Archiv für das Thema ‘Alltag’

Leo Messi und die argentinische Volkskrankheit

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Es ist ein Sieg, der Philosophen glücklich macht. Sekunden nach dem Abpfiff hat der argentinische Freund, der gern in Europa leben würde, eine SMS geschickt: »Wir Argentinier warten immer auf den Heiland. Es gibt keine Mannschaft.«

Nur Leo Messi mit seinem Traumtor hat die weißhimmelblaue Nationalelf am Sonnabend vor einem peinlichen Unentschieden gegen Iran bewahrt. Irgendjemand hat mal gesagt: Wenn Diego Maradona Neuseeländer wäre, hätte Neuseeland 1986 in Mexiko den Titel geholt. Die Weltmeisterschaft gewann Argentiniens ewiger Goldjunge mit einer eher durchschnittlichen Mannschaft um sich herum.

 

 

Argentinier folgen gern, und wenn der, dem sie lange gefolgt sind, sie enttäuscht, folgen sie dem Nächsten, obwohl, nein: weil der das Gegenteil verspricht. Er stilisiert sich selbst dann zum Antipoden, wenn er lange dem Enttäuschenden nachgelaufen ist.  Wer ist im Augenblick Argentiniens Oppositionsführer, der Gegenspieler der Präsidentin Cristina Kirchner und einer der aussichtsreichen Kandidaten auf ihre Nachfolge, wenn im Oktober 2015 gewählt wird? Sergio Massa. Wer war Massa? Vor ein paar Jahren arbeitete er als Kabinettschef der Präsidentin, war also Kirchners – zumindest dem Organigramm nach – wichtigster Mann. Er koordinierte ihr die Regierungsgeschäfte. Heute ist er Antikirchnerist und versammelt um sich auch enttäuschte Kirchneristen.

Erscheinungen wie diese – Heiland Messi, Hoffnungsträger Massa – sind auch ein Erbe des dreimaligen Präsidenten Juan Domingo Perón. Mitte der vierziger Jahre beginnt sein Aufstieg, er gibt den Anpacker und Erlöser. Er erkennt, dass er Wahlen gewinnen kann, indem er Massen begeistert: Argentiniens Arbeiter und Argentiniens Arme. Schon vorher als Arbeitsminister hat Perón einen gewaltigen Ruf: Er ist der »Repräsentant eines hemdsärmeligen, informellen politischen Stils«1, der auf demokratische Spielregeln pfeift. Und er hat Evita. Peróns zweite Frau reist durch dieses riesige Land, verteilt Fahrräder, Puppen, Betten, Schuhe und Gebisse, eröffnet Krankenhäuser und Schulen, sie wirft Geldscheine aus dem Zug und ist Trauzeugin Tausender Paare. Wer Evita begegnet, der fühlt sich »vom Zauberstab einer Heiligen berührt«, wie die Journalistin und Buchautorin Silvia Mercado sagt. Ende der vierziger Jahre erhält die Arbeiterklasse zum ersten Mal Rechte: den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, den bezahlten Urlaub. »Perón cumple, Evita dignifica«, heißt die berühmte Parole dieser Zeit. »Perón schafft es, Evita verleiht Würde.«

Peronistische Garde

Vier peronistische Präsidenten und die Erste Dame: Héctor Campora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner (v.l.)

Perón, ein Revolutionär und Populist, hat den Staat vermeintlich allmächtig gemacht. Seine Anhänger singen bis heute, oft unter Tränen: »Perón, Perón, wie großartig du bist!/Mein General, wie wertvoll du bist!/ Perón, Perón, großer Führer,/Du bist der erste Arbeiter!« Doch Argentinien trägt schwer an diesem Glauben. Dass man bis hinauf in die Oberschicht vom Staat viel erwartet (und zugleich von seinen Repräsentanten wenig hält), scheint fast zur unheilbaren, ansteckenden Volkskrankheit geworden zu sein.

Vieles ist geregelt in Argentinien, und was noch nicht geregelt ist, wird es vielleicht bald sein. Ein Gesetz verbietet, dass in der Provinz Buenos Aires – so groß wie Deutschland – im Restaurant Salz auf dem Tisch stehen darf. Argentinier essen nämlich mehr davon als andere und mehr als ihrer Gesundheit gut tut. Also versteckt die Politik den Streuer – in vielen anderen Ländern werden selbst Kinder erwachsener behandelt. (Das Salz ist trotzdem oft auf dem Tisch, aber das ist eine andere argentinische Geschichte.)

