Posts Tagged ‘Cristina Kirchner’

Phriseur und Filosoph

von CHRISTOPH WESEMANN

Seit gestern 15 Uhr (Ortszeit) sagt mir mein Haarschnitt, der übrigens nicht »Frisur« genannt werden will, er bestehe darauf, erklärt zu werden. Ich versuch‘s.

Vielleicht hätte ich gewarnt sein sollen. Zum einen hatte der Kunde vor mir schätzungsweise drei Kilogramm schwarzer Locken auf dem Boden des Salons zurückgelassen – angeblich, weil er Journalist ist und wenig Zeit für Friseurbesuche hat, wie Julio, der Scherenmann, später erzählen sollte. Zum anderen waren da die Fotos an der Wand neben dem Spiegel: Uruguays Nationalmannschaft und Uruguays Präsident José Mujica.

Mujica, genannt El Pepe, ist gelernter Blumenzüchter, Ex-Guerillero der kommunistischen Befreiungsbewegung Tupamaros und Atheist. Er fährt privat VW-Käfer und nutzt als Dienstlimousine gern einen Opel Corsa. Sein Matewasser erwärmt er in einem ollen Kessel, und er lebt von 1500 Dollar im Monat, weil er fast 90 Prozent seines Präsidentengehalts (260 259 uruguayische Pesos, 12 000 Dollar) Betrieben und Nichtregierungsorganisationen spendet.

Gerade hat er die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner beleidigt – und deren verstorbenen Mann und Amtsvorgänger Néstor gleich mit. Angeblich wusste er nicht, dass das Mikrofon offen ist, als er sagte: »Die Alte ist schlimmer als der Einäugige. Der Einäugige war politischer, sie ist störrisch.« Mujica entschuldigte sich ein bisschen, wurde aber mit der uruguayischen Variante von Eber an stolzer Eiche auch pampig:»Was kümmert den Tiger schon ein weiterer Streifen?«

 

»Bist du Uruguayer?«, fragte ich Julio, meinen neuen Herrenfriseur, den ich zufällig im Stadtviertel Almagro gefunden hatte, wo der Siebenjährige und die fast Vierjährige zweimal die Woche Russisch lernen.

»Ja. Aber ich lebe schon viele Jahre in Buenos Aires.«

»Ich habe meine Haare heute Morgen nicht gewaschen, stört dich das?«

»Gar gar kein Problem.«

Dann begann Julio, mir die vereinbarten zwei Zentimeter abzuschneiden, und erzählte dabei, wo ich in Uruguay am besten und schönsten den nächsten Urlaub verbrächte, er holte eine Landkarte, reiste mit seinem Zeigefinger an der Südatlantikküste entlang bis nach Castillos und empfahl schließlich, in Aguas Dulces Quartier zu nehmen. Menschenleer sei dort der Strand, ein paradiesisches Dörfchen, ein paar Restaurants, und die Lagune von Castillos – ein Traum! »Wenn du hinfahren willst, komm vorher vorbei, ich helf dir, was Gutes zu finden.«

Entweder hat unser Gespräch ein bisschen zu lange gedauert, oder aber uruguayische Friseure haben es nicht so mit dem Metrischen Einheitensystem. Für angeblich zwei Zentimeter weniger Haar war mein Kopf jedenfalls viel zu kahl.

»Gefällt’s dir eigentlich hier?«, fragte ich zum Abschied.

»Ja, sehr, Buenos Aires ist eine wunderschöne Stadt«, sagte Julio. »Wenn nur die Kriminalität nicht wäre!«

»Wird’s denn schlimmer?«

»Ja.«

»Warum?«, fragte ich. »Zu viele Arme?«

»Nein.«

»Nein?«

»Zu viele Reiche.«

◊◊◊◊◊

Aguas Dulces hat laut Wikipedia »417 Einwohner, davon 215 männliche und 202 weibliche«.

Cristina twittert sich aus

von CHRISTOPH WESEMANN

Diese Präsidentin ist einfach sensationell. Während augenblicklich im ganzen Land Hunderttausende gegen ihre Regierung protestieren und die Oppositionsparteien zum ersten Mal mitmachen, twittert Cristina Fernández de Kirchner (1 872 527 Follower) wie eine Süchtige – und ignoriert den Massenaufmarsch. Stattdessen verkündet sie: »Wir bauen das Gebäude der Kunstschule. Es wird finanziert vom Ministerium für Entwicklung und gebaut von den Arbeitskollektiven.«

Zwischenstand um 21.41 Uhr: 44 Tweets von Cristina in einer Stunde. Nein, die Präsidentin lässt nicht twittern. Sie macht das wirklich selbst.

Clarín, Argentiniens größte Tageszeitung, zählt übrigens live die Massenprotest-Tweets auf Twitter. Ich finde das eine grandiose Idee.

Twitter

Tischlein, leer dich

von CHRISTOPH WESEMANN

Von Berufsratgebern haben wir gelernt, dass vor dem Abflug ins Wochenende unbedingt der Arbeitsplatz aufgeräumt werden sollte. Das erleichtert nämlich den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess am Montag. Und selbst Angestellten, die lieber im Internet stundenlang merkwürdiges Zeug gucken, also andere arbeiten lassen, schenkt ein leerer Schreibtisch am Freitag das schöne Gefühl: Puh, wieder was geschafft.

