Autorenarchiv

Zwischen Che Guevara und Günther Jauch: Meine letzte Woche mit 34 (Teil 1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Das Geburtstagskind, gesehen von Danü

  • Sonnabend: Geklaute Freiheit und der Perso als Kokstablett

Seit einer Woche freue ich mich auf diesen Tag. Die Familie wird ohne mich ins Tigre-Delta fahren und meine Schwiegereltern mitnehmen, die aus Deutschland zu Besuch gekommen sind. Ich habe sehr genaue Pläne für meinen ersten Tag in Freiheit seit einer Ewigkeit: Zunächst werde ich nichts machen, dann zwei Karten für das Fußballspiel am Abend im Stadion von River Plate kaufen und unterwegs etwas essen, das ungesund ist und trotzdem nicht schmeckt. Nahrung hat an einem Tag wie diesem zwei Aufgaben: erstens stopfen, zweitens keinen Abwasch hinterlassen.

Danach werde ich, es dürfte mittlerweile Mittag sein, erst zweieinhalb Stunden schlafen, hernach wieder ein bisschen nichts machen und schließlich warten, dass mein Freund Danü klingelt, der Mann, der so schön zeichnet und überhaupt ein Genie ist.

Leider dreht am Sonnabendmorgen nach dem Aufstehen ein Siebenjähriger durch, und zwar unangekündigt, was – ungeschriebenes Familiengesetz – mein Privileg ist.

»Scheiß Tigre-Delta!«, ruft mein Sohn. »Ich bleib hier.«

»Geht nicht, ich habe schon Pläne.«

Erst soll er mitkommen und will nicht, dann will er mitkommen und darf nicht. Er muss zur Strafe bei seinem Vater bleiben, der daraufhin unangekündigt durchdreht.

Also gehen wir zum Bus, einander anschweigend, diesen Tag haben wir uns beide ja nun wirklich anders vorgestellt, fahren in den Stadtteil Liniers, versöhnen uns unterwegs – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – und kaufen drei Eintrittskarten für den Block von Vélez Sársfield im Monumental.

Und plötzlich ist das ein schöner Tag: Zwei Jungs, die herumalbern und keinen Satz ohne ein schlimmes Wort herausbringen, ziehen durch die großartigste Stadt der Welt. Sie werden ein Mittagessen kochen und kaufen deshalb: Rindersteaks, Champignons, Radieschen, Möhren, Knoblauch, Rosenkohl, Paprika, Erbsen, Mais, Palmherzen, Sahne und Tomatenmark, ein Baguette und Cola.

Zwei Stunden später, noch immer am Herd stehend, werde ich wieder vernünftig. Welch ein Abwasch! Und der, der schläft, ist mein Sohn. In einer Woche werde ich 35, ich müsste auch mal an mich denken.

35.

Plötzlich stelle ich mir die wichtigen Fragen des Lebens. Schmeckt’s wenigstens? Alfred Biolek, der Erfinder des Kochens, würde sagen: »Schmeckt interessant.« Hatte ich heute vielleicht gar keinen Hunger? Warum Radieschen? Für die Story? Mach ich am Ende, was immer ich mache, nur für meine Leser?

Es klingelt.

Danü und ich bemerken schon auf Weg ins Stadion, dass wir nicht dazugehören zum Trupp der Vélezfans. Ringsum werden die verschiedenen Vereinstrikots getragen – oder man ist oben nackt. Wir überlegen einen Augenblick, uns zu entkleiden, warm genug wäre es, dass wir uns nicht erkälten. Aber zwei blasse Jungs ohne Tätowierungen würden ja bloß noch mehr auffallen. »Das nächste Mal bringe ich eine Schablone und einen Filzstift mit«, sagt Danü.

Im Block wird vor uns gekokst – aus dem Tütchen auf den Personalausweis in die Nase – und hinter uns gekifft. Das Spiel ist sowieso zum Vergessen, ein trübes 0:0, das mit anzuschauen wehtut. Ein Viertel der Fans steht mit dem Rücken zum Rasen und singt neunzig Minuten durch. Die Ultras in deutschen Stadien machen das ja auch gern: sich selbst feiern, um bewundert zu werden.

Mein Sohn hängt die zweite Halbzeit am Zaun, singt mit und lässt sich dabei vom Spiel nicht stören. Ich habe Angst, dass er in einem halben Jahr zum Tätowierer will.

