Archiv für das Thema ‘Fußball’

Robinson Wese, ein Katzenfresser und eine Fähre, die nicht kommt: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Paraguay (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Letzter Tag: Formosa (Argentinien) − Alberdi (Paraguay)

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Wir Menschen sind so. Wir wollen seit Urzeiten erfahren, was da am Horizont schimmert, wie es hinter dem Berg aussieht, der uns den Blick verstellt, und wer am anderen Ufer lebt. Schon unsere Vorfahren segelten drauflos, ins Unbekannte und Ungewisse, wieder und wieder. Jahrhunderte später umkreisten wir die Erde und landeten in einem Filmstudio auf dem Mond. Ohne unseren Pioniergeist würden wir vielleicht noch immer in Höhlen und Hütten hausen.

Apropos Hütten: Vor mir liegt der Straßenmarkt von Alberdi, und ich breche meine Expedition jetzt ab. Aber ich komme ja gerade vom Schiff, ich habe es schon auf die andere Seite des Río Paraguay geschafft. Den nächsten Schritt sollen andere tun.

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> Auf dem Río Paraguay, kurz vor der paraguayischen Grenzstation

Auf dem Weg zum Straßenmarkt in Alberdi

> Auf dem Weg zum Straßenmarkt in Alberdi

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Es ist bestimmt zwei Jahre her. Mein Freund Pablo war mit einem Pfarrer verabredet, der in der Villa 31, einem berühmten und noch berüchtigteren Elendsviertel von Buenos Aires, als Seelsorger arbeitet. Als wir davor standen, rief Pablo den Geistlichen an und bat um Begleitschutz. Man soll nie allein solche Orte betreten – hinein kommt man natürlich immer problemlos. Ein paar Minuten später holte uns ein junger Mann ab, er trug ein Trikot des Fußballklubs Newell’s Old Boys aus Rosario, mit leichtem Abstand folgte ihm ein etwa Gleichaltriger, auch er sportlich gekleidet, aber nicht elegant. Pablo würde sie später so charakterisieren:

Es gibt Typen, denen du nachts niemals, unter keinen Umständen über den Weg laufen willst. Für diese Jungs galt das auch am Tag.

Nun ist es guter Brauch in Argentinien, Fans und Spieler aus Rosario als »Katzenfresser« (come gatos) zu beschimpfen. Einer Legende nach sollen die Rosarinos nämlich auf diese Weise während der großen Krise von 2001 ihren Hunger gestillt haben.

»Cheeeee1 Katzenfresser, hast du heute schon eine Mieze verspeist?«, brüllte ich zur Begrüßung. Ich wollte beweisen, was ich als Ausländer über Argentinien schon alles weiß. Was ich nicht wusste, war, dass der Newell’s-Fan und sein Begleiter nach jahrelangem Drogenkonsum gerade erst einen Entzug begonnen hatten. Pablo war sicher, unser vermeintlicher Beschützer werde ausrasten und uns aus Rache den schlimmsten Kriminellen der ganzen Villa zum Fraß vorwerfen. Er tat es nicht, aber Pablo erzählt diese Geschichte seitdem allen Leuten, die mich noch nicht für einen boludo2 halten.

Ich fahre dann mal zurück nach Formosa.

Ähm, nichts da. Ich müsse mindestens eine weitere Stunde warten, sagt der paraguayische Grenzbeamte, ich sei ja noch gar nicht in seinem System registriert. Welches System denn, Du Angeber? In Formosa hatte ich umgerechnet zwei Euro für die Fähre nach Alberdi bezahlt. Ich bekam eine eingeschweißte Visitenkarte der Fährgesellschaft, die sich später als Fahrschein erwies. Dann ließ sich ein Opa meinen Reisepass reichen und tippte auf einer mindestens 50 Jahre alten Schreibmaschine meine Daten auf die Passagierliste. Genau so ein verrostetes Ding steht jetzt hier noch mal.

Alberdi 10

»Guck dir den Markt an.«

»Habe ich schon.«

»Du bist gerade erst angekommen.«

»Es sieht nach Regen aus.«

»In Formosa regnet‘s schon. Es kommen erst mal keine Fähren mehr.«

Das ist nicht gut. Ich muss heute zurück nach Buenos Aires und in weniger als drei Stunden zum Flughafen. Aber ein bisschen Zeit ist ja noch.

»Könnte knapp werden«, sagt der Grenzbeamte.

Eine halbe Minute später fängt es an zu schütten. Ich gehe erst mal pinkeln. Die Toilette befindet sich draußen und ist ein bisschen schwer zu finden, aber eine Frau, die neben dem Schalter des Grenzbeamten einen Stand mit Leggins betreibt und auch Sandwiches verkauft, weist mir den Weg. Geh mir weg mit deinen ekelhaften Sandwiches, señora!

Andere Toilette in Alberdi

> Andere Toilette in Alberdi

Es blitzt und donnert.

Wo, zum Teufel, bin ich hier bloß? Die Holztür des Klos steht offen, weil irgendjemand mit einem Schnürsenkel die Klinke an der gegenüberliegenden Wand angebunden hat. Das muss ein nagelneuer, jedenfalls noch nicht entschlüsselter Seemannknoten sein, ich zuppele und zuppele. Hilfe, Hilfe, wenn nicht schnell was passiert, bin ich nicht mehr nur obenherum durchnässt.

Vielleicht sollte ich öfter mit dem Smartphone in der Hand aufs Pinkelndürfen warten müssen. Was man da alles lernt! Alberdi hat laut Wikipedia 7588 Einwohner und ist damit die zweitgrößte Stadt des Verwaltungsbezirks Ñeembucú. Benannt wurde sie nach einem großen Argentinier, dem Anwalt, Juristen, Ökonom, Politiker, Diplomaten, Staatsmann, Schriftsteller und Musiker Juan Bautista Alberdi (1810-1884). Damals gab es offenbar noch Alleskönner. Alberdi gehörte mit anderen argentinischen Intellektuellen wie Justo José de Urquiza, Domingo Faustino Sarmiento und Bartolomé Mitre zur »Generation von 1837«, die für die Demokratie kämpfte. Er ist der Vater der noch heute gültigen Verfassung von 1853. Anders als Mitre, Urquiza und Sarmiento aber wurde Alberdi nie Präsident Argentiniens. Im Tripel-Allianz-Krieg stand er auf der Seite Paraguays, ach, deshalb die Ehre. Der Tripel-Allianz-Krieg war der von 1864 bis 1870 dauernde Kampf …

Ah, eine Frau kommt, offenbar die Eigentümerin der Toilette. Sekundenschnell löst sie den Knoten, und ich verhandele gar nicht erst, sondern zahle direkt fünf Pesos, umgerechnet 50 Cent.

Keine Fähre wird kommen.

> Keine Fähre wird kommen.

Mittlerweile ist der Strom ausgefallen. Clever, wie ich bin, setze ich mich unauffällig in die Nähe des Legginsstands, wahrscheinlich bricht schon bald der große Ansturm auf die Sandwiches los. Ich will Käse-Schinken! Außerdem besitzt die Frau eine Taschenlampe, das kann heute noch kriegsentscheidend sein.

Einer der Gestrandeten erzählt, drüben in Formosa klare der Himmel angeblich schon wieder leicht auf. Wenn ich das hier überlebe, schreibe ich einen Abenteuerroman. Freitag ist heute auch, das passt ja.

Soll ich schon resümieren? Doch, es hat sich gelohnt, hierher zu reisen. Ich liebe Buenos Aires, ich werde Buenos Aires immer lieben. Aber dort lebend, vergisst man leicht, dass die Stadt nur ein winziger Teil dieses Riesenlandes ist und wahrscheinlich der am wenigsten südamerikanische.