Und dieser Schreibtisch auf dem Foto? Was für ein Durcheinander, oder? Un quilombo, wie man in Buenos Aires. Was da alles rumsteht an Krempel, Staubfängern und Krimskrams.

Schreibtisch ausschnitt

Der Schreibtisch gehört Cristina Kirchner. Scheint akut messie-gefährdet zu sein, die argentinische Präsidentin, hebt wohl alles auf, was sie auf ihren Reisen zugesteckt bekommt, kann einfach nichts wegschmeißen, ist vielleicht auch der sentimentale Typ, der gern in Erinnerungen schwelgt.

Schreibtisch oben

Mit dem Ding tritt sie auch öffentlich auf, wenn sie ihre gefürchteten, unangekündigten und meist anlasslosen Volksreden mit Überlänge hält, die von den staatlichen Radio- und Fernsehsendern live übertragen werden müssen. Vor einer Woche hat sie sich aber ausnahmsweise kurz gefasst: Über die Flutkatastrophe sprach Cristina nicht einmal 31 Minuten.

Schauen Sie ruhig rein. Wie die Präsidentin bei einself von ganz links das Brillenetui holt, bei zwodreizehn ein Riesenblatt nach rechts auf den Stapel schafft und bei dreineununddreißig das festgetackerte Papier mit buntem Schaubild löst, wie sie fuchtelt und hyperaktiv auf ihrem Thron herumrutscht – all das ist für uns Weihnachts- und Neujahrsansprachendeutsche, die wir an Staatsschauspieler mit vorgeschriebenem Sprechtext auf dem Teleprompter gewöhnt sind, ganz großes Laientheater. Mit Drauflosquatschen. Und Plastikwasserflasche.

Foto: Casa Rosada

Zwischen Che Guevara und Günther Jauch: Meine letzte Woche mit 34 (Teil 1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Das Geburtstagskind, gesehen von Danü

  • Sonnabend: Geklaute Freiheit und der Perso als Kokstablett

Seit einer Woche freue ich mich auf diesen Tag. Die Familie wird ohne mich ins Tigre-Delta fahren und meine Schwiegereltern mitnehmen, die aus Deutschland zu Besuch gekommen sind. Ich habe sehr genaue Pläne für meinen ersten Tag in Freiheit seit einer Ewigkeit: Zunächst werde ich nichts machen, dann zwei Karten für das Fußballspiel am Abend im Stadion von River Plate kaufen und unterwegs etwas essen, das ungesund ist und trotzdem nicht schmeckt. Nahrung hat an einem Tag wie diesem zwei Aufgaben: erstens stopfen, zweitens keinen Abwasch hinterlassen.

Danach werde ich, es dürfte mittlerweile Mittag sein, erst zweieinhalb Stunden schlafen, hernach wieder ein bisschen nichts machen und schließlich warten, dass mein Freund Danü klingelt, der Mann, der so schön zeichnet und überhaupt ein Genie ist.

Leider dreht am Sonnabendmorgen nach dem Aufstehen ein Siebenjähriger durch, und zwar unangekündigt, was – ungeschriebenes Familiengesetz – mein Privileg ist.

»Scheiß Tigre-Delta!«, ruft mein Sohn. »Ich bleib hier.«

»Geht nicht, ich habe schon Pläne.«

Erst soll er mitkommen und will nicht, dann will er mitkommen und darf nicht. Er muss zur Strafe bei seinem Vater bleiben, der daraufhin unangekündigt durchdreht.

Also gehen wir zum Bus, einander anschweigend, diesen Tag haben wir uns beide ja nun wirklich anders vorgestellt, fahren in den Stadtteil Liniers, versöhnen uns unterwegs – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – und kaufen drei Eintrittskarten für den Block von Vélez Sársfield im Monumental.

Und plötzlich ist das ein schöner Tag: Zwei Jungs, die herumalbern und keinen Satz ohne ein schlimmes Wort herausbringen, ziehen durch die großartigste Stadt der Welt. Sie werden ein Mittagessen kochen und kaufen deshalb: Rindersteaks, Champignons, Radieschen, Möhren, Knoblauch, Rosenkohl, Paprika, Erbsen, Mais, Palmherzen, Sahne und Tomatenmark, ein Baguette und Cola.

Zwei Stunden später, noch immer am Herd stehend, werde ich wieder vernünftig. Welch ein Abwasch! Und der, der schläft, ist mein Sohn. In einer Woche werde ich 35, ich müsste auch mal an mich denken.

35.

Plötzlich stelle ich mir die wichtigen Fragen des Lebens. Schmeckt’s wenigstens? Alfred Biolek, der Erfinder des Kochens, würde sagen: »Schmeckt interessant.« Hatte ich heute vielleicht gar keinen Hunger? Warum Radieschen? Für die Story? Mach ich am Ende, was immer ich mache, nur für meine Leser?

Es klingelt.