Hiesige Politiker haben ein besonders negatives Bild von ihren Untertanen. Präsidenten, Gouverneure (die die Provinzen regieren) und Bürgermeister treten gern wie Familienoberhäupter auf und versprechen, sich um das Wesentliche zu kümmern. Man beruft sich zwar fortwährend aufs Volk, auf dessen Willen, tatsächlich aber geschieht dies ohne die Absicht, echte Mitbestimmung zuzulassen. Politik wird in Argentinien mehr als in Deutschland auf der Straße oder im Viertel gemacht − und zugleich im hintersten Hinterzimmer. Wer Macht hat oder haben will, muss Massen mobilisieren. Wenn die eigenen Anhänger Fußballstadien oder große Plätze füllen (und teilweise angekarrt oder sogar gekauft werden), dann ist das eine Art Plebiszit, eine Volksabstimmung, über die der Anführer seinen Kurs legitimiert, ohne tatsächlich darüber abstimmen zu lassen. Die Parteien und Bündnisse lassen es sich gefallen, solange der Chef Wahlerfolge verspricht.

Vor Jahren schrieb Josef Oehrlein von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Lateinamerika leidet noch immer vor allem unter dem Caudillismo, jener Sucht, die manche Politiker befällt und sie glauben lässt, sie seien die Einzigen, die ihr Land aus dem Elend führen können und die dabei doch hauptsächlich persönliche Neigungen und nicht selten die eigenen Taschen bedienen.

Der Glaube an die Schaffenskraft des Patriarchen wurzelt tief. Schon die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wurden angeführt von Mitgliedern der Oberschicht. Die Befreiung von den Kolonialherren war gerade kein Volksaufstand, kein Umsturz von unten, keine echte Revolution. All die Männer, die bis heute als Befreier fast religiös verehrt werden, ob José de San Martín oder Simón Bolívar, waren fast ausnahmslos Söhne aus dem Großbürgertum. Nicht einmal Che Guevara, der Posterboy der Antifaschisten und Antiimperialisten, kam aus der Arbeiterklasse.

»Alles hängt von Messi ab«, sagen viele in Argentinien. Aber Messi ist − anders als Maradona 1986 − nicht in der Form seines Lebens, und selbst wenn er’s wäre: Neuseeland würde mit ihm heute niemals Weltmeister werden. Der Fußball des 21. Jahrhunderts ist komplex, taktisch viel durchtriebener; die Superstars, ob Cristiano Ronaldo, Neymar oder Messi, werden notfalls 90 Minuten lang von drei Gegenspielern gestört. Dann eröffnen sich zwar Räume für die Kameraden ringsum, aber diese Freiheit muss erkannt und ohne Angst genutzt werden. Erinnert man sich nach 180 argentinischen WM-Minuten an irgendeine besondere Szene von Kun Agüero oder Gonzalo Higuaín, Ángel Dí María oder Javier Mascherano, allesamt zentrale Spieler großer europäischer Klubs? Nein, sie haben Messi nicht entlastet.

Dem Anführer ist außer den zwei Wahnsinnstoren bislang wenig gelungen. Man kann sich vorstellen, wie es ohne Treffer um Leo Messi augenblicklich stünde in Argentinien.

BuchIch habe im vergangenen Jahr den Aufsatz »Evita Perón – Die Heilige, die nicht sterben darf« geschrieben. Erschienen ist er im Buch »Oh Du geliebter Führer. Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert« (Ch. Links Verlag). Das Zitat der argentinischen Journalistin Silvia Mercado entstammt dem Interview, das ich mit ihr geführt habe.

  1. Birle, Peter: Parteien und Parteiensystem in der Ära Menem – Krisensymptome und Anpassungsprozesse, in Peter Birle/Sandra Carreras (Hrsg.). Argentinien nach zehn Jahren Menem, Wandel und Kontinuität. Frankfurt am Main 2010, S. 215-216 []

Bekommt der Floh die kleine Pfeife?

von CHRISTOPH WESEMANN

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Wir bereiten uns allmählich auf Argentinien gegen Iran vor. Angepfiffen wird unser zweites Gruppenspiel am Sonnabend um 18 Uhr deutscher Zeit; wir sind fünf Stunden zurück und müssen deshalb die heilige Siesta ausfallen lassen. Das Deutschlandspiel im Anschluss werden wir deshalb wohl verschlafen.