Die Tangosängerin und -komponistin Eladia Blázquez (1931-2005) hat ihre Liebe zu diesem Land und seinen Leuten einst so erklärt:

Wie könnte ich leben, ohne dich zu sehen,
da ich doch weiß: ich gehöre hierher,
wo das Gefühl stets mehr zählt als der Verstand.
Denn Argentinien hat verrückte Schwalben im Herzen,
dort malt sich die Hoffnung immer wieder neue Farben aus
und werden die Menschen nicht müde zu träumen und zu lieben.

Zitat aus dem Reiseführer von Jürgen Vogt: »Argentinien mit Patagonien und Feuerland«

Der Porteño schaut gern mitleidig oder gar abschätzig aufs interior, das Hinterland, und sieht dort alles, was er nicht braucht: schlechten Fußball, unbefestigte Straßen, schmuddelige Restaurants, Hinterwäldlertum auf zwei Beinen, ein kollektives Schlurfen durch den Alltag.3 Langsamer geht es im Nordosten in jedem Fall zu, ich fühle mich regelrecht entschleunigt nach vier Tagen. Nur: Notorisch unpünktlich sind im Prinzip alle Argentinier − die in Buenos Aires allerdings hetzen sich beim Zuspätkommen auch noch ab.

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> Ankunft in Alberdi: die Grenzstation auf dem Río Paraguay

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Die Fähre kommt! Es wird voll werden, aber gegen Nähe habe ich mittlerweile nichts mehr. Gestern Nachmittag, auf der Rückfahrt von Resistencia nach Formosa, schlief im Bus sogar ein kleines paraguayisches Mädchen, drei oder vier Jahre alt, an meiner Schulter. Seine Mutter lag weiter hinten, verteilt über beide Sitze.

Herrschaften, ist das ein Geschnatter an Bord. Holt doch mal Luft! Der Frauenanteil auf diesem Kahn liegt bei mindestens 90 Prozent – der Rest: Bettdecken in durchsichtigen Tragetaschen und ich. Ein Baby hat die Füße auf meinem Schoß gelegt, und jetzt packt seine Mama ihre Brust aus und beginnt zu stillen. Ich halte mal die drei Einkaufstüten so lange, ja? Ach was, kein Problem.

Kannste nicht erfinden.

Alberdi 9

17.36 Uhr. Ich bin tatsächlich pünktlich am Flughafen − das Flugzeug leider nicht. Es steht noch in Buenos Aires. Liegt bestimmt am Unwetter. Zum Glück habe ich Mate dabei.

18.49 Uhr. Für zehn Sekunden Stromausfall im gesamten Flughafen; völlige Dunkelheit.

18.55 Uhr. Um neun soll das Flugzeug starten. Also, in Buenos Aires. Ich könnte natürlich für ein paar Stunden zurück ins Zentrum von Formosa. Aber dann kommt das Flugzeug doch früher an als erwartet. Murphys Gesetz und so. (Argentinien ist sein Lieblingsland.)

19 Uhr. Wie man hört, streiken ein paar Angestellte von Aerolineas Argentinas, um 40 Prozent mehr Lohn zu bekommen und nicht bloß die vereinbarten 25. Das kann eine lange Nacht werden.

19.13 Uhr. ‘Ne Durchsage! Seid doch mal leise! Ruhe dahinten! Der Flug ist gestrichen. Rudelbildung am Check-in-Schalter. Ich bin bereit, die Meute anzuführen. Holt eure Mistgabeln, Leute. Zapft Benzin ab, so viel ihr könnt. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.

19.25 Uhr. Wir sind zu müde für Randale, und morgen Früh um elf kommt ja ein großes Flugzeug. In das passen wir dann alle rein. Verspricht die arme Sau am Check-in-Schalter.

19.27 Uhr. Halt. Morgen ist ja Sonnabend. Da kommt vielleicht doch kein großes Flugzeug. Benzin! Und Mistgabeln! Und Mist! ¡Qué se vayan todos!4

19.35 Uhr. Ich hätte noch viel länger in Alberdi bleiben können.

 

Allerletzter Tag

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14.35 Uhr. Die Maschine landet mit zwei Stunden Verspätung in Buenos Aires. Wie sich Zivilisation anfühlt? Nun, der Taxifahrer rast mit neunzig durch die Straßen der Hauptstadt, sieben Minuten brauchen wir vom Flughafen bis zur Haustür.

Nie war ich schneller zu Hause.

  1. argentinisch für »hey« []
  2. Schwachkopf oder Depp []
  3. All das kennt der Porteño natürlich auch aus seiner eigenen Stadt. []
  4. »Alle sollen sie verschwinden!«; Schlachtruf der Proteste während der Krise 2001 gegen die Politiker []

Die Frauen und der Fußball – Las mujeres y el fútbol

von CHRISTOPH WESEMANN

Seit einigen Monaten ist die Dreieinhalbjährige, wie ihre ganze Familie, Fan des argentinischen Fußballklubs Boca Juniors. Wenn sie im Kindergarten kickt, und das tut sie täglich, verliert stets ihre beste Freundin Mili, die zum Erzrivalen River Plate hält. Meine Tochter schießt jedes Mal so viele Tore, wie sie Finger an ihrer Hand hat. Boca kann nicht verlieren, daran glaubt sie fest. Ihre Mannschaft führt ja auch in der Meierschaft: acht Siege, drei Unentschieden. Und River? »River es malo«, sagt sie, was sich mit »schlecht« oder »böse« übersetzen lässt.

Heute Morgen habe ich ihr die Nachricht von Bocas nächtlicher 0:1-Niederlage im zweiten Superclásico der Saison überbracht. Sie schüttelte sich kurz, rieb sich die Augen und sagte: »River ist böse. Die haben Boca kein Tor machen lassen.«

Boca immer Junior

Desde hace unos meses mi hija de tres años y medio, es fanática de Boca, como toda su familia. Cada vez que juega al fútbol en su jardín pierde su mejor amiga Mili (muy fanática de River). Mi hija siempre mete tantos goles como los dedos de su mano. »Mili se comió cinco«, dice, mostrandome el resultado. Está convencida que Boca no puede perder. ¿Y River? »River es malo.«

Hoy a la mañana le conté de la derrota de los Xeneizes anoche en el segundo superclásico. Ella se sacudió, se pellizcó sus ojos y dijo: »River es malo. No le dejó meter un gol a Boca.«

Grass und Gagelmann, Katsche und Schmelzer, mieses Internet und kaltes Wasser in Buenos Aires: die ausgerutschte Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche, räumlich getrennt, auf zwei Kontinenten. MC, früherer Lateinamerikakorrrespondent der Deutschen Welle, ist dem Leser als regelmäßiger Autor des Argentinischen Tagebuchs vertraut und hat bereits in diversen Komödien mitgespielt. Er hat lange in Buenos Aires gelebt. CW tut es noch. Und weil die beiden zwei sehr moderne Helden sind, sprechen sie nicht direkt miteinander, sondern mittels Whatsapp und Facebook-Chat.

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ERSTE SZENE

CW. Ich lese übrigens gerade »Herr Pep«, das Buch von Martí Perarnau über Guardiolas erstes Jahr beim FC Bayern. Auf Spanisch, weil’s billiger war als die deutsche Ausgabe. Schön erzählt. Tolle Anekdoten. Was allerdings arg nervt: hemos visto, han ganado, he dicho1. Habe ich noch nie benutzt. Ist das dieser ominöse Perfekt? Vollkommen überflüssig, wenn Du mich fragst. Oder reden normal entwickelte Spanisch sprechende Völker so?