Danü und ich bemerken schon auf Weg ins Stadion, dass wir nicht dazugehören zum Trupp der Vélezfans. Ringsum werden die verschiedenen Vereinstrikots getragen – oder man ist oben nackt. Wir überlegen einen Augenblick, uns zu entkleiden, warm genug wäre es, dass wir uns nicht erkälten. Aber zwei blasse Jungs ohne Tätowierungen würden ja bloß noch mehr auffallen. »Das nächste Mal bringe ich eine Schablone und einen Filzstift mit«, sagt Danü.

Im Block wird vor uns gekokst – aus dem Tütchen auf den Personalausweis in die Nase – und hinter uns gekifft. Das Spiel ist sowieso zum Vergessen, ein trübes 0:0, das mit anzuschauen wehtut. Ein Viertel der Fans steht mit dem Rücken zum Rasen und singt neunzig Minuten durch. Die Ultras in deutschen Stadien machen das ja auch gern: sich selbst feiern, um bewundert zu werden.

Mein Sohn hängt die zweite Halbzeit am Zaun, singt mit und lässt sich dabei vom Spiel nicht stören. Ich habe Angst, dass er in einem halben Jahr zum Tätowierer will.

  • Sonntag: Der Quizmaster und die Patrioten Lateinamerikas

Transparent zu Ehren der Präsidentin, Plaza de Mayo am 24. März; darauf steht: "Sie ist das Volk"

Stadtbummel mit den Schwiegereltern, dem Sohn und der Eineinhalbjährigen. Vor einer Woche war die berühmte Plaza de Mayo mit dem Präsidentenpalast überfüllt gewesen. Cristinas Jungvolk, also La Cámpora und andere Nachwuchsorganisationen, die der argentinischen Präsidentin aufs Treueste verbunden sind, waren aufmarschiert, um an den Beginn des Militärputsches am 24. März 1976 zu erinnern und die heutige Demokratie zu preisen. Ist es eigentlich ein Widerspruch, dass Cristina Kirchner von Meinungs- und Pressefreiheit selbst nicht viel hält, dass es neuerdings den argentinischen Super- und Elektromarktketten verboten ist, Werbung zu schalten, was vor allem die kritischen Zeitungen trifft, bei denen die Regierung aus Prinzip keine Anzeigen bucht, weil sie lieber ihr ergebene Blätter belohnen will?

Oder bin ich überempfindlich und kompensiere bloß meine Jubelmärsche als Jung- und Thälmannpionier von vierundachtzig bis neunundachtzig?

Heute aber ist die Plaza de Mayo ruhig und die Schlange vor dem Präsidentenpalast lächerlich kurz. Also gehen wir hinein und bestaunen die Galerie der lateinamerikanischen Patrioten im Foyer.

Casa Rosada, der Präsidentenpalast auf der Plaza de Mayo

Galerie der lateinamerikanischen Patrioten im Präsidentenpalast

Hatte die überhaupt einen Namen? Wäre auch eine gute Frage für Günther Jauch. »Wie hieß die erste Ehefrau des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón: A) Aurelia, B) Antonia, C) Augustina, D) Alberta?«

»Herr Wesemann, es geht um 500 000 Euro, alle Joker sind weg, aber ein Porteño auf Lebenszeit, wie Sie sich vorhin ja genannt haben, beantwortet eine solche Frage natürlich im Schlaf.«

Warum ich mich nicht bei Wer wird Millionär? bewerbe – deshalb.

  • Montag: Ein Schwangere und Rothaut Schwiegervater

Ich bin mit Schwiegervater im Baumarkt. Wir brauchen Schrauben für die Sitzbank auf der Terrasse, die vor drei Tagen zusammengebrochen ist. Und Muttern für das Rad des Kinderwagens. Und Öl für die Türen. Aber kein Werkzeug, das habe ich aus Deutschland mitgebracht. Es dauert auch so lange genug, weil sich Schwiegervater zwar in Dingen des Handwerks auskennt, aber auf mich als Verkäuferbefrager und Verpackungsübersetzer angewiesen ist.

Nachdem wir 15 Minuten an der Kasse angestanden haben und endlich an der Reihe sind, winkt der Kassierer eine Schwangere vor. Hat ja nur ein paar Sachen zu bezahlen, Glühbirnen, Blumenerde, und ist schon im siebten Monat. Dicker Bauch. Man sieht den werdenden Vater mit den zwei vollgepackten Einkaufswagen dahinter kaum. Die Frau bedankt sich überfreundlich fürs Vorlassen – wartet aber selbst noch und lässt einen Mann weiter hinten in der Schlange vor. Der bezahlt die 66 Pesos für eine Küchenuhr mit Batterien natürlich nicht bar, sondern mit Kreditkarte, findet seinen Personalausweis erst in der vierten Hosentasche und sammelt auch Punkte. Das deutsche Schwiegervatergesicht verfärbt sich allmählich ins Rötliche.

»Ganz ruhig«, sage ich. »Du glaubst nicht, wie oft deine drei Enkel benutzt und zum Krachmachen überredet werden, damit ihre Eltern vordrängeln können.«

  • Dienstag: Land unter

Die fast Vierjährige wechselt morgen vom Kindergarten in die Vorschule und braucht deshalb eine neue Uniform: zwei Jogginganzüge, zwei Röcke, vier T-Shirts, alles mit Logo. Ich verzichte auf meinen Mittagschlaf und fahre mit ihr im Bus eine Viertelstunde zum Uniformgeschäft. Es ist zwar noch Feiertag in Argentinien, aber die meisten Geschäfte sind trotzdem geöffnet. Dieses nicht. Und viele andere in diesem beliebten Einkaufsviertel auch nicht.