Wir sollten noch das knappe 2:1 gegen Bosnien und Herzegowina vom vergangenen Sonntag aufarbeiten.

Hmmmh. Tja. Puh.

Reicht.

 

Ich habe wegen meiner Marketingprüfung noch etwas Trainingsrückstand und kann deshalb nur Quergelesenes aus dieser Woche anbieten. Das große Thema scheint mir die Taktik des Nationaltrainers Alejandro Sabella zu sein. In der WM-Qualifikation hatte Argentinien oft mit dreieinhalb Angreifern gespielt, also ungemein offensiv: Sergio Agüero, Gonzalo Higuaín, Leo Messi und Ángel Di María. Es war auch das Quartett der schönen Spitznamen: Agüero hieß Gottes Schwiegersohn (el Yerno de Dios), als er noch mit Diego Maradonas Tochter verbandelt war, und wird inzwischen nur noch Kun gerufen; Higuaín ist die kleine Pfeife (Pipita), weil die große Pfeife schon sein Vater war, als Fußballer Ende der achtziger Jahre in Frankreich. Messi ist der Floh (la Pulga) und Di María die Bohnenstange (el Fideo). Ihr Trainer heißt angeblich el Mago, der Magier.

Hinreißend sah es mitunter aus, was die Jungs miteinander anstellten, und erfolgreich war es auch: Argentinien gewann die Südamerikagruppe vor Kolumbien und Chile. Messi (10), Higuaín (9) und Agüero (5) schossen zusammen 24 der 35 Tore.

Messi liebt diese offensive Variante, und der Kapitän hat Einfluss wie lange kein Spieler mehr in der himmelblauweißen Auswahl. Gegen Bosnien und Herzegowina aber standen fünf Verteidiger in der Startelf; Higuaín saß auf der Bank und ließ Messi mit Agüero allein. Erst nach der schwachen ersten Halbzeit reaktivierte Sabella den Traumangriff. Es wurde besser. Ein bisschen.

Und nun? Beginnt Argentinien gegen Iran ein zweites Mal mit fünf Verteidigern? Oder lässt sich Sabella von Messi bequatschen und kehrt zum vertrauten System zurück? Der Floh hat das Mündchen ordentlich aufgerissen: »Wir sind Argentinien, wir müssen uns nicht nach dem Gegner richten.« Der Satz geht uns natürlich runter wie Mate. Wir haben die großartigste Offensive der Welt – warum sollten wir sie zerpflücken? Um noch einen durchschnittlichen Abwehrspieler zu bringen? Wir haben doch schon vier davon.

Hier wird jedenfalls bis zum Ende an Argentinien geglaubt – und falls das Ende das Viertelfinale sein sollte, werden wir schon immer gewusst haben, dass es nichts werden kann. Nicht mit diesem Trottel, der noch nie einen großen Verein trainiert hat. Nicht mit dieser Taktik. Nicht ohne Carlitos Tévez, dem Spieler des Volkes. War doch abzusehen von Anfang an.

Mehr kann ich als Analyse vorerst nicht bieten. Aber ich habe in einem Blitztransfer Alex Belinger vom Fußballblog Cavanis Friseur ausgeliehen (und leider vergessen, eine Option zu vereinbaren, damit ich ihn später in diesem Turnier noch mal einsetzen kann). Alex, geboren 1994, ist Österreicher und hat trotzdem Ahnung von Fußball. Sehr viel sogar. Und er liebt die italienische Liga, in der sieben unserer Jungs unterwegs sind: Hugo Campagnaro, Ricardo Alvarez und Rodrigo Palacio (alle Inter Mailand), Federico Fernández und Higuaín (beide SSC Neapel), Lucas Biglia (Lazio Rom) und Mariano Andújar (Catania Calcio).

Also fragen wir ihn mal.

Alex, Argentinien wird Weltmeister, nicht wahr?

Das würde mich freuen, es wird aber schwer. Das erste Spiel hat ja nicht besonders viel Hoffnung gemacht. Das 5-3-2 – ich nenne es eigentlich lieber 3-5-2, weil das nicht ganz so defensiv klingt – ist in Italien sehr verbreitet, dort spielen die meisten Mannschaften so. Aber das argentinische 5-3-2 gegen Bosnien hat überhaupt nicht funktioniert.