Wörterbuch

MC. Das ist korrektes Spanisch. Bildet eine Verlaufsform der Vergangenheit ab, die dem knöcheltief in seiner Geschichte stehenden La-Plata-Spanier nicht verständlich ist.

CW. Verlaufsform, aha. ¡Qué sé yo!2

MC. Das heißt: ¡Yo qué sé!

CW. In Madrid vielleicht, wo ja Dein Kolonialherrenspanisch herstammt.

MC. Überall, wo christlich gesprochen wird.

CW. Ich bin Argentinier. ¡Andate!3

MC. Véte, heißt das.

CW. Nie gehört.

MC. Der Imperativ von irse. Der Spanier kann noch starke Flektion.

CW. Asador
Hübsches Foto, ne?

MC. 1959? Nach der Einnahme von La Habana?

CW. Die Geschichte muss neu geschrieben werden, wenigstens teilweise. El comandante Fidel. El Che. Und El Wese. Ach, vergiss den Medizinmann. Wir haben Havanna natürlich nicht eingenommen, sondern befreit.

MC. Das ist doch bei Euch immer das Gleiche.

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ZWEITE SZENE

CW. So ein Mist.

MC. Was?

CW. Ich habe plötzlich kein Internet mehr. Der schöne Stream ist weg. Das Halbfinale des DFB-Pokals! Wieso kommt dieses Spiel auch nicht im argentinischen Fernsehen? Die zeigen lieber Mr. Empoli gegen Dr. Caligari … Cagliari … was weiß ich, jedenfalls Mafialiga. Scheiß Argentinien! Verdammte Präsidentin! Verfluchter Peronismus! Und Evita kann mich auch mal.

Helden des Peronismus, von links: Héctor Cámpora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner, Cristina Kirchner

> Helden des Peronismus, von links: Héctor Cámpora, Evita, Juan Domingo Perón, Néstor Kirchner und Cristina Kirchner

MC. Wesemann! Ich wusste, Du begreifst es irgendwann. Aber: Lass das Land in Ruhe. Die Präsidentin kann nichts dafür. Sie hat es nicht gewusst. Wie früher.

CW. Obendrein ist das Wasser kalt; auch so ein Zusammenhang, den es nur in Argentinien gibt.

MC. Weiß ich doch. Wenn Du in Buenos Aires kein Internet hast, hast Du auch kein heißes Wasser. Aber: Wenn das Wasser heiß ist, heißt das noch lange nicht, dass Du Internet hast.

CW. Aquí también la Nación Crece.4

Werbetafel in der Provinz Misiones

> Werbetafel in der Provinz Misiones

MC. Noch zehn Minuten. Gagelmann raus!

CW. Das von Schmelzer war keine Hand.

MC. Du hast es doch gar nicht gesehen.

CW. Marcel ist, so wie ich, in Magdeburg geboren. Er hat, anders als ich, für den 1. FC Magdeburg gespielt. Für den Club. Europapokalsieger 1974. Schmelzer darf alles.

MC. Die Hand soll ihm abfaulen! Hab‘s damals übrigens nicht geguckt, Euer Finale gegen den AC Mailand. Hat das überhaupt jemand geguckt in der normalen Welt? 4641 Zuschauer im Stadion, sagt Wikipedia. Ewige Minuskulisse.

CW. Sohn kommt gerade von der Schule. Und flucht auch gleich auf die Präsidentin.

MC. Saludos an meinen kleinen Bayernfan.

CW. Er grüßt zurück. So langsam wird er erwachsen, also, er misstraut mir neuerdings. Hab ihm vor ein paar Tagen erzählt, dass das 6:1 gegen Porto wiederholt werden muss, wegen Peps zerrissener Hose, klarer Verstoß gegen Uefa-Regularien usw. Da sagte er:

Ja, und letztes Jahr hab ich dir geglaubt, dass die Meisterschaft nachträglich an Dortmund geht, weil Pep die Meisterschale hat fallen lassen. Und das WM-Finale gegen Argentinien wird noch mal gespielt, weil Neuer ein grünes Trikot anhatte und man das im Endspiel nicht darf wegen gleicher Farbe wie der Rasen.

MC. Neuer: souverän! Sohn: Weltklasse!

CW. Mein Sohn!

MC. DIE BRINGEN LEWA UM, UND DER PFEIFT NICHT!!!! Zweiter klarer Elfer! Der gehört doch auf die Sportakademie, der Gagelmann.

CW. Uli schlägt in der JVA gerade jemanden zusammen.

MC. Mit Recht. 90 Sekunden bis zum Elfmeterschießen.

CW. Und ich bin ohne Internet. Und ohne Warmwasser. Ich dreh aber noch mal am Hahn. Gleich zurück.

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DRITTE SZENE

MC. Wir fangen an. Lahm:

CW. Pfosten.

MC. Vorbei. Rutscht weg wie Beckham damals gegen die Türken.
Gündoğan trifft.
Xabi. Aus. Wie Lahm. Rutscht weg.
Kehl. Tor.
Götze. Langerak hält.

CW. Was ist da los?

MC. Bestechung.
Hummels. Neuer!

CW. Sohn weint.

MC. Noch nicht! Neuer schießt. Latte.
Jetzt ja.

CW. Und ich bin so schlecht im Bayernsäue-Trösten.

MC. Du lachst ja auch schon wieder hinter seinem Rücken. Und er bekommt es natürlich mit. Weil er Dich durchschaut.

CW. Er sagt einen Satz, den nur ein Bayernfan sagen kann:

Immer verlieren wir.

MC. Mit rechten Dingen ging das jedenfalls nicht zu. Betrug. Bestechung. Beschiss.

CW. Heul doch! #schlechteVerlierer.

MC. Immer verlieren wir.

CW. Diese Saison nur noch zweimal. #Barça #MesQueUnClub #Messi #Mascherano

MC. Ein Unentschieden und zwei Siege. #SternDesSüdens

CW. Stern des Südens? Strauß? Der große FJS? Der die Westbindung erfunden hat?

MC. Mein lieber junger Freund, das war Adenauer!!! Der den Soffjets die Oder-Neiße-Linie aufgezwungen hat. Entweder man akzeptiert sie. Oder man ist nicht unser Freund. So war er, der Konny. Der Osten? Fort mit Schaden! Einer der wenigen Punkte, an denen sich Thomas Mann geirrt hat. #schlechterrussentisch #klawdiachauchat #zauberberg

CW. Amen, Herr Grass.

MC. Aber Günter wollte immer auf die andere Seite der Oder-Neiße-Linie.

CW. Äh, auf welche Seite jetzt? Der war doch früh auf der anderen Seite. Geboren in Gdánsk. Meine Oma war übrigens auch Vertriebene!

MC. Aber er wollte zurück. Deine Oma nicht.

CW. Und wer hat ihn aufgehalten?

MC. Die Gruppe 47. Nach seiner Lesung der »Blechtrommel« haben sie für ein Stipendium gesammelt. Jedes Mal, wenn wieder 500 DM zusammen waren, kam Richter am Tresen vorbei, und Grass hat einen Obstler genommen. Nach diesem Abend war er reich. Und dann berühmt.

CW. Die Gruppe 47 ging mir schon beim Abi auf den Wecker. Nur Schaumschläger. Aber gutes Marketing. Peter Weiss, war der da auch drin? Und Enzensberger? Konnten ja alle nicht für fünf Pfennig schreiben. Da ist mir die Gruppe 74 lieber.

gruppe 74

MC. Die mit Müller, Maier und Hoeneß?