  • Sonntag: Der Quizmaster und die Patrioten Lateinamerikas

Transparent zu Ehren der Präsidentin, Plaza de Mayo am 24. März; darauf steht: "Sie ist das Volk"

Stadtbummel mit den Schwiegereltern, dem Sohn und der Eineinhalbjährigen. Vor einer Woche war die berühmte Plaza de Mayo mit dem Präsidentenpalast überfüllt gewesen. Cristinas Jungvolk, also La Cámpora und andere Nachwuchsorganisationen, die der argentinischen Präsidentin aufs Treueste verbunden sind, waren aufmarschiert, um an den Beginn des Militärputsches am 24. März 1976 zu erinnern und die heutige Demokratie zu preisen. Ist es eigentlich ein Widerspruch, dass Cristina Kirchner von Meinungs- und Pressefreiheit selbst nicht viel hält, dass es neuerdings den argentinischen Super- und Elektromarktketten verboten ist, Werbung zu schalten, was vor allem die kritischen Zeitungen trifft, bei denen die Regierung aus Prinzip keine Anzeigen bucht, weil sie lieber ihr ergebene Blätter belohnen will?

Oder bin ich überempfindlich und kompensiere bloß meine Jubelmärsche als Jung- und Thälmannpionier von vierundachtzig bis neunundachtzig?

Heute aber ist die Plaza de Mayo ruhig und die Schlange vor dem Präsidentenpalast lächerlich kurz. Also gehen wir hinein und bestaunen die Galerie der lateinamerikanischen Patrioten im Foyer.

Casa Rosada, der Präsidentenpalast auf der Plaza de Mayo

Galerie der lateinamerikanischen Patrioten im Präsidentenpalast

Hatte die überhaupt einen Namen? Wäre auch eine gute Frage für Günther Jauch. »Wie hieß die erste Ehefrau des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón: A) Aurelia, B) Antonia, C) Augustina, D) Alberta?«

»Herr Wesemann, es geht um 500 000 Euro, alle Joker sind weg, aber ein Porteño auf Lebenszeit, wie Sie sich vorhin ja genannt haben, beantwortet eine solche Frage natürlich im Schlaf.«

Warum ich mich nicht bei Wer wird Millionär? bewerbe – deshalb.

  • Montag: Ein Schwangere und Rothaut Schwiegervater

Ich bin mit Schwiegervater im Baumarkt. Wir brauchen Schrauben für die Sitzbank auf der Terrasse, die vor drei Tagen zusammengebrochen ist. Und Muttern für das Rad des Kinderwagens. Und Öl für die Türen. Aber kein Werkzeug, das habe ich aus Deutschland mitgebracht. Es dauert auch so lange genug, weil sich Schwiegervater zwar in Dingen des Handwerks auskennt, aber auf mich als Verkäuferbefrager und Verpackungsübersetzer angewiesen ist.

Nachdem wir 15 Minuten an der Kasse angestanden haben und endlich an der Reihe sind, winkt der Kassierer eine Schwangere vor. Hat ja nur ein paar Sachen zu bezahlen, Glühbirnen, Blumenerde, und ist schon im siebten Monat. Dicker Bauch. Man sieht den werdenden Vater mit den zwei vollgepackten Einkaufswagen dahinter kaum. Die Frau bedankt sich überfreundlich fürs Vorlassen – wartet aber selbst noch und lässt einen Mann weiter hinten in der Schlange vor. Der bezahlt die 66 Pesos für eine Küchenuhr mit Batterien natürlich nicht bar, sondern mit Kreditkarte, findet seinen Personalausweis erst in der vierten Hosentasche und sammelt auch Punkte. Das deutsche Schwiegervatergesicht verfärbt sich allmählich ins Rötliche.

»Ganz ruhig«, sage ich. »Du glaubst nicht, wie oft deine drei Enkel benutzt und zum Krachmachen überredet werden, damit ihre Eltern vordrängeln können.«

  • Dienstag: Land unter

Die fast Vierjährige wechselt morgen vom Kindergarten in die Vorschule und braucht deshalb eine neue Uniform: zwei Jogginganzüge, zwei Röcke, vier T-Shirts, alles mit Logo. Ich verzichte auf meinen Mittagschlaf und fahre mit ihr im Bus eine Viertelstunde zum Uniformgeschäft. Es ist zwar noch Feiertag in Argentinien, aber die meisten Geschäfte sind trotzdem geöffnet. Dieses nicht. Und viele andere in diesem beliebten Einkaufsviertel auch nicht.