Die Anbindung der Offensive hat gar nicht geklappt. Das Mittelfeld war wohl etwas zu defensiv, so dass Agüero und Messi vorne auf sich alleine gestellt waren. Messi wurde dadurch oft in eher weniger erfolgreiche Dribblings gezwungen. Nach dem Umstellungen in der Halbzeit funktionierte das Spiel Argentiniens weitaus besser.

Dann kehren wir zum alten System zurück und werden Weltmeister.

Das 4-3-1-2 funktioniert deutlich besser, hat aber auch Nachteile. Problematisch ist die fehlende Defensivarbeit von Messi, Agüero und Higuaín. So etwas kann man sich bei einer WM wohl nicht leisten. Gegen Iran und Nigeria kann zwar man so spielen, gegen stärkere Gegner könnte dies aber Probleme bereiten.

Nehmen wir an, Argentinien schafft es nicht. Wer dann?

Ich weiß selber kaum, welcher Mannschaft ich den Weltmeistertitel am meisten zutrauen würde, so wirklich überzeugt mich niemand. Ich würde mich natürlich über Italien sehr freuen. Italien hat mir im Eröffnungsspiel gegen England auch sehr gut gefallen. Die Italiener sind wohl nicht die Mannschaft mit den stärksten Einzelspielern, sind aber top eingestellt und kommen durch ihre Spielweise wohl auch mit den teilweise schweren klimatischen Bedingungen gut zu recht. Ich bin bei Italien also recht optimistisch.

Sag noch was zu Carlos Tévez, der auch in Italien spielt. Er hatte bei Juventus eine stark Saison. Hättest Du den Apachen zur WM mitgenommen?

Carlos Tévez ist ein super Fußballer. Die Aufregung um seine Nicht-Nominierung kann ich aber nicht ganz nachvollziehen. Agüero und Higuaín können ja auch halbwegs kicken, zudem bin ich ein großer Fan von Palacio. Wer solche Stürmer hat, kann es sich wohl auch leisten, auf einen so schwierigen Charakter wie Tévez zu verzichten.

Alex Belinger ist einer von vier Autoren des Blogs Cavanis Friseur, das übrigens auch tolle Fußballfotos zeigt.
Twitter: @alexbelinger

 

Andrés, San Iker und der Brunnen vor meiner alten Wohnung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

Das ist der traurigste Tag eines langen Fußballlebens.

Ich habe sie 2006 bei der WM in Deutschland aussteigen sehen. Und dann aufsteigen. Jedes Vorbereitungsspiel auf die EM 2008 habe ich mitgemacht. Habe stundenlang Luis »el sabio« Aragonés interviewt, den inzwischen in die ewigen Strafräume eingegangenen spanischen Trainer, den sie den Weisen nennen. Habe verstanden und akzeptiert, warum Raúl, der die Nummer 7 bei Real Madrid hatte, als Cristiano Ronaldo noch im Internat Stühle nach seiner Lehrerin geworfen hat, nicht mehr mitmachen durfte. Ich war Zeuge der Geburt von Tiki-Taka. 33 Spiele lang ungeschlagen.

Dann kam das Turnier 2008. Pässe, bei denen wir vor der Glotze vor Glück niedergekniet haben. Geistesblitze aus dem Mittelfeld, die dem Gegner nur so um die bleischweren Beine gezuckt sind. Paraden von San Iker, dem größten Fußballgott seit Toni Turek. Nach dem Elfmeterschießen im Viertelfinale (mein Gott, ich muss den Text bei meinem Auftraggeber abliefern. Aber das habe ich jetzt doch noch dreimal angeschaut!!) bin ich der Bürgerinitiative »Calle de la madre que parió a Iker Casillas« beigetreten, die einen Straßennamen für Ikers Mutter im Madrider Vorort Mostoles gefordert hat.

 

Sprints von Fernando »El Niño« Torres, der die deutsche Abwehr einfach überlaufen hat. Der deutsche Verteidiger hieß übrigens Lahm. Und sah auch so aus.