CW. Ja, und mit Katsche.

Zwei Beine, ohne Interesse an Genialität,
vereinfachter Mechanismus, nichts Brasilianisches,
kein Sternenlauf, kein Jubel in den Fußgelenken,
Standbein, Schussbein, nichts für Genießer,
und trotzdem einer, dessen die Menschen,
die ihn spielen sahen, gedenken.

MC.

Unzuständig für alles Künstlerische!
Kein Dribbling, kein nie gesehener Trick,
stattdessen Luft für neunzig Minuten,
und notfalls für die Verlängerung, wenn die Kollegen Krämpfe quälen.
Merkwürdig, daß so einer, eckig wie eine leer gegessene
Pralinenschachtel, etwas trifft, das rund ist.

CW. »Gedicht für Georg Schwarzenbeck«. Das einzig Brauchbare und halbwegs Verständliche von Wolf Wondratschek.

MC. Lessing sagt:

Wer mich einen Intellektuellen nennt, dem hau‘ ich eine rein!

Aus dem Hintergrund wird »Fußball ist unser Leben« langsam unter den letzten Worten durchgeblendet. Estragon und Wladimir schauen sich fragend an. Botho Strauß zerknüllt ein Stück Papier und verlässt den Raum. Irgendwo pinkelt jemand auf ein Buch von Ggm. Frau CW nimmt die Kinder und zieht zu ihrer Mutter.

VORHANG.

  1. wir haben gesehen, sie haben gewonnen, er hat gesagt []
  2. Was weiß ich! []
  3. Hau ab! []
  4. Bekannter Satz auf Werbetafeln der argentinischen Regierung überall im Land: »Auch hier wächst die Nation.« []

Der kürzeste argentinische Witz

von CHRISTOPH WESEMANN

Geht ein Kaiser in Buenos Aires in ’ne Tango-Bar…

Beckenbauer Franz

Foto im Fenster der »Bar Sur«, Stadtteil San Telmo, Estados Unidos 289 (Ecke Balcarce)

 

 

»

 

Die letzte Zehn der Welt sagt hasta luego: Riquelme-Gastbeitrag bei Cavanis Friseur

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn jemand diesen großen argentinischen Fußballer verabschieden darf, dann ja wohl ich. Juan Román Riquelme und ich sind ja nicht nur ein Jahrgang (1978), sondern auch gleich groß (1,83 m) und – behauptet zumindest das jeweilige Umfeld – zwei ähnliche Diven. Außerdem bin ich immer Riquelme, wenn wir mittwochabends in Buenos Aires unter der Autobahnbrücke fünf gegen fünf kicken. Ich versuche, das Spiel klassisch zu lenken – natürlich auch, weil ich für den sogenannten modernen Fußball zu langsam renne und denke.

Cancha bajo Flores

JR Riquelme

Ich habe eine Schwäche für Menschen, die Erwartungen nicht erfüllen. »Se me escapó la tortuga«, sagt der Argentinier, wenn er eine einmalige Chance vergibt. »Mir ist die Schildkröte entwischt.« Der Spruch stammt, wie so viele andere, die zu Volksweisheiten geworden sind, von Diego Maradona. Auch Riquelme hat die Schildkröte nicht immer festgehalten. Er ist ein Unvollendeter. Er wurde Mitte der Neunziger als neuer Diego empfangen (und reifte dann doch nur zur Weltklasse), er trug schon mit 20 Jahren bei den Boca Juniors die 10 und hat 17 Titel gewonnen, darunter dreimal die Copa Libertadores, sechsmal die argentinische Meisterschaft und am 28. November 2000 den Weltpokal (der in Südamerika einen hohen Stellenwert hat).

Weiterlesen im Fußballblog Cavanis Friseur hier entlang, bitte.

Pablo, Taxis auf der Galopprennbahn und die Feuerwehr von Buenos Aires

von CHRISTOPH WESEMANN

Argentinier lieben es, »estoy llegando« zu sagen. Wörtlich übersetzt heißt das: »Ich bin am Ankommen.« Und etwas freier: »Gleich da.« Die wahre Bedeutung des Satzes ist jedoch eine andere. Was der Argentinier dir eigentlich sagen will, wenn er »estoy llegando« sagt, ist: »Cheee boludo1, ich habe keine Ahnung, wann wir uns sehen, ich weiß, wir sind verabredet, allerdings ich bin gerade am Arsch der Welt, ich gehe zur U-Bahn, sobald ich genug Mate getrunken habe, kann aber nicht versprechen, dass auch eine kommt, und falls sie kommt, ob ich‘s schaffe, mich reinzuquetschen. Mach dir keine Sorgen, mein geliebter Freund, ich umarme dich. Bin gleich da.«

Jemand, der »estoy llegando« in sein Handy ruft und Sekunden darauf tatsächlich um die Ecke biegt und dir winkt, ist entweder ein Argentinier, der zu lange in Deutschland gelebt hat, oder ein Deutscher, der noch nicht lange genug in Argentinien lebt.

Ich bin in Buenos Aires schon oft zu spät gekommen, unter anderem zu einer Trauung (das Brautpaar allerdings auch) und zu einem Elternabend (aber früher als die Lehrerin). Ich hole die Dreijährige regelmäßig zu spät vom Kindergarten ab und werde dann – was oft schade ist – beim Ausredenerfinden von der Erzieherin unterbrochen: »No pasa nada.«

Gar nicht schlimm also.

Ein Fest im argentinischen Kindergarten

»Pünktlich zu sein ist erstens unüblich und zweitens unhöflich«, sagt mein Freund Pablo.

Pünktlichkeit trägt vor allem Stress mit sich. Man kommt unerwartet und trifft deshalb auf unvorbereitete Gastgeber: Sie ist noch ungeschminkt, er hat noch die Lockenwickler im Haar.

Noch vor ein paar Jahren kam es vor, dass selbst Fußballspiele der ersten argentinischen Liga verspätet begannen. Die Zeitungen vermeldeten den Anstoß um 17 Uhr, angestoßen wurde aber erst, als die Zuschauer im Stadion eingetroffen waren. Und die Schiedsrichter. Und die Spieler. Seitdem alle Partien im staatlichen Fernsehen übertragen werden, ist das vorbei.

Man hat gelernt, damit zu leben. Die Stimmung ist − trotz aller Gewalt − nach wie vor sensationell, das Spiel nach wie vor eher mau. Es heißt, der Fußball sei das, was Argentinien – diesen Haufen von Individualisten, dieses Land von Nachfahren europäischer Einwanderer und indigener Völker, zu denen sich heute die armen Glückssucher aus Bolivien, Paraguay und Peru gesellen – tatsächlich miteinander verbinde. Nur diese eine Liebe, und vielleicht noch der Anspruch auf die Malwinen.

 

Selbst ein gewöhnlicher Ausländer kann mit jedem Argentinier − ob Taxifahrer oder Kneipenbekanntschaft, Freund oder Tribünenkumpel − über alles reden. Aber in der Regel nicht − zumindest nicht objektiv − über:

1. Argentinien,

2. argentinischen Fußball,

3. den Papst,

4. die Malwinen,

5. die Tatsache, dass Argentinier, nun ja, ein spezieller Menschenschlag sind.

Jorge Valdano, 1986 Weltmeister an der Seite von Diego Maradona, erzählte in einem Interview mit dem »Spiegel« einmal:

Als Fußballer besaß ich eher so eine deutsche Geschicklichkeit. Argentinischer Fußball ist sehr wendig, Sie kennen diesen romantischen Mythos, sehr phantasievoll, sehr kreativ, Maradona eben.