In den Cafés und Restaurants stehen die Stühle auf dem Tisch. Und wenn doch irgendein Laden aufhat, ist er dunkel, und die Besitzer sind barfuß und mit Eimer und Wischlappen unterwegs. Es hat in der Nacht stundenlang und viel zu stark geregnet. Während hier im Norden der Hauptstadt nur der Strom fehlt, werden in La Plata und anderswo in der Provinz Buenos Aires schon die Toten gezählt. Und es regnet weiter.

Eine Tragödie.

Drei Tage Staatstrauer. Wie Anfang März nach dem Tod unseren Freundes Hugo Chávez aus Caracas.

Der zweite Teil folgt morgen – dann mit einem falschen Robin Hood, einem wütenden Klassenlehrer, einer Stirnbeule und einem Deutschen, der von vier Sekretärinnen unsexuell belästigt wird.

Die Eierkuchen-Komödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Neulich nach dem Fußballtraining mit neun Argentiniern; ein Deutscher, der Klinsmann genannt wird, River-Fan I (Cristian) und River-Fan II (Sebastian)

DER DEUTSCHE. Cristian, ich will am Sonnabendabend ins Stadion von River. Wird es schwer sein, Karten fürs Spiel gegen Vélez Sársfield zu bekommen?

RIVER-FAN I. Könnte schwierig werden.

DER DEUTSCHE. Meinst du denn, es wäre einfacher, am Sonnabendmorgen um zehn nach Vélez zu fahren und dort Karten für den Gästeblock zu kaufen?

RIVER-FAN I. Viel einfacher! Weißt du, Vélez hat nicht so viele Fans wie River, Vélez ist ein kleiner Verein, ein erfolgreicher Verein, der aktuelle Meister, aber klein, ein Verein aus einem kleinen Stadtviertel von Buenos Ai …

RIVER-FAN II. … Vélez ist klein, Cristian. Punkt.

DER DEUTSCHE. Dann kaufe ich die Karten von Vélez.

Kartenkauf vor dem Stadion von Vélez

RIVER-FAN I. Klinsmann, du bist Fan von Boca, gehst ins Stadion von River und stehst im Fanblock von Vélez, weißt du, wie man bei uns Leute wie dich nennt? Panqueque.

Karten

Der unerreichbare Nationalheld und eine kinderfeindliche Hexe

von CHRISTOPH WESEMANN

Uruguays Hauptstadt Montevideo Ende März: Sonnenschein, 25 Grad und Laub auf den Wegen, ist schließlich Herbst. Wie zuvorkommend die Urus sind: Auf dem Unabhängigkeitsplatz haben sie vor die Statue ihres Nationalhelden José Gervasio Artigas eine zusätzliche Stufe gebaut. Danke, sehr freundlich, wir Geschichtsfanatiker und Uns-gern-vor-großen-Männern-Verneiger sind ja doch oft schon ziemlich gebrechlich.

Schauen wir uns den Kerl auf dem Gaul jetzt mal aus der Nähe an, oder? Plötzlich: ein Ton, den man viele Jahre nicht mehr gehört hat. Damals im Sportunterricht war’s, dieser Idiot im Trainingsanzug, der sich seinen Verstand erfolgreich abtrainiert hatte. Was konnte der sich erfreuen an missglückten Turneinlagen. Und eine laute Trillerpfeife hatte er auch.

Die erklingt jetzt wieder, gar dreimal, und ein Mann mit Schirmmütze winkt dazu – Monument betreten verboten. Aha. Man guckt noch zehn Minuten gierig zu, wie ein Tourist nach dem anderen auf die weiße Stufe steigt und zurückgepfiffen wird, und denkt an Funny van Dannen.

Drei Beobachtungen:

1. Der Argentinier ist freundlicher, wobei der Uruguayer auch nicht unfreundlich ist.

2. Der Uruguayer geht langsamer, er schleicht regelrecht, vor allem, wenn er, was er gerne tut, eine Thermoskanne mit heißem Wasser und seinen Mate bei sich trägt.