Nach dem Finale musste ich in den Brunnen vor meiner damaligen Wohnung in Madrid steigen, um die Fans zu interviewen. Nie wieder habe ich so viel sympathischen und unverstellten Stolz auf ein Fußballteam erlebt. Dieses Team war ein Vorbild: Seit »el Niño« Torres bei Liverpool und später bei Chelsea vom fußballverliebten Kind zum fußballspielenden Mann gereift ist, hat jeder Spanier unter 30 begriffen, dass es nicht schadet, auch die Welt auf der anderen Seite der Pyrenäen ein bisschen kennenzulernen.

2010, Südafrika. Niemand hat wirklich an den Titel geglaubt. Außer mir. Vor meinem Kölner Balkon wehte die spanische Fahne. Der Spott der Sportkollegen, nach dem 0:1, das die Schweiz San Iker ins Tor gestolpert hatte, war kurz. Aber heftig. Dann lief die Ballmaschine wieder. Und konnte im entscheidenden Moment auch mal alle Eleganz kurz weglassen: Carles Puyol, die Abrissbirne im deutschen Strafraum, mit dem 1:0. Dann Finale. Gegen kloppende Holländer. Robben hatte sich damals noch nicht im Griff. Dafür hatte Andrés Iniesta, der wachsbleiche Engel aus einem Ort in der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, den Fuß an der richtigen Stelle.

Weltmeister.

 

Irgendwann, während der Eröffnungsfeier der EM 2012, plötzlich dieses komische Gefühl im Bauch. Erster Gedanke: Das ist die chemisch-verpanschte Plörre aus Quilmes, die der Argentinier Bier nennt. Zweiter Gedanke: Psalm 33, 11: »Aber der Ratschluss des Herrn bleibt ewiglich.« Heißt: Alles andere vergeht. Auch große Mannschaften. Über dem 2012er-Titel schwebte schon eine dunkle Wolke wie eine Warnung. Xavi »el profesor« Hernández zeigte erste Abnutzungserscheinungen. Körperlich. Und auch geistig.

Aber nach dem Finale stand ich mit der spanischen Fahne über den Dächern von Buenos Aires und hab’ den Balotelli gemacht.

Haha! Scherz!

Es musste so kommen. Dieser 18. Juni 2014 war unvermeidlich. Absehbar. Nicht nur, weil der verhaltensauffällige Trainergeck José Mourinho Iker Casillas bei Real Madrid zermürbt hat. Nicht nur, weil Xavi mehr Spritzen in den Achillessehnen hat als ich Haare auf dem Kopf. Nicht nur, weil Diego Costa, der plumpe Stoßstürmer alter Schule, im eleganten Salon des spanischen Fußballs allenfalls den schönen Teppich zertrampelt. Nein, es war einfach Zeit. Es hätte nicht jetzt sein müssen. Und auch nicht so. San Iker, der durch die Grashalme krabbelt. Sergio Ramos mit Doppelklebeband unterm Schuh, der Robben hinterherschaut. Aber irgendwann musste es sein.

Oliver Pocher, ein deutscher TV-Moderator und auch sonst von mäßigem Verstand, hat nach dem Spiel gegen Chile getwittert:

 

Auch von Fußball versteht er nichts. Denn Spanien kommt wieder. Aus den Fußballschulen wird die Generation Tiki-Taka 2.0 erwachsen. Zu viele Jungs zwischen Málaga und A Coruña, zwischen Valencia und Badajoz haben in den letzten acht Jahren gesehen, was schöner, moderner Fußball ist.

Und wer hat’s erfunden? Eben. Und nicht die Schweizer. Wir sehen uns 2016. Nach dem Finale. Im Brunnen vor meiner alten Wohnung in Madrid.

Te queremos de todo corazón, Furia Roja.

Mein Professor, ein Gorilla?

von CHRISTOPH WESEMANN

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Bei Bedarf bin ich Deutscher.

Normalerweise gebe ich mich in Buenos Aires nicht zu erkennen, und falls ich ertappt werde, versuche ich, meinen Akzent zu überstimmen: »Cheeeee boludo1, ich bin Argentinier, la puta madre.« Seit Montagabend wehre ich sogar die Glückwünsche für das 4:0 gegen Portugal ab. Der Bäcker, der Fleischer, der Friseur, der Blumenmann und sämtliche Nachbarn: Die Männer im Viertel, mit denen ich zu tun habe, sind begeistert von der deutschen Mannschaft. (Dass sie das Spiel gesehen haben, obwohl der Anpfiff bei uns um 13 Uhr war, verrät übrigens auch manches über Argentinien.)