In den Cafés und Restaurants stehen die Stühle auf dem Tisch. Und wenn doch irgendein Laden aufhat, ist er dunkel, und die Besitzer sind barfuß und mit Eimer und Wischlappen unterwegs. Es hat in der Nacht stundenlang und viel zu stark geregnet. Während hier im Norden der Hauptstadt nur der Strom fehlt, werden in La Plata und anderswo in der Provinz Buenos Aires schon die Toten gezählt. Und es regnet weiter.

Eine Tragödie.

Drei Tage Staatstrauer. Wie Anfang März nach dem Tod unseren Freundes Hugo Chávez aus Caracas.

Der zweite Teil folgt morgen – dann mit einem falschen Robin Hood, einem wütenden Klassenlehrer, einer Stirnbeule und einem Deutschen, der von vier Sekretärinnen unsexuell belästigt wird.

Konsequenzen eines Weltereignisverpassers

von CHRISTOPH WESEMANN

Da wird ein Argentinier zum Papst gewählt, sogar ein Porteño1 wie ich, und ich habe vier Kinder in der Wohnung, komme weder weg noch an den Computer. Waren es nicht gestern noch drei Kinder? Ach ja, der beste Freund des Sohnes übernachtet hier. Es wird Pumuckl auf Spanisch geguckt. Und die Frau? Arbeitet wg. Papst aus Argentinien. Aja, klar.

Es ist zum Verzweifeln: Schon bei der großen Regenflut vor ein paar Monaten hatte ich das Haus nicht verlassen können.

Ich bitte Sie deshalb, zu den unten angegeben Terminen das Argentinische Tagebuch unbedingt zu meiden; als Weltereignisverpasser werde ich keinerlei Informationen anbieten können. Planen Sie rechtzeitig die Nachrichtenbeschaffung aus anderen Quellen.

  • 10. September 2013: Auf der 125. Session in Buenos Aires wird der Deutsche Dr. Thomas Bach zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gewählt.
  • 8. Januar 2014: Lionel Messi zum fünften Mal in Folge Weltfußballer
  • 2. März 2014: Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner eröffnet die diesjährige Parlamentssaison mit einer fünfstündigen Rede. Neuer Rekord!
  • 13. Juli 2014 (21 Uhr, MESZ): Anpfiff des Fußball-WM-Finals Argentinien gegen Spanien in Rio de Janeiro
  • 13. Juli 2014 (22.45 Uhr, MESZ): Abpfiff. Argentinien – Spanien 8:0 (Tore: Messi)
  • 14. Juli 2014: Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner beschließt per Dekret, dass zukünftig jeder neugeborene Junge in Argentinien mit Vornamen Lionel heißt (Mädchen: Lionela).
  • 9. Januar 2015: Lionel Messi schon wieder Weltfußballer
  • 3. März 2015: Cristina Fernández de Kirchner eröffnet die Parlamentssaison mit einer dreitägigen Rede.
  • 23. Oktober 2015: Argentinier wählen eine/einen Kirchner zum Staatsoberhaupt.
  • 11. Januar 2016, 8. Januar 2017, 10. Januar 2018: Messi.
  • 11. Januar 2018: Rücktritt von Messi (Grund: Langeweile)
  • 10. Januar 2019: Cristiano Ronaldo zum Weltfußballer gekürt
  1. Bürger der argentinischen Hauptstadt []

Zwischen Schwitzplatz und zu kurzer Rolltreppe: Kreatives Bauen in Buenos Aires und Berlin

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich bin nur Gast in Argentinien, und weil ich keinen Ärger will, drücke ich mich diplomatisch aus: Der Alltag, der ja größtenteils das Leben ist, hat es hier in sich. Wenn sich ein Argentinier für 11 Uhr ankündigt, kommt er um halb zwölf. Frühestens. Ein Deutscher kommt zehn Minuten vor elf. Spätestens. Natürlich, es gibt Ausnahmen, auf der deutschen Seite bin ich das. Im Flugzeug nach Buenos Aires saß ich ohne Uhr, und die Uhr, die ich mir dann an der Plaza Italia gekauft habe, war nach einem Monat kaputt.

In meinen ersten argentinischen Wochen habe ich mich mitunter abfällig über die Subte geäußert. Ich nannte die erste U-Bahn Lateinamerikas (1913) gern eine »überfüllte Sauna auf Gleisen«. So sollte man über eine Hundertjährige nicht reden. Es tut mir heute leid. Ich war noch zu deutsch. Um in der Ferne anzukommen, muss man sich erst von der Heimat entfremden. Irgendwann erkennt man die argentinische Gelassenheit und nimmt sie ein bisschen an. Dieses Volk hat schon viel durchgemacht und wird noch viel durchmachen. Ein Schwitzplatz in der Subte gehört da zum Inventar des Lebens.