3. Wenn sich auf dem Schiff von Buenos Aires nach Montevideo eine Frau über Kinderlärm beschwert, singen der Uruguayer und der Argentinier zusammen: »¡Que se vaya, la bruja!« – »Die Hexe soll verschwinden!«

Montevideo Tour

Katzen würden Wacho fressen

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit zunehmender Spieldauer verlor ich den Gästekapitän dann doch etwas aus den Augen, denn wir Bornheimer lieferten eine unvergessliche Fußballgala, ein wahres Fußballfest. Getreu unserem Credo, 6 Bier – 1 Mann, fegten wir die Überraschungsmannschaft VFR Aalen vom Hang. Nachdem ich meinen Puls und meine Emotionen unter Kontrolle hatte, suchte ich Leandro sofort wieder. Er war noch in seiner Fankurve, um dann anschließend ein Interview zu geben. Dies verschaffte mir die notwendige Zeit, mich am Kabinengang zu postieren.

Ich höre manchmal, dass ich zu oft über Fußball schriebe. Mag sein. Ich erlaube mir trotzdem, auf einen – stark testosteronhaltigen – Fußballtext  von Wacho Chorro für das wunderbare Argifútbol-Blog hinzuweisen. Außerdem ist Wacho Chorro mein Stammleser – und ich habe ja gerade einen verloren.

Ein Text über Männer. Und über Katzen. Und über Männer, die Katzen sehr mögen.

Habemus Leser weniger: Papst Franziskus und meine Kolumnen

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich weiß nicht, ob Papst Franziskus in Zukunft noch dazu kommt, meine Kolumnen zu lesen. Als Erzbischof von Buenos Aires hat er jedenfalls keine Kolumne verpasst, oft war Jorge Mario Bergoglio sogar der erste Leser. Nein, ich bilde mir nicht so viel darauf ein; der Mann hat Mitte der achtziger Jahre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt studiert, bestimmt hatte er immer auch Sehnsucht nach reiner deutscher Sprache.

Manchen Text, vor allem, wenn mein Nachbar Pablo darin vorkam, hat Jorge Mario Bergoglio dreimal gelesen. Meine statistischen Daten sind da eindeutig. Und wenn ich auf der Plaza de Mayo war, habe ich aus seiner kleinen Wohnung hinter der Kathedrale, gegenüber vom Präsidentenpalast, sein Kichern gehört – und manchmal durchs offene Fenster auch den Satz: »Dieser Pablo, wunderbar!«

Papst Franziskus (c) Danü

So gesehen bin ich seit der Papstwahl vor einer Woche hin und her gerissen: Einerseits freue ich mich, dass es einer meiner Stammleser ziemlich weit gebracht hat. Und ich gönne es Jorge Mario Bergoglio natürlich von ganzem Herzen, zumal ich ihn für die Idealbesetzung halte. Jemand, der Pablo mag, ist ein guter Mensch, und jeder, der meine langen Texte meistert, muss topfit sein, vor allem körperlich. Andererseits, tja, ist es so, dass ich eigentlich auf keinen Leser verzichten kann. So viele sind es ja nicht. Ich hätte also auch mit einem Papst aus Afrika gut leben können.

Schade finde ich nur, dass Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt nicht noch ein paar Wochen gewartet hat. Wahrscheinlich hätten Jorge Mario Bergoglio und ich uns sonst noch getroffen. Mir fällt ja auf, dass viele Leute in Buenos Aires den Mann, der jetzt Papst ist, schon gekannt haben, als er noch kein Papst war. Klar, er ist oft Subte gefahren, und in der vollen U-Bahn kommt man sich zwangsläufig näher. Außerdem sind neun von zehn Argentiniern katholisch, da hat ein Erzbischof und Kardinal natürlich eine ganz andere Fangemeinde als anderswo.

Obelisk

Papstfanhaus

Ich treffe kaum jemanden, der Franziskus fern steht. Mein Hausmeister fällt mir ein. Dem geht das ganze Gerede vom Papa Argentino auf die Nerven, aber der ist auch nicht katholisch. Außerdem ist er, was die Militärdiktatur betrifft, päpstlicher als der Papst. Die anderen? Schwärmen von seinen Predigten, seinem Händedruck, seiner Bescheidenheit, seinem Einsatz für die Armen, seiner unverkrampften Art. »Er war so warmherzig und hat sich immer nach den Kindern erkundigt«, hat die Frau aus meinem Stammbuchladen gesagt. Oder war es mein Zahnarzt? Wahrscheinlich beide.