Müllertollfinder, wohin man schaut und hört. So einen hätten sie auch gern.

Ich habe das Spiel nicht mal geguckt; ich saß stattdessen mit Marketing (und mit Mate natürlich) auf der Terrasse, was auch manches über mich verrät: Vielleicht brauche ich einfach ein bisschen länger, um Sachen zu begreifen und zu behalten. Außerdem hatte ich es befürchtet: dass die Deutschen gut sein würden, viel besser wir am Vorabend beim tristen 2:1 gegen Bosnien und Herzegowina.

Ich setze trotzdem auf Argentinien, ich nehme sogar so Heimaturlaub, dass ich als Weltmeister in Berlin lande und im weißhimmelblauen Trikot von Diego Maradona ein Taxi winke. Und ich habe meinem Sohn versprochen, mir ein Tattoo stechen zu lassen. Ich weiß noch nicht, von wem oder von was, ob vom Dicken, von Che, den Malwinen oder doch vom Siegtorschützen im Endspiel, also Leo Messi, ist doch auch egal.

Ich will den Pokal. Und Messi braucht ihn, um zum größten Spieler der Geschichte aufzusteigen, was den tollen Nebeneffekt haben wird, dass sich zwei Männer besonders ärgern: Pelé, die brasilianische Marionette, und der Schöne Cristiano Ronaldo aus Portugal.

Außerdem: Wenn ich schon mal in Argentinien bin, dann doch bitte nicht Deutschland.

Mein Zeitungsverkäufer im Viertel wurde regelrecht ungehalten. »Ist ja toll, dass es dir bei uns gefällt«, sagte er. »Nur, mein Freund: Deine Heimat ist Deutschland. Deutschland ist deine Heimat.«

Cheeeeee bolu…

Aber bei Bedarf bin ich Deutscher. Gestern Abend war Bedarf.

Ich saß mal wieder im Raum 5.5. der Universität Palermo und versuchte mich am dritten Marketingexamen. Es stand 1:1 zwischen mir und der Wissenschaft: Einmal war ich durchgefallen, einmal hatte ich bestanden. Nun, ein paar Minuten nach acht, kam die Aufgabe 9. Ich brauchte nur die ersten vier Wörter zu lesen und wusste: Das Thema wirst du nicht finden in deinem Kopf.

Die meisten Studenten hatten längst abgeben, Raum 5.5 war fast leer. Sergio, der Professor, hatte Damenbesuch, wahrscheinlich eine Kollegin, sie plauderten und lachten und erledigten Anrufe.

Nur noch die Klassenschönste war da. Und ich. Und Aufgabe 9. Keine Chance. Man geht natürlich in sich, bedauert, den Stoff nicht gelernt zu haben, gelobt sich selbst Besserung, man trägt so was also mit Fassung, mit Würde.

Oder man beklagt sich beim Professor, und zwar schriftlich, dass man dieselben schwierigen Fragen bekommen habe wie die Argentinier. Man schreibt also anstelle der Lösung unter die Aufgabe Nummer 9: »Es gab Zeiten in Argentinien, da wurden Deutsche besser behandelt. ¡Viva Perón!«

 

Mein Freund Pablo ist stolz auf mich. »Dafür musst die volle Punktzahl bekommen«, sagt er. »Tja, es sei denn, dein Professor ist ein Gorilla. In dem Falle brennt dir der Kittel.«

Gorillas werden in Argentinien die Feinde des Peronismus genannt – von Peronisten.

Eine Mitternachts-SMS von M., dem anderen Deutschen in Buenos Aires:

Das heißt, es war Mörderspitze, und Du gehst mit Note 82 raus – zwei Punkte Abzug wegen Perón-Ironisierung. Felitaciones! Wie heißt eigentlich die Haartönung, in die Dani Alves gefallen ist? Und die Vokuhila von Neymar hat jetzt Unterschnitt.

 

 

  1. Hey Schwachkopf! []
  2. 2,0 []

WM-Gezwitscher (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

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Vaters Tag

von CHRISTOPH WESEMANN

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Sonntag, 15. Juni 2014: Día del Padre, argentinischer Vatertag  — und die Mutter muss arbeiten.

