, ohne genau zu wissen, wo die hergestellt werden; verbindet mit Deutschland Strudel oder etwas anderes typisch Deutsches.

Argentinische Unterschicht: hält alle Deutschen für blond, groß und dünn; denkt bei Deutschland an Bier und neuerdings auch an Fußball.

(Hinweis von mir: In Argentinien geht man unbefangener mit dem Schichten-Begriff um.)

12.10

CW. Angestachelt von ihrer Mutter, provozieren die Kinder.

Vizeweltmeisterfahne

12.15

CW. Wie gut hat es unser Chefreporter: Der dreht schon den ganzen Tag unter Argentiniern. Ist bestimmt lustig, oder?

MC. Ja. Lustig. Die haben das Gleiche genommen wie Du. Sie glauben, sie seien Weltmeister.

12.40

CW. Wir kommen allmählich zum Schluss, ich muss los. Ich treffe mich um 14 Uhr unserer Zeit, zwei Stunden vor dem Anpfiff, mit Cristian am Obelisken. Cristian und ich sind im vergangenen Oktober mit zwei Millionen anderen Irren 70 Kilometer von Buenos Aires nach Luján gepilgert, zur Heiligen Jungfrau. Start morgens um halb elf, Ankunft kurz vor halb drei nachts. Ich wollte die Geschichte immer mal erzählen, hatte sie schon fast fertig, dann fiel ein Buch auf den Laptop und zerstörte die Festplatte. Kein Backup, natürlich nicht.

Wallfahrt 3

Wallfahrt 2  Wallfahrt

Wallfahrt 4

Mit Cristian

12.47

CW. Helge, unser Freund vom Blog Me llaman Jorge, hat an uns gedacht und einen wunderbaren Text geschickt, der auf Facebook unterwegs ist. Man kann ihn leider nicht ins Deutsche übersetzen. Es ist eine Erzählung, in der die Namen der argentinischen Nationalspieler ähnliche Wörter ersetzen. Man versteht es erstaunlicherweise trotzdem.

Hoy me desperté Mascherano q nunca, Higuaín q todos los dias, me Lavezzi la cara, me puse las Zabaleta, me preparé el mate con unas hojitas de Romero. Elegí al azar una página de la Biglia q hablaba Dimaria y del Messias, Basanta palabra!!! Me puse mi gran saco Rojo, para salir y me pareció q tenía un Agüero en la manga, Garay q susto!!! No era nada.. En la esquina estaba un Campagnaro querido q Andujar siempre en un Orion, nos desencontramos! Por telefono le dije: te pedi q mes Perez alli!!! Por suerte Rodriguez el del Maxikiosco, le hizo una seña y nos encontramos finalmente frente al Palacio. Mas tarde, café de por medio, le dije entre otras cosas: – mira; no me Gago ante los alemanes… el domingo ganamos, SABELLAAA!!!!

¡Vamos Argentina, carajo!

¡Hasta luego. ¡Nos vemos! Beso grande.

Unter Geiern … äh … Brasilianern

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

*****

Argentiniens Hauptstadt, gestern Abend: WM-Halbfinale. Ein Deutscher und seine Mannschaft. Viele Brasilianer und ihre Mannschaft. 

1.-16. Minute

Krawallende Glotze, kreischende Kinder, klingende Gläser, coole Caipis, Samba im Hintergrund. Alberne Schminke. Fingerfood ganz ok, Bier kalt und nicht von Quilmes. Schönes Spiel.

Die Brasilianer, als ob sie aus den Deutschen gleich einen Oliver-Kahn-Gedächtnisauflauf machen wollten: Luiz guckt, Hulk kratzt, Marcelo spuckt. Ich: nervös. CW, zu Hause: malt entspannt weiß-himmelblaue Papierstreifen. Und twittert.

11. Minute

Gol! GooooooooooooooooooooooooooooooolTomáßmuller.

17. Minute

A. (Name von der Redaktion geändert), der Brasilianer aus São Paulo, kommt rein, seinen fiebernden Dreijährigen auf dem Arm, seine unlustige Fünfjährige an der Hand und seine reizende Gattin an der Seite.