Ich glaube trotzdem, dass sich der ein oder andere für ein bisschen Aufmerksamkeit gerade ziemlich an den Papst ranschmeißt. Man sollte niemals jede Geschichte glauben, die einem erzählt wird.

Pablo hat mich gestern gefragt, wann ich endlich eine Papstkolumne schreiben würde.

»Pablo, tut mir leid, aber mir fällt überhaupt nichts Witziges ein.«

»Das hält dich doch sonst auch nicht auf«, sagte er. »Also, wenn du Informationen brauchst, kein Problem. Ich kenne den Heiligen Vater ganz gut.«

♦♦♦♦♦

Die Zeichnung Franziskus‘ stammt natürlich von Danü, der übrigens jetzt auch in Buenos Aires lebt. Den eingefärbten Obelisken habe ich Herrn T. geklaut, der auch über den Papst nachgedacht hat.

Schlechter Riecher vs. kleines Hirn

von CHRISTOPH WESEMANN

Vor dem Estadio José Amalfitani im Stadtviertel Liniers, noch dreißig Minuten bis zum Anpfiff des Ligaspiels Vélez Sársfield gegen Estudiantes

»Christoph?«

»Sí?«

Fehlpässe, Stockfehler (ohne Stock), Flanken hinters Tor, Fernschüsse zur Eckfahne: Vélez Sársfield und Estudiantes werden nichts auslassen. Ein übles 1:1 in einem nur halb gefüllten Stadion. Mein Sohn, sein bester Freund und ich werden uns langweilen. Aber das wissen wir noch nicht.

»Tengo ňœƏƋ◊ ǥǚȫ ȯȹ ɧˁʢʤ ʥʘʙ.«

»Qué?«

Meine beiden siebenjährigen Begleiter werden in der ersten Halbzeit neue Schimpfwörter lernen. Aber das wissen sie noch nicht.

»Tengo ňœƏƋ◊ ǥǚȫ ȯȹ ɧˁʢʤ ʥʘʙ.«

In der zweiten Halbzeit werden sie die Schimpfwörter anwenden auf Stürmer und Stürmerschwester, Torwart und Torwartmutter, Innenverteidiger und Innenverteidigerfreundin, Schriri und Schirigattin. Aber das weiß ich noch nicht.

»Du, was sagt er?«

»Er hat Popel in der Nase.«

Cancha 1

Cancha 2

Cancha 3

Cancha 4

 

Eierzeigen mit dem Sohn

von CHRISTOPH WESEMANN

Als ich gestern Mittag am Stadion des Hauptstadtklubs Vélez Sársfield nach Karten für die Partie heute Abend gegen Estudiantes aus La Plata gefragt habe, hieß es: morgen Früh um zehn.

Vorschriftsmäßig, um kurz nach halb zehn, trafen mein Sohn und ich ein. Wir gingen ein bisschen auf und ab, mein Sohn vergaß zwischendurch dreimal, warum wir hier waren, und als er mich ein viertes Mal fragen wollte, fragte ich ihn:  »Was machen wir hier eigentlich?«

Vélez Cancha

Entradas

Um zehn nach zehn zeigte die Frau aus dem Fanshop dorthin, wo wir gerade eine Dreiviertelstunde gewartet hatten, blickte auf ihre Armbanduhr und sagte: »Der Verkauf hat schon begonnen.« Ich wusste es besser und behielt das ausnahmweise für mich.

Der Schalter öffnete um fünf nach helb elf; es dauerte dann noch 15 Minuten, weil ein Junge vor uns dran war, aber dann hatten wir unsere Karten.

Merke: Vélez ist nicht nur aktueller Meister, sondern auch ein sehr argentinischer Klub. Anpfiff soll um zehn nach sechs sein. Heißt es.