Mauermalerei in der Nähe des Friedhofes von Chacarita in Buenos Aires

Und weil der Fußball am Río de la Plata das Leben ist, ist das Leben wie der Fußball. »In der argentinischen Gesellschaft gilt die Täuschung als Kunst. Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist«, sagte Valdano und lieferte gleich die passende Anekdote:Jorge Valdano

Bei meinem ersten Verein als Profi, damals noch in Argentinien bei den Newell’s Old Boys, gab es jeden Dienstag ein Lauftraining. Neben unserem Platz lag die Galopprennbahn, da mussten wir dreimal rum, das ist eine ziemlich lange Strecke. Bei meinem ersten Training bei den Old Boys geschah Folgendes: Ich lief vorneweg, ich war jung und schnell, ein athletischer Typ. Aber nach einer viertel Runde überholten mich zu meiner großen Überraschung die drei Stars des Teams − in einem Taxi. Sie hatten an der Strecke einen Freund mit seinem Auto postiert, der sie dann wieder absetzte, kurz bevor es auf die Zielgerade ging. Der Trainer hat das nicht mitbekommen. Um ein Star zu sein in Argentinien muss man nicht hart trainieren, sondern Taxi fahren.2

Und darf auf keinen Fall pünktlich sein.

»Wir wissen ja, dass wir nicht immer perfekt sind«, sagt Pablo. »Aber wir wollen es nicht von einem verdammten Ausländer hören. Verstehst du?«

»Nein.«

»Du solltest wissen: Wenn du morgen bei uns im Radio über unser Land lästerst, könnte eure Botschaft brennen.«

»Willst du mich einschüchtern, Pablo?«

»Nö, ist ja nicht meine Botschaft.«

Ich werde nicht über Argentinien lästern.

Ich habe Angst, dass die Feuerwehr von Buenos Aires zu spät anrückt.

  1. »He Schwachkopf« − eine sehr beliebte Anrede in Argentinien, auch unter Freunden []
  2. Marc Koch, der frühere Chefreporter und jetzige Erste-Welt-Korrespondent des Argentinischen Tagebuchs, hat das Zitat dankenswerterweise archiviert und dem Autor spendiert. []

Frisches Angeberwissen (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

Erster Teil: Löhne, Armut, Arbeitslosigkeit und Kino

Zweiter Teil: Politik, Protest, Straßensperren, Unfälle und Taxi fahren

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Bildung

Hauptstadt Buenos Aires: 55,4

Feuerland: 44,7

La Rioja: 41,4

La Pampa: 40,3

Córdoba: 39,8

Provinz Buenos Aires, außerhalb des Hauptstadtspeckgürtels: 38,2

Jujuy: 37,1

Neuquén: 36,7

Tucumán: 36,4

Catamarca: 36,2

Chubut: 34,6

Santa Cruz: 34,2

Salta: 33,2

Río Negro: 31,6

Provinz Buenos Aires, innerhalb des Hauptstadtspeckgürtels: 31,1

Mendoza: 30,7

Santa Fe: 30,7

Entre Ríos: 30,0

Formosa: 28,8

San Juan: 28,4

San Luis: 27,8

Chaco: 26,7

Corrientes: 24,5

Santiago del Estero: 22,2

Misiones: 20,6

  • Auffällig ist vor allem der Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Schulen: So schafften 64,3 Prozent der 2001 eingeschulten Privatschüler 2012 den Abschluss − an den öffentlichen Schulen waren es nur 25,4.

UBA

  • Die Universität von Buenos Aires, kurz La UBA, ist mit mehr als 300 000 Studenten die größte Hochschule des Landes. Es folgen die Universitäten von Córdoba und La Plata mit jeweils mehr als 100 000. Gegründet wurde die UBA 1821. Sie hat 7000 Forscher und Wissenschaftler. Außerdem gehören zu ihr vier Krankenhäuser und 14 Museen.

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 Fußball

  • Carlos Bianchi, genannt El Virrey (der Vizekönig), ist der erfolgreichste Vereinstrainer des Landes. Er holte insgesamt 15 nationale und internationale Titel − sechs mit Vélez Sarsfield, neun mit den Boca Juniors. Von seinen 352 Spielen als Boca-Trainer gewann er 181. 99-mal spielte die Mannschaft unentschieden; 71 Partien gingen verloren. Insgesamt kommt Bianchi auf 497 Spiele als Trainer.
  • Der Superclásico, das Duell zwischen den beiden Großklubs Boca Juniors und River Plate: Es gab bislang 193 Erstligaspiele. Boca gewann 70-mal (265 Tore), River 63-mal (252 Tore); 60 Unentschieden.
  • Aktueller Schuldenstand der fünf großen Vereine im argentinischen Fußball: Racing Club: 133 Millionen Pesos; San Lorenzo: 168; Boca Juniors: 180; Independiente und River Plate: zusammen fast 1 Milliarde. Nimmt man die übrigen Klubs hinzu, beträgt der Schuldenstand fast zwei Milliarden Pesos und ist damit doppelt so hoch wie 2009, als die Regierung zum ersten Mal dem Fußballverband Afa die TV-Übertragungsrechte abkaufte − angeblich, damit sich die Klubs sanieren können.

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Konsum, Handel, Tourismus

Parque Rivadavia

  • 30 000 panaderías (Bäckereien) gibt es in Argentinien.
  • Die Miete für ein Geschäft in der Calle Florida, der Fußgängerzone von Buenos Aires, kostet im Durchschnitt 2000 Pesos pro Quadratmeter. Damit ist Florida die teuerste Straße der Hauptstadt. Die zweitteuerste ist die Avenida Cabildo mit 485 Pesos
  • Es blüht das Geschäft der »manteros«, der illegalen Straßenverkäufer. An vielen Ecken der Hauptstadt wird auf dem Bürgersteig gehandelt. Der größte Markt dieser Art befindet sich auf der Avenida Avellaneda mit heute 661 Ständen (2013: 353). 19 Prozent aller manteros in der Hauptstadt arbeiten hier; geschätzt wird, dass jeder von ihnen pro Arbeitstag Waren im Wert von mehr als 1000 Pesos verkauft − natürlich schwarz.

[visualizer id=“6176″] Quelle: Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires, veröffentlicht 2013.

[visualizer id=“6392″] Quelle: Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires, veröffentlicht 2013.

»Telos« ist ein Wort aus dem Lunfardo, einer besonderen Spanischvariante in Buenos Aires. Dabei werden Buchstaben verdreht: aus »cafe« wird »feca«, aus »muchachos« »chochamus« und aus »hotel« »telo«. Telos sind Stundenhotels, die Paare − auch verheiratete − gemeinsam aufsuchen, wenn sie ungestört sein wollen.

♦♦♦♦♦

Noch einmal Buenos Aires − das große Zahlenfinale

  • 112 463 private und 2778 kommerzielle Garagen und Parkhäuser; 370 Tankstellen
  • 126 905 Geschäfte, davon 11356 in Galerien und Shoppingcentern
  • 5365 Kioske, 2115 Supermärkte, 1939 Gemüse- und Obstgeschäfte, 764 Fleischereien, 413 Diätläden, 117 Fischgeschäfte, 10 Spezialläden für Bienenhonig
  • 1050 Möbelgeschäfte, 228 Matratzengeschäfte
  • 3626 Friseursalons, 244 Schönheits- und Kosmetiksalons, 242 Salons für Pediküre und Enthaarung, 24 Massagesalons
  • 1811 Wäschereien und Reinigungen (in Argentinien lässt man waschen), 168 Bestattungsinstitute
  • Die meisten Apothekte gibt es im − reicheren − Norden der Hauptstadt: 110 im Stadtteil Recoleta, 107 in Palermo.