A. schaut auf den Fernseher. Ob das ein Scherz sei? BRA-GER 0:1? Ne Montage, oder sowas?

23. Minute

A. hat seine Plagen zu den anderen ins Kinderzimmer geschickt und will sich gerade mit seinem Bier setzen – da kommt Opa Klose. Null-zwo. A. lacht. Sein Sohn will noch eine von diesen Deutschlandfahnen haben, die einer zur Party mitgebracht hat.

24. Minute

Kroos. Das Dritte. Einfach so. Meine Frau heult. Wie Julio César und David Luiz. Im Gegensatz zu denen aber vor Rührung. Dass sie das noch erleben darf, sagt sie. (Im Viertelfinale ist sie noch Shoppen gewesen. Mit der Gattin von Hausherr CW!)

26. Minute

Kroos. Nochmal. Keine Wiederholung! Haha!

29. Minute

0:5. Ich finde, wir sollten jetzt gehen. Immerhin sind auch hier die Gastgeber Brasilianer.

Touristenführer Jogi Löw

Aber Merte hatte unrecht: Unter den letzten 16 war doch eine Karnevalsmannschaft.

Interessant: Einer, den ich nicht kenne, aber für einen Argentinier halte, stülpt die Nase über den linken Mittelfinger, hält sich den Zeigefinger an die Schläfe, legt die Stirn in Falten – und schweigt. Sehr ungewöhnlich für einen Argentinier. Klarer Fall: Die haben Angst! Jetzt schon! Ach, der Mann ist Bolivianer?! Ok, ok, ok: »Kannst du dich an Deutschland-Bolivien erinnern, WM 1994? Das 1:0?« Kann er. Will er nicht drüber reden. Fast ein Argentinier, irgendwie.

Halbzeit

Wir machen Späße. Mit den Brasilianern. Zum Aufheitern. So: »Hey, in der zweiten Halbzeit stellt sich Neuer in euer Tor. Zum Spaß. Haha!« Finden die nicht witzig.

Unser Gastgeber. Steht in der Küche. Im Glas: Cola. In der Hand: Veganerschnitte. Im Auge: eine Träne. Wir versuchen, zu trösten. Seelische Betreuung. Notfallseelsorge. Betreutes Fernsehen, sozusagen.

Zweite Halbzeit

Huy, die drücken. Ich twittere an CW: »Brasilien dreht das noch.« A., der Brasilianer, mantrat auf dem Teppich: »CincoGolesCincoGolesCincoGoles.«

69. Minute

Lahm. Und Schürrle. »Macht das halbe Dutzend voll«, würde Rubi wortmetzen. A. sitzt im Halbdunkel hinter dem Sofa und singt seinem Sohn melancholische Volkslieder aus Brasilien vor. Das Kind schwenkt die D-Fahne und grinst verzückt.

Ich lege mich fest: Brasilien dreht das Spiel nicht mehr.

70. Minute

Ich habe es geschafft. Ich habe den jüngeren Brasilianern von Zico, Sócrates und Pelé (kommt schon: Den kennt sogar ihr!) erzählt – jetzt sind sie wieder glücklich und lachen. Ach nee, es ist nur, weil Fred, der brasilianische Fußballer mit den sieben linken Füßen, endlich ausgewechselt wird.

79. Minute

Schürrle. Der alte Bruchwegboy! 0:7. Und A., der Brasilianer, so: »Deutscher Fußball ist geil.« Schon, A.! Eine deutsche Zuschauerin fragt: »Kommen wir jetzt ins Endfinale?«

90. Minute

Ja. Kommen wir.

Abpfiff

Beim Rausgehen treffe ich einen argentinischen Freund.

Bild 3 Brasilien

Ich frage: »Was steht an?« – Er: »Wir spielen gegen Holland.« – Ich: »So ein Zufall: Wir am Sonntag auch!«

*****

Weitere Text von Marc Koch

Die hochspekulative Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

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Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten und plaudern über Fußball und den Rest.

CW. Wann spielt der nächste Weltmeister sein Viertelfinale? Sonnabendmittag? (Erbitte argentinische Anstoßzeit.)