Lego

Als jemand, der von Vollkommenheit sehr weit entfernt ist, schaue ich mit wachsendem Stolz meinem Sohn beim Legospielen zu. Seit wir in Argentinien zu Hause sind, hat er das kreative Bauen mit den bunten Plastiksteinchen entdeckt. Er lässt die Baupläne, die er in Deutschland immer benutzt hat, in der Schublade und fängt einfach an. Mal entsteht etwas Kleines, mal etwas Großes, mal die Casa Rosada, mal ein Gefängnis. Man kann das kreative Bauen übrigens auch in Buenos Aires besichtigen. Ich denke dann an meinen Sohn und seine Steinchen, gehe weiter und sage leise: »Das wird schon.«

Und der neue Berliner Großflughafen für 60 000 Passagiere pro Tag? Der wird seit Anfang der neunziger Jahre geplant und hätte im Oktober 2011 eröffnen sollen. Dann am 3. Juni 2012. Dann am 17. März 2013. Dann am 27. Oktober 2013. Inzwischen ist der Start auf unbestimmte Zeit verschoben. Natürlich wird der Airport eines Tages fertig werden. Es ist nur nicht sicher, ob die Menschheit dann noch im Flugzeug reist.

Ach, wenn wenigstens sorgfältig gebaut würde. Aber man hat vieles vergessen, nicht das Allerwichtigste, an Start- und Landebahnen hat man gedacht. Aber es gibt zu wenige Brandschutztüren, eine Rolltreppe ist zu kurz und ein Fußboden beschädigt, weil Gabelstapler drüber gefahren sind, obwohl eine Schutzabdeckung fehlte. Und wenn der Wind aus der falschen Richtung weht, läuft Regenwasser ins Lüftungssystem des Terminals.

Ich lese jetzt überall, dass die halbe Welt über uns lacht, über die perfekten Deutschen mit ihrem inzwischen 4,3 Milliarden Euro teuren Pannenflughafen im Rohbau. Manchem Landsmann scheint das regelrecht peinlich zu. Dabei ist das ein unbezahlbarer Imagegewinn. Wann hat das Ausland denn Deutsche jemals witzig gefunden?

(Diese Kolumne ist erstmalig im Argentinischen Tageblatt erschienen.)

Fast ein halber Castro

von CHRISTOPH WESEMANN

Meine Präsidentin hat übrigens gestern in Buenos Aires die diesjährige Parlamentssaison eröffnet. Cristina Kirchner sprach im Nationalkongress – und zwar nicht eine, nicht zwei und nicht drei Stunden, sondern: drei Stunden und 45 Minuten. Das sind auf dem nach oben offenen Fidelmeter zur Messung der Redelänge fast 0,5 Castro. Der Auftritt wurde natürlich, wie so oft, von allen wichtigen und unwichtigen Fernseh- und Radiosendern live übertragen.

Schauen Sie ruhig rein in den argentinischen Staatszirkus: Cristinas Fans vor dem Kongress, Gesang und Papierschnipsel im Kongress, bis es es aussieht wie bei Hempels unterm Sofa, dann Anfahrt der Limousine. Und schon nach 69 Minuten und 46 Sekunden beginnt die Rede der Präsidentin.

 

Und trotzdem, liebes Spiegel online, das muss nicht sein:

Im Kanzleramt gilt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan als schwieriger Zeitgenosse. Zwar nervt er nicht wie Argentiniens aufgekratzte Präsidentin Cristina Kirchner, die ihre Gesprächspartner gerne in Grund und Boden redet. Aber er ist anstrengend.

(Zitat gefunden von Herrn T.; Fotos: Casa Rosada)

Zwischen Hühnern und Pinguinen

von CHRISTOPH WESEMANN

Cristina Kirchner regiert Argentinien seit mehr als fünf Jahren. Erst im Oktober 2011 wurde sie als Präsidentin wiedergewählt, und 2015 will sie vielleicht abermals antreten, obwohl dafür die Verfassung geändert werden muss. Sollte das nicht klappen, könnte ihre Schwägerin Alicia Kirchner einspringen, derzeit Sozialministerin, und dann 2019 Sohn Máximo übernehmen. Er soll der wichtigste Berater seiner Mutter sein. Bis 2007 hieß das Staatsoberhaupt übrigens Néstor Kirchner, der inzwischen verstorbene Gatte.

Pinguin-TV

Cristina versorgt ihr Volk mit Fleisch und Fußball, also nicht privat, sondern ganz staatlich über die beiden Regierungsprogramme Carne para Todos und Fútbol para Todos. Fleisch für alle sorgt dafür, dass die Preise stabil bleiben. Fußball für alle bringt die Ligaspiele live ins frei empfangbare Fernsehen. Dafür flimmert alle paar Minuten eine Werbebande der Präsidentin der Nation auf dem Bildschirm. Einerseits kosten all diese Wohltaten ein bisschen–allein 110 Millionen Euro die Ligaspiele im TV. Andererseits sind Fleisch und Fußball Grundnahrungsmittel. Wobei für Argentinier Fleisch nur vom Rind kommt. Huhn ist kein Fleisch, sondern, nun ja, Huhn. Ohnehin werden Hühner nicht ernst genommen. Spieler und Fans des vornehmen Hauptstadtklubs River Plate veralbert man als Gallinas, also Hühnchen im Sinne von Feiglingen. Neulich, bei einem Auswärtsspiel, liefen zwei Hühner über den Platz – die gegnerischen Fans hatten ihnen sogar River-Trikots angezogen. Der Anpfiff verzögerte sich um 15 Minuten.