Quelle: Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires, veröffentlicht 2013.

Piranhas am Straßenrand, mein tapferer Zeh und ein schwerhöriger Priester: Die Wallfahrt nach Luján

von CHRISTOPH WESEMANN

Drei Pilger: der Autor mit Cristian (M.) und Nedy

Drei Pilger: der Autor mit Cristian (M.) und Nedy

Wallfahrt 20

Route: Liniers > Morón (8,467 km) – Morón > Merlo (10,024 km) – Merlo > La Reja (9,695 km) – La Reja > Las Malvinas (9,007 km) – Las Malvinas > General Rodríguez (3,054 km) – General Rodríguez > Basílica de Luján (16,163 km)

♦♦♦♦♦

 

10.30 Uhr – Stadtteil Liniers (Buenos Aires).

Erste Schritte. Mit meinen Marathonlaufschuhen, mit denen ich selbstverständlich noch nie Marathon gelaufen bin, läuft es sich wie auf Federn. Vielleicht pilgere ich heute nicht nur die 60 Kilometer vom Bahnhof Liniers nach Luján (sprich: Lu-chahn), sondern morgen auch gleich noch zurück.

11 Uhr.

Kern des Pilgerns ist: Bescheidenheit. Demut.

Geh nicht zu schnell! Lass sie rennen! Halt deine Schrittfrequenz! Raste sparsam!

11.30 Uhr – Haedo

Erster Stopp. Unplanmäßig. Schmerzen. Ich ziehe den Schuh aus und versuche, den Fuß aus der Marathonläufersocke zu bekommen, ohne dass der kleine Zeh, den ich mir vor zwei Wochen gebrochen habe, etwas davon merkt.

Wo sind wir überhaupt? Ah, Haedo, 41 509 Einwohner. Die Vororte von Buenos Aires sehen ja alle gleich aus. Hoch über dem Bürgersteig hängen die − in der Hauptstadt verbotenen − Werbetafeln der Taxizentralen, Anwälte, Banken, Matratzenmacher und Schlüpferverkäufer, und irgendwann kommt eine Plaza, die aussieht wie die davor und die danach: ein Befreier auf dem Pferd, Brunnen, Palmen, ringsherum Rathaus, Kirche, Gericht, Museum, Café, Kiosk, Café, Kiosk, Café.

Ich hole die Pflaster hervor und klebe wild an Zehen und Hacken herum. Ein Mann beugt sich herunter und fragt, ob ich Creme wolle, er habe welche dabei. »Anaflex« heißt sie. Danke.

»Falta mucho?«, frage ich Cristian. Frei übersetzt: Ist es noch weit? Nein, die Frage kommt nicht zu früh. Im vorigen Jahr hatte ich schon nach 300 Metern das erste Mal gefragt.

»Falta muy poco.«

Wir sind also fast da.

Cristian fragt, ob ich eine der grünen Tabletten schlucken wolle. Nein, Doping lehne ich ab.

12 Uhr.

»Anaflex« ist sensationell. Die Schmerzen sind weg. Könnte aber auch an »Actron 600« liegen, den grünen Pillen, von denen ich dann doch eine … ist ja nur Ibuprofen. Also kein Doping.

12.15 Uhr.

Es ist übrigens die 40. Wallfahrt der Jugend nach Luján. Und meine zweite.

Mit Cristian am 5. Oktober 2013 vor der Basilika von Luján

Mit Cristian am Morgen des 6. Oktober 2013 vor der Basilika

12.45 Uhr.

In der Apotheke gibt es keine Salbe von »Anaflex«. Nur »Diclofenac«. Soll aber genauso wirken. Probiere ich gleich aus. Neue Pflaster von »Band-Aid« haben wir auch. »Diclofenac«. »Actron 600«. »Band-Aid«. Ich fühle mich, als hätte ich die argentinische Ausgabe der »Apotheken-Umschau« gefrühstückt.

13 Uhr.

An der Straße werden Regencapes verkauft, weil Regen angekündigt ist. Man staunt ja immer wieder, wie flink argentinische Straßenhändler ihren Warenbestand umstellen können. Schiene wie im vorigen Jahr die Sonne, würden sie jetzt Sonnencreme verkaufen. Und Sonnenbrillen. Und Sonnenschirme. Und Handventilatoren. Und die passenden Batterien. Halbleer allerdings.

Wir kaufen natürlich keine Regencapes. Es regnet ja nicht. Sonnenmilch und alles andere würden wir auch nicht kaufen. Gegen die Sonne, die nicht da ist, trage ich meinen Hut vom Fußballverein Quilmes Atlético Club. Vor einem Jahr hatte ich schon am frühen Nachmittag ein knallrotes Gesicht. Weil wir keine Sonnenmilch gekauft hatten.

Vorübergehende Sperrung für den Autoverkehr

Vorübergehende Sperrung für den Autoverkehr

13.20 Uhr.

Cristian, mein argentinischer Freund, dessen Eltern aus Bolivien stammen, pilgert schon zum siebten Mal. Ich hatte ihm irgendwann erzählt, dass ich mit dem Auto nach Luján gefahren sei. Was für eine Riesenstrapaze das war! Üble Straße, unlesbare Wegweiser und so weiter. Ich erfuhr, dass Hunderttausende offenbar vollkommen Verrückte am ersten Sonnabend im Oktober zu Fuß nach Luján gehen. »Ich bin einer von ihnen«, hatte Cristian gesagt. »Willst du mitkommen?«

Pilger 1

Als wir dann am 5. Oktober 2013 unterwegs waren, zwei von zwei Millionen, erzählte er von der Tradition: Die Gläubigen pilgern zur Basilika und tragen der Jungfrau ihre Sorgen vor. Zeigt sich im Laufe des Jahres dann, dass sich die Jungfrau der Probleme angenommen hat, muss man die nächsten drei Jahre wieder zu ihr pilgern. Aus Dankbarkeit. Von mir hat sie nichts erfahren. Ich wollte in dieser Nacht nichts riskieren.

13.30 Uhr.

Cristians alter Schulfreund Nedy begleitet uns, auch er hat bolivianische Wurzeln. Ach, wie beneide ich ihn: Er weiß noch gar nicht, was ihm bevorsteht, es ist sein erstes Mal. Mein Hausmeister hat heute Morgen, als er mich davongehen sah, übrigens geschworen, es seien mehr als 60 Kilometer von Liniers nach Luján. Eher 70. Sein Kollege nebenan sagte: 80. Die beiden sind die Strecke vor vielen Jahren angeblich mal mit Fahrrädern abgefahren. Nedy wird aber auch zum ersten Mal die Frauen sehen, die vor dem Altar weinen und dabei Fotos ihrer Kinder und Enkel hochhalten.

Chrorípankauf (2013)

Chrorípankauf (2013)

Mittagessen. Wir holen uns Chorípan, eine grobe Wurst vom Grill im Baguette, und essen sie auf dem Bordstein sitzend. Köstlich. Ich könnte jetzt ein Bier nicht vertragen; würde dank der grünen Pille herrlich rumsen. Aber Alkohol darf ja heute nicht verkauft werden. (Und wird trotzdem heimlich verkauft.)

Wir sind in Morón angekommen, 122 642 Einwohner, Heimat eines Drittligisten mit dem Spitznamen »El Gallo«, der Hahn. Ich habe die Mannschaft mal an einem Winterabend gegen Platense gesehen, den »Tintenfisch«. Mieses Spiel.