MC. Freitag um fünf.

CW. Hahaha. Jetzt auch Kolumbianer, he?

MC. Klar! Oder Belgier. Alle anderen können gehen.

CW. Du warst ja auch schon Holländer, Chilene und Franzose.

MC. Nur für einzelne Spiele. Es muss verhindert werden, dass der hässliche Fußball Weltmeister wird. Um jeden Preis.

CW. Ein Idealist. Ein Schöngeist. Wie putzig! Ich komme gleich zum Streicheln vorbei.

MC. Aber zieh Dir vorher ein sauberes Trikot an!

CW. Argentinien hat alle Spiele gewonnen. Ich darf nicht waschen. Bringt Unglück.

MC. Wir brauchen übrigens einen Plan.

CW. Fürs Leben?

MC. Nein. Vielleicht doch. Ja, bestimmt. Ich meine aber: fürs Viertelfinale. Wir müssen reagieren, wenn Deutschland, Brasilien und Argentinien rausfliegen. Wer macht wen fertig?

CW. Puh.

MC. Als der authentische Argentinier, der Du ja bist, müsstest Du natürlich Deinen Jungs umgehend in den Rücken fallen. Wenn sie gegen Belgien am Sonnabend verlieren …

CW. … dann war mir das spätestens vor einer Woche längst klar.

MC. Zu spät! Viel zu spät! Du hast nie an diese Mannschaft geglaubt. Nie!

CW. Ich habe nie an diese Mannschaft geglaubt. Nie!

MC. Gut so. Ich nehme an, Brasilien machst Du dann gleich mit fertig.

CW. Ehrensache.

MC. Dann bin ich der deutsche Stammtisch. Wir sollten überlegen, wie wir das anpacken. Es soll ja originell werden.

CW. Was können wir, was die anderen nicht können? Was haben wir, was die anderen nicht haben? Wie sind wir? Und wie sind die anderen nicht?

MC. Wir sind schnell. Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie. Mehr?

Andrés, San Iker und der Brunnen vor meiner alten Wohnung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

Das ist der traurigste Tag eines langen Fußballlebens.

Ich habe sie 2006 bei der WM in Deutschland aussteigen sehen. Und dann aufsteigen. Jedes Vorbereitungsspiel auf die EM 2008 habe ich mitgemacht. Habe stundenlang Luis »el sabio« Aragonés interviewt, den inzwischen in die ewigen Strafräume eingegangenen spanischen Trainer, den sie den Weisen nennen. Habe verstanden und akzeptiert, warum Raúl, der die Nummer 7 bei Real Madrid hatte, als Cristiano Ronaldo noch im Internat Stühle nach seiner Lehrerin geworfen hat, nicht mehr mitmachen durfte. Ich war Zeuge der Geburt von Tiki-Taka. 33 Spiele lang ungeschlagen.

Dann kam das Turnier 2008. Pässe, bei denen wir vor der Glotze vor Glück niedergekniet haben. Geistesblitze aus dem Mittelfeld, die dem Gegner nur so um die bleischweren Beine gezuckt sind. Paraden von San Iker, dem größten Fußballgott seit Toni Turek. Nach dem Elfmeterschießen im Viertelfinale (mein Gott, ich muss den Text bei meinem Auftraggeber abliefern. Aber das habe ich jetzt doch noch dreimal angeschaut!!) bin ich der Bürgerinitiative »Calle de la madre que parió a Iker Casillas« beigetreten, die einen Straßennamen für Ikers Mutter im Madrider Vorort Mostoles gefordert hat.

 

Sprints von Fernando »El Niño« Torres, der die deutsche Abwehr einfach überlaufen hat. Der deutsche Verteidiger hieß übrigens Lahm. Und sah auch so aus.

Nach dem Finale musste ich in den Brunnen vor meiner damaligen Wohnung in Madrid steigen, um die Fans zu interviewen. Nie wieder habe ich so viel sympathischen und unverstellten Stolz auf ein Fußballteam erlebt. Dieses Team war ein Vorbild: Seit »el Niño« Torres bei Liverpool und später bei Chelsea vom fußballverliebten Kind zum fußballspielenden Mann gereift ist, hat jeder Spanier unter 30 begriffen, dass es nicht schadet, auch die Welt auf der anderen Seite der Pyrenäen ein bisschen kennenzulernen.