Die Kirchners und ihre Freunde nennt man übrigens Pinguine, weil sie aus Santa Cruz stammen, der Pinguinprovinz im Süden. Dort war Héctor Marcelino García einst Vize-Gouverneur, und eine seiner vier Töchter könnte es noch weiter bringen. María Rocío ist Zahnärztin – und Dauerfreundin des Präsidentensohnes Máximo. Und dass die Frau vom Mann die Regierungsgeschäfte übernimmt, hat bei Kirchners doch Tradition.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

Cristinas Sonnenbrille und Merkels Handtasche

von CHRISTOPH WESEMANN

Es ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, im Land des weltbesten Fußballers zu leben. Mein sechseinhalbjähriger Sohn zum Beispiel kommt obenrum mit zwei Kleidungsstücken aus: Er trägt tagelang Leo Messis Nationaltrikot. Wenn das in die Wäsche muss, nimmt er Messis Barcelona-Trikot. Und wenn das schmutzig ist, dann – genau.

Es ist ein nicht zu unterschätzender Nachteil, in der Stadt zweier weltbekannter und tief verfeindeter Fußballvereine zu leben. Als wir vor einem halben Jahr von Berlin nach Buenos Aires gezogen sind, mussten mein Sohn und ich entscheiden: River oder Boca? Der Nobelklub aus dem Norden oder der Arbeiterklub aus dem Süden? Mein Sohn hat Boca gewählt, obwohl sein Vater wirklich kein Arbeiter ist. Ich weiß gar nicht mehr genau, was für die Bosteros sprach. Gegen die Gallinas sprach jedenfalls das Trikot mit dem roten Diagonalstreifen.

Seine Schulfreunde sind, so weit ich das überblicke, River-Fans – und deren Väter und Großväter natürlich auch. Er hält sich aber bislang tapfer. Nein, er hält dagegen. Ich bin da viel opportunistischer. Sobald ich mit einem River-Fan in Streit gerate und erkenne, dass ich mangels Sprache untergehen werde, bringe ich die argentinische Präsidentin ins Spiel. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen zwei Kontrahenten ist im Augenblick Cristina Fernández de Kirchner.

Für jemanden, der aus Deutschland kommt, ist diese Frau ein Rätsel. Uns Deutschen wäre ihre Art nicht zuzumuten. Zu laut. Zu giftig. Zu grell. Vielleicht will sie manchmal nur Macht demonstrieren, aber der Eindruck, der entsteht, ist eben auch: Die macht, was sie will. Und ein Staatsoberhaupt sollte das gerade nicht: tun, was es will.

Cristina mit Sonnenbrille

Als die Präsidentin neulich Venezuelas erkrankten Staatschef Hugo Chávez in Havanna besucht hat, behielt sie auch in geschlossenen Räumen ihre Sonnenbrille auf. Ich habe zweimal hingeschaut. Cristina, eine Sonnenbrille, keine Sonne weit und breit. In Deutschland würden Politiker, die so etwas tun, für arrogant, verrückt oder betrunken, wahrscheinlich aber für alles auf einmal, gehalten. Das Extravaganteste, das Journalisten an Angela Merkel in mehr als sieben Jahren als Bundeskanzlerin entdeckt haben, ist eine orangefarbene Handtasche, und selbst die kommt nur sehr dosiert zum Einsatz.

Aber vielleicht lerne ich auch, mich an diese extravagante Präsidentin zu gewöhnen, so wie ich ja vieles noch lerne. Manches habe ich auch schon gelernt: dass man Heiligabend in Buenos Aires ohne Strom feiern kann oder dass die Jungs, mit denen ich mittwochs im Parque Norte Fußball spiele, unbedingt mit besos zu begrüßen sind. Bei anderen Dingen hilft es, drei Kinder zu haben, die das Castellano nebenbei erlernen. Wenn ich mit ihnen in der Hauptstadt im Auto unterwegs bin und ein Schimpfwort brauche, weil ich irgendeinen Porteño zurück beleidigen will, wird mir von der Rückbank souffliert. Man kann ja nicht immer boludo rufen.

(Diese Kolumne ist erstmalig im Argentinischen Tageblatt erschienen.)

Zwischen Topfschlagen und Toren von Klinsmann

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe für Kiek an!, die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Journalisten-Verbandes in Mecklenburg-Vorpommern, dem ich angehöre, einen Text gedichtet. Es ist ein sehr langer Text, und deshalb peppe ich ihn mit einem Gewinnspiel auf. Wer errät meinen Scherz, der mich am meisten zum Lachen bringt? Siegerpokal: Mate samt bombilla. Die Lösung bitte in den Kommentarbereich.

Nachtrag: Wacho_Chorro hat erfolgreich gelöst: Argentinier brauchen den Superlativ, wenn sie über sich sprechen: der leidenschaftlichste Fußball, die breiteste Straße, das beste Fleisch, die schönsten Frauen. Nicht alles stimmt, das brasilianische Fleisch ist ja auch nicht schlecht. Konnte wahrscheinlich nur ein Mann drauf kommen.