Papa soll Frühstück machen.

Papa soll für die Marketingklausur am Dienstag lernen.

Papa darf nicht vergessen, dass er schon einmal durchgefallen ist.

Papa darf die Kinder nicht schon am Sonntagmorgen vor den Fernseher setzen.

Papa soll mit den Kindern auf den Spielplatz gehen.

Papa soll dem Jungen da die Schippe wegnehmen. Die gehört uns.

Papa muss anschubsen.

Papa kann dem Jungen da die Schippe nicht wegnehmen. Die gehört uns doch nicht.

Papa soll beim Pinkeln helfen.

Papa soll von der Wippe aufstehen.

Papa darf nach dem Mittagessen nicht einschlafen.

Papa soll für die Marketingklausur am Dienstag lernen.

Papa darf nicht noch mal durchfallen.

Papa soll nicht schon wieder »hijo de puta«, »la puta que te parió« und »la puta madre« sagen.

Papa will endlich die Aufstellung erfahren.

Papa soll mit den Kindern bestimmt schon wieder auf den Spielplatz gehen.

Papa darf sie immer noch nicht vor den Fernseher setzen.

Papa kann aber sehr gut lügen.

Papa kann natürlich auch sehr gut tanzen. Aber nicht jetzt.

Papa soll die Kinder baden.

Papa muss sie überreden.

Papa kann auch schreien, um zu überreden.

Papa soll aber nicht schreien.

Papa will Bier trinken. Oder Fernet mit Cola. Hauptsache, Alkohol.

Papa will nachher Argentinien gegen Bosnien und Herzegowina gucken.

Papa darf drei Gesichter blau und weiß anmalen.

Papa muss Abendessen machen.

Papa darf schon mal den Fernseher anschalten lassen.

Papa kann auch anders.

Papa muss Schulbrote schmieren.

Papa kann Argentinien gegen Bosnien und Herzegowina gucken (wenn jetzt endlich alle aufhören rumzuspinnen!).

Papa kann den Abwasch nicht länger stehen lassen.

Papa muss ungefähr 60 Zähne putzen.

Papa muss drei Kuscheltiere, diese verdammten Hurensöhne, finden.

Papa soll sich entschuldigen.

Papa soll mit einschlafen.

Jetzt wollte Papa Argentinien gegen Bosnien und Herzegowina gucken.

WM-Gezwitscher (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

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Unheilbar kranke Lehrer

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich mag Lehrer nicht besonders. Aber ich bin auch Arztsohn, und ein Arztsohn lernt früh, dass Lehrer seltsame, ja schwierige Wesen sind. Lehrer wissen alles besser, sie bringen, wenn sie krank sind, zur Untersuchung eine fertige Diagnose mit – und lassen daran auch nicht rütteln. Sie behandeln Ärzte wie Schüler. Sagen Ärzte. Der medizinische Fachausdruck für diese kaum heilbare Krankheit lautet: morbus teacher.

mit den studenten spiele ich immer beruferaten, die sind immer völlig verblüfft wenn man nach 2min gespräch mit gewichtiger mine sagt, »der patient ist lehrer« – wie lange braucht ihr (ohne blick auf den versicherungsstatus) einen lehrer zu diagnostieren.

Unkorrigierter Kommentar im Forum aerzteblatt.de

Vor ein paar Tagen habe ich Juan getroffen, den Klassenlehrer meines Sohnes im vergangenen Schuljahr. Ich wollte, nein: musste zum Gespräch mit der aktuellen Lehrerin des Achtjährigen, fand aber den Klassenraum der 3B nicht. Zum Glück stand Juan auf dem Flur. Ich begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, mit cheeeeeeeeeeee und Wangenkuss. Aber das Zusammenleben in Argentinien, und besonders das in Buenos Aires, ist nun einmal weniger formal als in Deutschland.

Juan fragte: »Wir kennen uns noch nicht, oder?« Es klang ein wenig vorwurfsvoll, so, als habe er nie eine Chance gehabt, mich kennenzulernen.