2010, Südafrika. Niemand hat wirklich an den Titel geglaubt. Außer mir. Vor meinem Kölner Balkon wehte die spanische Fahne. Der Spott der Sportkollegen, nach dem 0:1, das die Schweiz San Iker ins Tor gestolpert hatte, war kurz. Aber heftig. Dann lief die Ballmaschine wieder. Und konnte im entscheidenden Moment auch mal alle Eleganz kurz weglassen: Carles Puyol, die Abrissbirne im deutschen Strafraum, mit dem 1:0. Dann Finale. Gegen kloppende Holländer. Robben hatte sich damals noch nicht im Griff. Dafür hatte Andrés Iniesta, der wachsbleiche Engel aus einem Ort in der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, den Fuß an der richtigen Stelle.

Weltmeister.

 

Irgendwann, während der Eröffnungsfeier der EM 2012, plötzlich dieses komische Gefühl im Bauch. Erster Gedanke: Das ist die chemisch-verpanschte Plörre aus Quilmes, die der Argentinier Bier nennt. Zweiter Gedanke: Psalm 33, 11: »Aber der Ratschluss des Herrn bleibt ewiglich.« Heißt: Alles andere vergeht. Auch große Mannschaften. Über dem 2012er-Titel schwebte schon eine dunkle Wolke wie eine Warnung. Xavi »el profesor« Hernández zeigte erste Abnutzungserscheinungen. Körperlich. Und auch geistig.

Aber nach dem Finale stand ich mit der spanischen Fahne über den Dächern von Buenos Aires und hab’ den Balotelli gemacht.

Haha! Scherz!

Es musste so kommen. Dieser 18. Juni 2014 war unvermeidlich. Absehbar. Nicht nur, weil der verhaltensauffällige Trainergeck José Mourinho Iker Casillas bei Real Madrid zermürbt hat. Nicht nur, weil Xavi mehr Spritzen in den Achillessehnen hat als ich Haare auf dem Kopf. Nicht nur, weil Diego Costa, der plumpe Stoßstürmer alter Schule, im eleganten Salon des spanischen Fußballs allenfalls den schönen Teppich zertrampelt. Nein, es war einfach Zeit. Es hätte nicht jetzt sein müssen. Und auch nicht so. San Iker, der durch die Grashalme krabbelt. Sergio Ramos mit Doppelklebeband unterm Schuh, der Robben hinterherschaut. Aber irgendwann musste es sein.

Oliver Pocher, ein deutscher TV-Moderator und auch sonst von mäßigem Verstand, hat nach dem Spiel gegen Chile getwittert:

 

Auch von Fußball versteht er nichts. Denn Spanien kommt wieder. Aus den Fußballschulen wird die Generation Tiki-Taka 2.0 erwachsen. Zu viele Jungs zwischen Málaga und A Coruña, zwischen Valencia und Badajoz haben in den letzten acht Jahren gesehen, was schöner, moderner Fußball ist.

Und wer hat’s erfunden? Eben. Und nicht die Schweizer. Wir sehen uns 2016. Nach dem Finale. Im Brunnen vor meiner alten Wohnung in Madrid.

Te queremos de todo corazón, Furia Roja.

Trainingslager und WM-Tagebuch

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T., mein Sherpa in Chile und Bolivien, hat mir vor Wochen schon einen Gastbeitrag versprochen und noch immer nichts geliefert. Danü, der Große Meister, soll mir Leo Messi und Sepp Blatter zwischen Copacabanabrüsten zeichnen und ist untergetaucht. Axel, der Buenos-Aires-Kurzzeitbesucher, will mit mir eine Kolumne schreiben und wartet auf einen Entwurf. Und die Fünfjährige … ach, reden wir nicht von der Fünfjährigen.