Jetzt muss ich nur noch das Armband der Boca Juniors vom Handgelenk kriegen und mich einsingen:

Es la hora es la hora,
es la hora de ganar.
Ponga huevos Vélez
que tenemos que ganar
y dale dale dale Vélez oh oh oh …

Es ist die Stunde, es ist die Stunde.
Es ist Stunde, um zu gewinnen.
Zeigt mehr Eier, Vélez,
denn wir müssen gewinnen!
Auf geht’s, Vélez …

zitiert nach Argentinischer Fußball auf Deutsch

Konsequenzen eines Weltereignisverpassers

von CHRISTOPH WESEMANN

Da wird ein Argentinier zum Papst gewählt, sogar ein Porteño1 wie ich, und ich habe vier Kinder in der Wohnung, komme weder weg noch an den Computer. Waren es nicht gestern noch drei Kinder? Ach ja, der beste Freund des Sohnes übernachtet hier. Es wird Pumuckl auf Spanisch geguckt. Und die Frau? Arbeitet wg. Papst aus Argentinien. Aja, klar.

Es ist zum Verzweifeln: Schon bei der großen Regenflut vor ein paar Monaten hatte ich das Haus nicht verlassen können.

Ich bitte Sie deshalb, zu den unten angegeben Terminen das Argentinische Tagebuch unbedingt zu meiden; als Weltereignisverpasser werde ich keinerlei Informationen anbieten können. Planen Sie rechtzeitig die Nachrichtenbeschaffung aus anderen Quellen.

  • 10. September 2013: Auf der 125. Session in Buenos Aires wird der Deutsche Dr. Thomas Bach zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gewählt.
  • 8. Januar 2014: Lionel Messi zum fünften Mal in Folge Weltfußballer
  • 2. März 2014: Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner eröffnet die diesjährige Parlamentssaison mit einer fünfstündigen Rede. Neuer Rekord!
  • 13. Juli 2014 (21 Uhr, MESZ): Anpfiff des Fußball-WM-Finals Argentinien gegen Spanien in Rio de Janeiro
  • 13. Juli 2014 (22.45 Uhr, MESZ): Abpfiff. Argentinien – Spanien 8:0 (Tore: Messi)
  • 14. Juli 2014: Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner beschließt per Dekret, dass zukünftig jeder neugeborene Junge in Argentinien mit Vornamen Lionel heißt (Mädchen: Lionela).
  • 9. Januar 2015: Lionel Messi schon wieder Weltfußballer
  • 3. März 2015: Cristina Fernández de Kirchner eröffnet die Parlamentssaison mit einer dreitägigen Rede.
  • 23. Oktober 2015: Argentinier wählen eine/einen Kirchner zum Staatsoberhaupt.
  • 11. Januar 2016, 8. Januar 2017, 10. Januar 2018: Messi.
  • 11. Januar 2018: Rücktritt von Messi (Grund: Langeweile)
  • 10. Januar 2019: Cristiano Ronaldo zum Weltfußballer gekürt
  1. Bürger der argentinischen Hauptstadt []

Pablo und meine einlaufende Wäsche

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich bin quasi allein nach Buenos Aires umgezogen. Natürlich, ich hatte drei Kinder und eine Frau dabei sowie elf Koffer aus Berlin. Elf Koffer klingt viel, aber wie gesagt: drei Kinder, eine Frau. Betten, Tische, Stühle, die Mikrowelle, den Fernseher, Schränke, Töpfe, Pfannen, Teller, Tassen, fast einen ganzen Haushalt, habe ich zurückgelassen. Auch die Waschmaschine. Ja, die Waschmaschine.

Ich wollte hier nicht unsere Berliner Wohnung nachbauen. Zum einen bin ich sowieso ausgeschlossen von allerlei Vergnügen in Buenos Aires, weil ich zum Beispiel als dreifacher Vater nicht nachts durch die Clubs tanzen will – wahrscheinlich würde ich in meinem Alter sowieso an den Türstehern scheitern. Wenn ich schon nicht argentinisch feiere, will ich wenigstens argentinisch wohnen. Zum anderen brauche ich die Garantie, dass ich meine Lieben schnell in Sicherheit bringen kann, wenn es sein muss. Ich will nicht erst einen Spediteur suchen, der das von Uroma geerbte Kaffeeservice nach Deutschland verschifft.

Und Argentinien produziert ja im Augenblick nicht nur gute Nachrichten, ich mache mir durchaus Sorgen. Vielleicht ist’s nicht so dramatisch, wie ich denke, bestimmt übertreibe ich. Aber was soll ich denn davon halten, dass viele Geschäfte für eine Ratenzahlung keine Zinsen verlangen? Ich bin kein Unternehmer, ich kriege ja nicht einmal die Familienkasse anvertraut. Aber ein Produkt zu verkaufen, indem man dem Käufer mitten in einer  Inflation von mehr als 20 Prozent über Monate kostenlos das Geld dafür leiht – auf so einen Gedanken käme nicht mal ich. Klingt das nach guter Konjunktur oder einem gesunden Verhältnis von Angebot und Nachfrage?