Wallfahrt nach Luján (2014)

Wallfahrt nach Luján (2013)

Wallfahrt nach Luján (2013)

14.30 Uhr.Wallfahrt 18

Gleich beim ersten Souvenirstand halte ich an. Diese weiß-himmelblauen Bändchen mit dem Bild der Jungfrau und der Aufschrift »Protegé mi …« gefallen mir. Eins kostet umgerechnet 70 Cent.

»Was soll beschützt werden, chico?«, fragt der Händler. »Ich habe, warte, lass mich gucken: Beschütz meine Familie, Beschütz mein Auto oder Beschütz mein Moped

»Mein Auto.«

»Macht zehn Pesos.«

»Dein Auto? Du bist ein solcher Schwachkopf!«, sagt Cristian.

»Ähm Señor, meine Familie natürlich. Aber das Auto-Bändchen kaufe ich auch.«

15 Uhr.

»Wie willst du eigentlich mit diesem Zeh und dieser Frisur nach Luján kommen?«, hatte die Frau gestern gefragt. Eine Frechheit. Mein Zeh ist so tapfer.

15.05 Uhr.

Ich habe mich gerade in einem Schaufenster gespiegelt. Meine Frisur, das räume ich ein, ist gewagt. Carlos kann halt nur kurz, vorne jedenfalls. Er schneidet seit 40 Jahren Haare. (Die Frau meint: wie vor 40 Jahren.) Den Friseursalon bei uns im Viertel hat er im Winter 1974 aufgemacht. Er fragt mich immer nach Franz Beckenbauer und Karl-Heinz Rummenigge. Und zum Abschied zeigt er mir das Schwarzweißfoto von seiner Hochzeitsreise nach Dortmund. Ja, Dortmund. Die Ehe hat trotzdem gehalten.

Wallfahrt 2

Wallfahrt 1

Wallfahrt 3

16 Uhr − Castelar.

In Castelar denke ich an Alejandro, Fernando, Mauricio und Daniel, wobei Alejandro, genannt »der Affe«, schon tot ist. Sie sind die Helden aus dem großartigen Buch »Vier Jungs auf einem Foto« des Schriftstellers Eduardo Sacheri und stammen wie er aus Castelar.

Als Alejandro »Mono« stirbt, hinterlässt er nicht nur eine schmerzliche Lücke im Leben von Fernando, Mauricio und Daniel, sondern auch ein Riesenproblem: Das Erbe seiner kleinen Tochter droht sich in nichts aufzulösen. Monos gesamtes Vermögen steckt in einem jungen Fußballspieler, der einst eine glorreiche Karriere vor sich hatte, mittlerweile aber in einem drittklassigen Club kickt. In ein paar Monaten ist er keinen Peso mehr wert. Den Freunden bleibt nur eine Chance: Sie müssen den Spieler verkaufen, und zwar schnell. Doch wie sollen sie, die keine Ahnung vom Fußballgeschäft haben, einen Stürmer an den Mann bringen, der keine Tore schießt? Der Kampf um Monos Erbe wird zur Herausforderung ihres Lebens – und zur Zerreißprobe ihrer Freundschaft.

Inhaltsangabe des Verlags

Wir kaufen uns an einem Stand Bondiola, also fettiges Nackensteak vom Schwein im Baguette. Hat noch nirgends besser geschmeckt als in Castelar.

Wallfahrt 5

18 Uhr.

Wir haben vorhin mit vollem Bondiolamund ausgemacht, mindestens zwei Stunden ohne Pause zu gehen. Das machen wir. Wir halten weder in Ituzaingó noch in Merlo oder Moreno. Ich glaube, in Moreno hatten wir im vorigen Jahr unsere Rucksäcke öffnen müssen. Alkoholkontrolle der Polizei. Diesmal wird nicht kontrolliert.

18.30 Uhr.

Wir befinden uns auf dem unangenehmen, weil sehr langweiligen Teil des Pilgerwegs. Es geht nur noch geradeaus, immer den Gleisen entlang. Die nächste Sehenswürdigkeit: die Ampel, dort ganz hinten, also ganz vorn am Horizont. Vier Kilometer. Alles ist jetzt Luftlinie.

Wallfahrt nach Luján

18.50 Uhr.

Regen! Blitze! Donner! Die vor Stunden gekauften Umhänge kommen zum Einsatz. Bei den anderen. Und Regenschirme, die größtenteils Gerippe sind. Weil ich keinen eingepackt habe, reicht mir Cristian eine dunkelgraue Mülltüte. Die Löcher für Kopf und Arme hat er schon herausgeschnitten. Ein Pilgerprofi.

19 Uhr.

Guck mal, Diego geht direkt hinter uns. Ich habe ja an der Universidad Kennedy »Politische Kommunikation« belegt oder »Politische Strategie« oder »Strategische Politik« oder »Kommunikative Politik«. Und Diego leitet den Kurs: jeden zweiten Freitag im Monat von 9 bis 21 Uhr, Zertifikat im Oktober 2015. Ja, nur einmal im Monat. Aber das Erholen von zwölf Stunden Spanisch dauert bei mir auch zwei Wochen.

Diego hat noch gearbeitet und ist deshalb von Merlo losmarschiert. Pfffffff, fast die Hälfte ausgelassen. ¡No vale! Zählt nicht!

19.30 Uhr.

Die Shell-Tankstelle. Auf die warte ich schon seit Stunden. Noch 300 Meter, dann kommt rechts »La Quinta«, das Landhaus. Großer Garten. Großer Pool. Ein Geheimtipp. Die Besitzer grillen jedes Jahr Hamburger und Würste. Essen und Trinken sind kostenlos. Viele Pilger, die wenig Geld haben, stärken sich hier. Man kann sich sogar im Haus eine Weile aufs Bett legen. Aber das ist jetzt voller Mädchen.

Cristian mit Padre Adolfo (2013)

Cristian mit Padre Adolfo (2013)

Wir treffen Padre Adolfo, einen der vielen Priester, die mit der Masse pilgern. Viele von ihnen arbeiten und leben in Villas Miserias, den Elendsvierteln. Ihnen braucht man nichts übers Leben zu erzählen. Sie wissen alles. Sie kennen die Jungs, die Drogen verkaufen, und die, die an ihnen hängen. Oft sind’s ja dieselben. Wenn man verstehen will, warum die Katholiken in Südamerika mit Papst Benedikt XVI. nie ganz warm geworden sind – das ist die Erklärung. Er wirkte auf die Leute hier intellektuell und kühl, den Alltagssorgen entrückt. Der Priester ist für Katholiken auf dem Kontinent zuallererst ein Seelsorger, und die Kirche ein Zufluchtsort, wo es warmes Essen gibt und das Kind Nachhilfe bekommt oder ein Buch lesen kann. Der Unterricht fällt in den Armenvierteln ja regelmäßig aus − wenn es stark regnet zum Beispiel. Dann wollen oder können die Lehrer nicht kommen.

Benedikts Nachfolger hat Heldenstatus. Papst Franziskus‘ Ansehen liegt meilenweit vor allen anderen, ähm, Autoritäten im Land. In einer aktuellen Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts haben 88,6 Prozent der Befragten ein positives Bild vom Papa argentino. Zum Vergleich: Präsidentin Cristina Kirchner schafft gerade 27,7 Prozent; Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri, der im Oktober 2015 ihr Nachfolger werden will, kommt auf 42,2 Prozent.