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Zwischen Topfschlagen und Toren von Klinsmann
Christoph Wesemann, seit fünf Monaten in Buenos Aires, über eine medial omnipräsente Präsidentin und ein Land, das seine besten Jahre hinter sich hat

Argentinien wird von einer Quasselstrippe regiert. Wenn Cristina Fernández de Kirchner den Drang verspürt, etwas sagen zu müssen, schreckt sie auch vor Mord nicht zurück. Die Präsidentin lässt sich unangekündigt auf die Radio- und Fernsehsender schalten, unterbricht das Programm und tötet die Quote. Die Auftritte sind wohl inszeniert, aber so wenig unterhaltsam, dass umgeschaltet wird. Man weiß, was kommt: CFK trägt schwarz, wie sie es seit dem Tod ihres Mannes Néstor vor zwei Jahren immer tut, tupft eine Träne weg und erzählt über ihre Politik nur Gutes.

Eigentlich braucht es einen Grund, eine Krise oder Katastrophe, für die Zwangszusammenschaltung der Kanäle. Aber die Präsidentin hat seit Januar 16 Stunden geplaudert – und in drei Jahren mehr als fünfzigmal. So katastrophal ist nicht mal Argentinien. Ihr Vorgänger, ein gewisser Néstor Kirchner, hielt in vier Jahren nur zwei Reden.

Die Präsidentin – in Zeitungen oft nur Cristina genannt – ist wortgewaltig. Und manchmal sind die Worte stärker als sie. In Jahresansprache Nummer 17 sagte sie, ihre Landsleute sollten sich nicht nur vor Gott fürchten, sondern ein bisschen auch vor ihr. Als sie Ende September in den USA weilte, bestritt sie, dass die heimische Inflation bei 25 Prozent liege, wie inoffizielle Studien behaupten. Bei 25 Prozent würde »das Land in die Luft fliegen«. Dann knöpfte sie sich die bösen Jungs vor. Bei jedem Termin rede sie mit der Presse.

Aber ein argentinischer Journalist fragt mich und fängt gleich an zu schreien. Wenn ihm die Antwort nicht gefällt, schreit er, ärgert sich und tritt gegen die Tür.

Es sprach La Reina, Königin Cristina I.

Die Redakteure von Clarín, der auflagenstärksten Zeitung des Landes, konnten ihr Glück kaum fassen und feierten vier Seiten lang. Eine Rubrik hieß »Cristinas Sprüche und die Fakten«. Ein Fakt: Im Pressesaal der Casa Rosada, des rosafarbenen Präsidentenpalastes, war Kirchner zuletzt am 15. August 2011. Die Feindschaft zwischen dem Medienkonzern Clarín und den Kirchneristen, wie Parteifreunde der Präsidentin genannt werden, steuert auf die Entscheidungsschlacht 7D zu: Bis zum 7. Dezember muss sich Clárin von Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern trennen. So will es ein vor drei Jahren erlassenes Gesetz gegen Medienmonopole. Keiner weiß, was passieren wird. Die Regierung bewirbt das Vorhaben in minutenlangen TV-Spots als Beitrag zur Meinungsvielfalt. Clarín behauptet, knapp gesagt: Der Beitrag zur Meinungsvielfalt kommt doch von uns. Und tatsächlich, viele Blätter und Sender gehören längst Kirchneristen.1

Dabei ist Argentinien – fast achtmal so groß wie Deutschland mit nur halb so vielen Einwohnern – eine Zeitungsnation. Man sitzt im Kaffeehaus, taucht die Croissants, die hier medialunas (Halbmonde) heißen, in die Espressotasse mit dem cafecito und beugt sich über La Nación, das Sportblatt Olé oder eben Clarín. Zeitungen und Zeitschriften gibt es nur am Kiosk, nicht im Supermarkt oder an der Tankstelle.

Die Auftritte der Präsidentin werden bizarrer. Während ihrer USA-Reise wollte sie ihr Gespräch mit den Studenten einer berühmten Universität auf ein höheres Niveau bringen. Heraus kam ein Satz, der mittlerweile ein Klassiker ist: »Chicos, wir sind in Harvard, das sind doch Themen für La Matanza.« La Matanza ist eine Hochschule für die Ärmeren im Speckgürtel von Buenos Aires. Zu Hause schüttelte man den Kopf. Hat sie das wirklich gesagt? Und sie wusste, dass Kameras im Saal sind? »Tiene que ser loca.« – »Die muss verrückt sein.« Und so wird getuschelt. Ist es eine eher harmlose Krankheit, vielleicht Déformation professionnelle? Hat ihr die Macht den Blick für die Wirklichkeit gestohlen? Oder ist es ernst? War Néstors Tod zu viel? Hat die Nummer 1 gar psychische Probleme?