»Doch! Doch!«

Ich räume ein: Wir kennen uns nicht sehr, also nicht von Elternabenden, denn die verpasse ich immer, und auch nicht von anderen Veranstaltungen. Die Schule bietet ja allerlei an, Lesungen, Konzerte, hin und wieder sogar einen Spaziergang durchs Viertel auf den Spuren von irgendwas oder irgendwem. Sie meint es sicher gut, und es gibt auch viele Eltern, denen das gefällt, vor allem jenen Müttern und Vätern, die hier einst auch Schüler waren. Es sind die Eltern, die beim Schulfest am Nationalfeiertag nicht bloß das Kulturprogramm der Klasse filmen, sondern auch selbst mitspielen, verkleidet, versteht sich, als historische Figuren, mit Zylinder und angeklebtem Bart.

Aber ich hatte Juan vorher schon einmal auf die Wange geküsst – an dem Abend nämlich, an dem mein Sohn von der Klassenfahrt zurückkam und mir sein Lehrer Ruck- und Schlafsack aus dem Gepäckfach holte.

»Sag noch mal: Wer bist du?«

Irgendwann hatte ich meinen Sohn mal nach Juans Lieblingsfußballklub gefragt, ein Vater will ja wissen, wer auf seinen Erstgeborenen losgelassen wird. Die Insiderinformation machte ich mir jetzt zunutze.

»Du bist von Argentinos, ne? Ihr seid ja gerade abgestiegen. Tut mir leid. Echt.«

Aus Juans Mund kam nur noch ein Knurren. Er schwieg, bis er mich im Klassenraum der 3B abgegeben hatte.

Vor ein paar Stunden habe ich Sergio geschrieben, dem Professor meines Marketingkurses an der Universität Palermo. Es ist nämlich so, dass man sich am kommenden Dienstag an der ersten Klausur noch einmal versuchen kann. Aber dafür muss man die zweite Klausur vom vergangenen Dienstag bestanden haben. Und um nicht umsonst zu lernen, habe ich bislang noch nicht gelernt. Falls ich aber die erste Klausur wiederholen darf, weil ich die zweite bestanden habe, sollte ich allmählich anfangen.

Sergio hatte mir das Ergebnis für »Ende der Woche, schätze ich« angekündigt. Heute ist Sonnabend. Zeit, per Mail ein bisschen Druck zu machen:

Hallo Sergio!

Wie geht es Dir? Ich würde gern wissen, ob das Ergebnis schon da ist. Es wäre für mich als Familienoberhaupt enorm wichtig. Drei Kinder erhoffen mein Scheitern, um am Wochenende mit mir spielen zu können. (Nur meine Frau hofft auf einen Erfolg, um nicht mit mir spielen zu müssen, hahaha.)

Verstehst Du?

Grüße, Christoph

(Übersetzt aus dem Spanischen)

Die Antwort von Sergio:

Christoph, Du hast sehr gut gerechnet und erklärt. Note 6. Ich erwarte Dich am Dienstag.

Einige gewinnen und einige verlieren leider mit Deiner bestandenen Prüfung, hahahaha.

Schönes Wochenende!

Argentinien hat das Notensystem 10 (100 Prozent richtig) bis 1 (10 Prozent und darunter). Note 6 bedeutet im Grunde: gerade so durchgekommen. Aber ich bin ja Ausländer. Da entspricht die 6 mindestens einer 9. Ich werde also für Dienstag gar nicht viel lernen müssen. Ich liebe diesen Professor.

Ärzte mag ein Arztsohn übrigens auch nicht besonders. Warum? Weil er zu oft gehört hat: »Was tut weh? Wo? Hier? Ach, stell dich nicht so an!«

 

WM-Gezwitscher (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs (gezeichnet von Daniel Schlierenzauer)

 

 

 

 

 

Der Papierkamerad mit den sehr blöden Daumen

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Gleich werden die Kinder anfangen, aus alten Zeitungen Papierschnipsel zu machen. Die brauchen wir am Sonntag um kurz vor 19 Uhr argentinischer Zeit.

Für meinen Sohn ist’s auch eine Strafarbeit, weil er bei dieser WM die Daumen blöde drückt. Seine Mutter hat es ihm erlaubt.

»Mama, ich wäre gern für Deutschland.«

»Das kannst du doch.«

»Aber Papa hat’s mir verboten.«

Ja, natürlich. ¡Vamos Argentina!

¡Mehr Papierschnipsel, hijo! ¡Mehr! ¡Viel mehr!

 

(Werbung aus Argentinien zur Fußball-WM 2006 in Deutschland)

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)