 

Schwierige Augenblicke also. Dabei müsste ich den Kopf frei haben, um mich intensiv auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien vorzubereiten. Es wird nämlich ein Tagebuch geben, aus argentinischer Perspektive, versteht sich. Analysen, Anekdoten, Kolumnen, Wackelvideos von Autokorsos und Feldforschung (abergläubische Argentinier beim Fußballgucken). Schon morgen gehe ich ins Trainingslager, um an den Grundlagen zu arbeiten. Welche Schuhgröße hat unser Stürmer Kun Agüero? Und wie viele Finger unser Fliegenfänger Sergio Romero? Wie viel Mate trinken die Spieler pro Trainingseinheit? Und wohin fährt unser Liebling Carlos Tevez in den Urlaub? Der Angreifer mit den vielen Spitznamen – Carlitos, Spieler des Volkes, Apache – ist vom unbeliebten Trainer Alejandro Sabella nicht in den vorläufigen Kader berufen worden. Tevez hat noch nie unter Sabella gespielt, es heißt, er könne auch nicht mit Leo Messi, dem unumstrittenen Häuptling, er sei ein Egoist und Unruhestifter. Unruhestifter sind uns ja grundsätzlich sympathisch. Und Tevez schießt Tore und dürfte der derzeit beste argentinische Fußballer sein. »Carlitos ist ein Crack«, schrieb gestern das Sportblatt Olé. »Mit ihm kannst du mit einer Spritzpistole in den Krieg ziehen.«

Auf dem argentinischen Bus, der die Spieler durch Brasilien fahren wird, steht übrigens: »No somos un equipo, somos un país.« – »Wir sind keine Mannschaft, wir sind ein Land.« Na ja. Danüs Jungs haben sich auf ihren Bös1 »End Station: 13.07.2014 Maracana!« pinseln lassen. Wollen also ins Finale, die Schweizer.

Meine beiden WM-Lieblingswerbungen sind gerade diese hier:

 

 

Das WM-Tagebuch wird voraussichtlich um den 4. Juni herum beginnen, wenn Argentinien in Buenos Aires gegen Trinidad und Tobago freundschaftsspielt. Drei Tage später gibt es gegen Slowenien noch einen letzten Test. Wer mitschreiben will, ob aus Deutschland oder Argentinien, melde sich bitte.

Hier nun das vorläufige WM-Aufgebot Argentiniens. Sieben Spieler werden noch gestrichen. Die Namen der vermuteten Elf sind gefettet.

Tor: Sergio Romero (AS Monaco), Mariano Andújar (Catania Calcio), Agustín Orion (Boca Juniors)

Abwehr: Ezequiel Garay (Benfica Lissabon), Federico Fernández (SSC Neapel), Pablo Zabaleta (Manchester City), Marcos Rojo (Sporting Lissabon), José María Basanta (CF Monterrey), Hugo Campagnaro (Inter Mailand), Nicolás Otamendi (Atletico Miniero), Martín Demichelis (Manchester City), Gabriel Mercado (River Plate), Lisandro López (FC Getafe)

Mittelfeld: Fernando Gago (Boca Juniors), Lucas Biglia (Lazio Rom), Javier Mascherano (FC Barcelona), Ever Banega (Newell’s Old Boys), Angel Di María (Real Madrid), Maximiliano Rodríguez (Newell’s Old Boys), Ricardo Alvarez (Inter Mailand), Augusto Fernández (Celta Vigo), Enzo Pérez (Benfica Lissabon), José Sosa (Atlético Madrid), Fabian Rinaudo (Catania Calcio)

Angriff: Sergio Agüero (Manchester City), Lionel Messi (FC Barcelona), Gonzalo Higuaín (SSC Neapel), Ezequiel Lavezzi (Paris St. Germain), Rodrigo Palacio (Inter Mailand), Franco di Santo (Werder Bremen)

Nachtrag, 6. Juni 2014

Das Logo des WM-Tagebuchs ist fertig. Tolle Zeichnung von Danü.

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

 

  1. Danü sagt: Ja, zu »Bus« sagen wir gerne »Bös«, aber eher in Bern, ich mag auch »Omnibös«. Aber so einen Langstreckenbus nennen wir ja eigentlich »Car« oder »Reisecar«, bitte frag mich nicht, warum. Beso. []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)