Es wächst der Widerstand. Der Cacerolazo, das Lärmmachen der Mittelschicht mit Töpfen und Pfannen, ist wieder zu hören. Mitte September hat das Land die größten Proteste seit vier Jahren erlebt, allein in Buenos Aires versammelten sich Hunderttausend. »Se va a acabar/Se va a acabar/La dictadura de los K«, sangen sie. »Sie wird verschwinden/Die Diktatur der Kirchneristen.« Der Kabinettschef sprach von einer »Minderheit«. Die Präsidentin selbst sagte: »Ich werde nicht nervös, und die werden mich auch nicht nervös machen.«

Am 8. November, beim nächsten Topfschlagen, waren es in der Hauptstadt schon 700 000 – und vielleicht noch mal so viele im Rest des Landes. »Olele, olala, si este no es pueblo/El pueblo dónde está?«, sangen sie diesmal. »Wenn das hier nicht das Volk ist/Wo ist das Volk denn dann?« Cristina Kirchner sagte, es habe in der Woche zwei bedeutende Ereignisse gegeben: die US-Präsidentenwahl und den Parteitag der chinesischen Kommunisten.

Es ist nicht nur ihre Dauerpräsenz, die für Unmut sorgt, es ist auch ihre Politik. Die Regierung misstraut ihrem Volk und erfindet immer neue Vorschriften. Wer für eine Auslandsreise Dollar braucht, muss einen Papierberg ausfüllen und Intimstes preisgeben. Seit der Fast-Staatspleite von 2001, als die Argentinier ihr Erspartes verloren, ist das Wegtauschen des schlappen Peso Volkssport. Cristina und ihre Leute machen dem ein Ende. Dollar gibt es zum offiziellen Kurs gar nicht mehr, getauscht wird auf der Straße.

Die Schulden wachsen, auch, weil Cristinas Herz groß ist. Die Nationalheilige Evita hat einst Fahrräder, Nähmaschinen, Betten und Gebisse verschenkt oder Geldscheine aus dem Zug geworfen und so den Staatshaushalt ruiniert. Cristina verteilt Wohnungen und erhöht das Kindergeld um 25 Prozent auf umgerechnet 55 Euro. Die Mittelschicht, die viel Arbeit hat und wenige Kinder, schimpft auf die Armen, bei denen es umgekehrt sei. Und dass sich die Präsidentin mit Schurken blendend versteht, Geschäfte mit dem Iran macht und Hugo Chávez zur Wiederwahl in Venezuela beglückwünscht, ist vielen peinlich. Ist doch kein Umgang für das Volk der Dichter und Dirigenten!

Argentinier brauchen den Superlativ, wenn sie über sich sprechen: der leidenschaftlichste Fußball, die breiteste Straße, das beste Fleisch, die schönsten Frauen. Nicht alles stimmt, das brasilianische Fleisch ist ja auch nicht schlecht. Auch die besten Jahre hat man hinter sich. Die Vergangenheit war besser, als die Gegenwart ist und die Zukunft wohl sein wird. Argentinien hatte 1913 ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Deutschland und war als einer der zehn reichsten Staaten der Welt Traumziel europäischer Auswanderer. Zwischen den Weltkriegen begann der Abstieg, sechs Staatsstreiche seit 1930 inklusive. Trotzdem ist man gefühlte Erste Welt, hat die höchste Alphabetisierungsrate Südamerikas (97,2 Prozent) und schaut herab auf die Nachbarn, die sich dafür mit Witzen rächen. »Was ist das beste Geschäft deines Lebens?«, fragen sie. »Kauf einen Argentinier für das, was er tatsächlich wert ist, und verkauf ihn dann für das, was er wert zu sein glaubt.«

Die Tage in Buenos Aires sind lang – und anstrengend sind sie auch. Die 150 000 Busse reichen für die Dreizehn-Millionen-Metropole einfach nicht, und die Subte, die erste U-Bahn Südamerikas (1913), kann in ihrem Alter auch nicht mehr so. Eng ist‘s in ihr und heiß. Händler quetschen sich durch, um Socken und Taschentücher zu verkaufen. Und da sind die zerlumpten, stummen Gestalten, Kinder aus den Elendsvierteln, die einem Klebebildchen aufs Knie legen, damit man ihre Hand nicht zu berühren braucht, und ein paar Münzen verdienen. Allein in der Villa  31, der größten Armensiedlung, sollen 30 000 Menschen leben. Andere kommen nicht mal dort unter und hausen vor dem Parlament oder den Ministerien. Wenn die Präsidentin aus ihrem Palast schaut, kann sie die Schlafsäcke auf der berühmten Plaza de Mayo zählen.

Es ist 21 Uhr, wenn Männer das Wichtige erledigen: Vamos a la cancha! Auf Kunstrasen spielt man fünf gegen fünf unter Flutlicht, jeder im Trikot seines Lieblingsklubs, die Passagiere der aufsteigenden Flugzeuge als flüchtige Zeugen. Ab und zu schießt der Neuzugang aus Deutschland, den sie aus unerfindlichen Gründen Klinsmann nennen, sogar ein Tor. »Muy bien, Kliiinsmann!« Am Ende gibt jeder 25 Pesos (vier Euro) für die Platzmiete. Ja, teuer sind die Tage obendrein.

Schweigen kann Cristina Kirchner übrigens auch. Als im Oktober ein US-Hedgefonds das Marineschiff Libertad in Ghana beschlagnahmte, weil Argentinien seine Auslandsschulden nicht bezahlen will, wartete das Land auf eine Erklärung der Quasselstrippe. Doch von der gab es wochenlang: kein Wort.

  1. Die aktuelle Entwicklung steht hier. []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)