Boca immer Junior: schrumpfende Wäsche (Symbolfoto)

Und es kommt vor, und zwar nicht selten, dass die Tankstellen kein Benzin haben. Gewiss, auch das ist kein Grund, Argentinien gleich krankzuschreiben, einerseits. Spätestens nach der fünften Tankstelle ohne kommt ja eine sechste mit Benzin. Anderseits habe ich leere Zapfsäulen zuletzt als kleiner Beifahrer meines Vaters Ende der achtziger Jahre erlebt – in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Staatsführung übrigens ließ von treuen Journalisten – andere gab es nicht – noch Erfolge verkünden, als längst Millionen jeden Glauben daran verloren hatten und Tausende in die Bundesrepublik abgehauen waren. So behauptete die SED-Parteizeitung Neues Deutschland im Sommer 1989, das rapide Wirtschaftswachstum der DDR zeige sich am »steigenden Ausstattungsgrad mit hochwertigen industriellen Konsumgütern wie Waschmaschinen, Kühlschränken, Fernsehgeräten, Pkw usw.«. Ja, auch Waschmaschinen.

Ich vermisse übrigens nichts, was ich in Berlin zurückgelassen habe – also, fast nichts, nur die Waschmaschine, und auch die erst, seit mich mein Nachbar Pablo an sie erinnert hat. Pablo hält mich für den größten boludo de la Capital Federal, nein, eigentlich von Gran Buenos Aires. Wenn wir uns treffen, mal zufällig, mal absichtlich, reden wir über dies und das, über Carlos Gardel und Diego Torres, Messi und Maradona, über die Krise von 2001/02 und den Dólar paralelo1, über die wunderbaren Menschen in diesem Land, an die wir glauben, und die Regierung.

Wir sind selten einer Meinung, und wenn es um mich geht, um mein Leben, dann erst recht nicht. Ich mag ihn trotzdem, weil er sich Mühe gibt, mir Argentinien zu erklären, obwohl ich als Zugewanderter nicht alles begreife. Neulich fragte Pablo: »Du hast in Deutschland eine Waschmaschine und bringst sie nicht mit? Du kaufst lieber eine in Argentinien? Eine argentinische Waschmaschine? Du bist wirklich der größte boludo …«

Seitdem schrumpfen die neu gekauften Klamotten der Kinder mit jeder Wäsche, und ich weiß nicht, warum. Liegt das an Industria Argentina, also an der Waschmaschine oder dem Pulver, dem Wasser oder sogar dem Kleiderstoff selbst? Bin ich, der Trottel made in Germany, bloß zu blöd, das richtige Programm zu wählen? Oder ist alles am Ende Pablos Schuld? Vielleicht bilde ich mir das Schrumpfen der Hemdchen und Söckchen ein – weil mein argentinischer Nachbar meine argentinische Waschmaschine nicht leiden kann.

  1. Ein Dollar kostet nach offiziellem Kurs 5 Pesos, ist aber nicht erhältlich; der Schwarzmarktkurs liegt bei 7,80 Pesos, steigend. Aktueller Kurs des so genannten blue dólar. []

Argentinien auf ITB manipuliert

von CHRISTOPH WESEMANN

Unfassbar, was mit der digitalen Bildbearbeitung heuzutage möglich ist! Da lassen sich hunderte, nein: wahrscheinlich sogar tausende Besucher vom Argentinien-Stand in Halle 1.1. der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin entfernen. Vom Stand des Nationalen Instituts für touristische Werbung! Das ist kein lumpiges Reisebüro – das Nationale Institut für touristische Werbung hat einen richtig originellen Slogan, um Argentinien anzupreisen: Dem Herzen ganz nah. Sag ich doch, richtig originell. Gibt’s auch auf Portugiesisch: Pulsa com você. Und auf Chinesisch心跳与你同步. Und auf Koreanisch: 당신 곁에 살아 쉼쉰다.

Ich habe keine Beweise für die Bildmanipulation. Aber als jemand, der längst argentinisch denkt, weiß ich: Es kann nicht sein, dass sich niemand für das großartigste Land auf Erden interessiert.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)