Wallfahrt nach Luján (2013)

Die Zeitschrift »Noticias« hat übrigens jüngst berichtet, der Papst sei sehr sauer auf all die Regierungsleute, die ihn jetzt besuchen. Als er noch Jorge Mario Bergoglio hieß und Erzbischof von Buenos Aires war, haben sie ihn nämlich beschimpft, ja gehasst, weil er eine ihrer lautesten Kritiker war. Franziskus wundert sich auch, dass er einige seiner Landsleute bei der Generalaudienz treffe und hinterher höre, er habe ihnen ein privates Gespräch gewährt. »Wird das eine deformación argentina werden?«, fragt er. Der Text endet mit einem Zitat, das wohl nur ein argentinischer Papst bringen kann: »Sie halten mich für eine französische Prostituierte.«

»Padre Adolfo, wie geht’s?« Kuss auf die Wange. Im vorigen Jahr hatte er mir als einziger die Wahrheit gesagt: dass es noch sehr weit sei nach Luján. Als er das hört, lacht er. »Und ist es noch weit?«, frage ich. »Aber sag mir bloß nicht die Wahrheit!«

»Es ist nicht mehr weit. Das ist die Wahrheit.«

21.30 Uhr.

Ich brauche einen Wanderstock. Dringend.

21.35 Uhr.

Es werden Besenstiele verkauft.

Wallfahrt nach Luján (2014)

21.40 Uhr.

Ich kaufe doch keinen Besenstiel.

21.45 Uhr.

BESENSTIEL!

22 Uhr.

Plötzlich steht ein Mann neben mir, deutet auf meinen Hut und krempelt dann seine Hose ein Stück hoch, um sein Tattoo vom Quilmes Atlético Club zu zeigen. Fette Umarmung. Dos Cerveceros. Zwei Bierbrauer. So nennen wir uns, weil aus Quilmes Argentiniens bekanntestes Bier kommt. Er ruft gleich seine Freunde herbei: »Hey, wir haben sogar Fans in Deutschland.«

Wallfahrt 9

22.15 Uhr – General Rodríguez.

Das letzte Drecksnest vor Luján. Noch 16 Kilometer. Vor einem Jahr lagen Pilger links und rechts der Straße im Gras. Viele schliefen. Jetzt ist alles aufgeweicht vom Regen. Dafür werden wir, auf den letzten Metern sozusagen, gut versorgt. Helfer reichen Wasser, Kekse, Kakao und Mate cocido, also Teebeutel-Mate, der nur halb so gut schmeckt wie der echte. Die Versorgung ist überhaupt sehr gut. Es gibt auf der ganzen Strecke 57 medizinische Stützpunkte; ob Massage oder Blasenaufstechen: Die Hilfe ist kostenlos.

General Rodríguez am 5. Oktober 2013

General Rodríguez am 5. Oktober 2013

Am 5. Oktober 2013 wurde mir in General Rodríguez mein Quilmes-Hut geklaut. Okay, in Wahrheit habe ich ihn verschenkt, an einen Würstchengriller, der behauptete, aus Quilmes zu sein. Aber der angebliche Diebstahl ist mir weniger peinlich.

Angeblicher Mützendieb (2. v. l.)

Angeblicher Mützendieb (2. v. l.)

»He, du hast ja deinen Hut noch auf«, sagt Cristian, als wir die Stadt verlassen haben.

23 Uhr.

Noch zwei Stunden. Schätze ich. Niemandsland. Nur noch wenige Stände. Am Straßenstrand stehen Autos mit einer Pappe an der Frontscheibe: »Remís 50 Peso«. Die Besitzer würden einen also für umgerechnet drei Euro (Schwarzmarktkurs) zur Jungfrau bringen.

So kurz vorm Ziel.

Das ist gemein.

Und ungemein verlockend.

»Piranhas!«, sagt Cristian. »Nicht hingucken!«

23.45 Uhr.

Dort hinten bei den Lichtern ist die Brücke, die vorletzte. Ich kann sie nicht sehen, aber ich glaube Cristian jetzt alles. Von dort sind es nur noch acht Kilometer nach Luján. 90 Prozent haben wir geschafft. Sagt Cristian. Er hält das offenbar für eine motivierende Nachricht.

Zwanzig Minuten später, unter der Brücke, sticht er mir mit seinem Haustürschlüssel eine kirschgroße Blase auf. Sollten wir noch mit den Priestern sprechen, die dort aufgereiht sind? Schnelle Beichte? Ach nee, habe ich im vorigen Jahr gemacht, und es war nicht so ergiebig. Der Priester fragte, woher ich käme, und überlegte dann, welche deutschen Wörter er kenne. Und? Tja, »und«.

Wallfahrt nach Luján (2014)

Unter der vorletzten Brücke: noch acht Kilometer bis nach Luján (2014)

Cristian kann »Guten Tag« sagen, »Arsch« und seit General Rodríguez »Ich heiße Cristian«.

Nedy und ich cremen noch mal die Füße mit »Diclofenac« ein. Ich nehme meine dritte grüne Pille.

»Ist für dich die letzte heute, mein Freund«, sagt Cristian.

Sonntag, 0.15 Uhr.

Bei jedem Motorrad, das vorbeifährt, bei jedem Auto, das hupt, damit wir den Weg freimachen, selbst bei dem Jungen auf dem Fahrrad rufen wir: »¡Trampa!« Das bedeutet: Mogelei! Ein Baby im Kinderwagen ist auch trampa.

Nur auf eigenen Füßen zählt.

0.30 Uhr.

Ein Rollstuhl überholt uns. Trampa! Ja, auch unser Humor kriegt langsam Blasen.

0.40 Uhr.

Cristian erzählt, es gebe auch eine viertägige Wallfahrt, die von Buenos Aires nach San Nicolás de los Arroyos führe und 240 Kilometer lang sei. Könnten wir ja im nächsten Jahr machen.

Mal sehen.

0.55 Uhr.

Wir reden kaum noch. Es ist alles gesagt. Wir sind gleich da. Gewiss.

Jeder Schritt tut weh. Ich kann die Schmerzen nicht mehr orten. Es brennt unten und oben, vom großen Zeh bis zur Hüfte.

Ringsum allgemeines Humpeln. Mit krummem Rücken. Vornübergebeugt. So geh’n die Gauchos.

1 Uhr – Luján.

Luján! Luján! Luján! Luuuuuujaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan. Also: der Ortseingang. »Brauchst du wieder eine Massage?«, fragt Cristian.

»Weiter!«

1.02 Uhr.

Kurze Pause. Mehr »Diclofenac«. Warum bloß habe ich mich diesmal nicht massieren lassen?

Massage in Luján am 5. Oktober 2013

Massage in Luján am 5. Oktober 2013

1.04 Uhr.

»No falta nada«, sagt Cristian. Es fehlt nun wirklich nichts mehr, wir sind im Grunde angekommen. Zum wievielten Male eigentlich? Ein Wagen mit Lautsprecher überholt uns. »Menos que 40 cuadras«, spricht ein Junge ins Mikrofon. »Weniger als 40 Blocks.«

Ein Häuserblock, das sind in Argentinien, wo die Städte von oben wie Schachbretter aussehen, 110 Meter. Noch 4,4 Kilometer? Viertausendvierhundert Meter? La puta que me parió.1 Dreizehntausendzweihundert Schritte. Dreizehntausendzweihundertmal dieses Gefühl, dass der Fuß auf Glut geht. Nedy, der dritte Mann, hat’s auch gehört und guckt noch niedergeschlagener als ich.

»Er hat gesagt: weniger als 40!«, sagt Cristian. »¡Vamos muchachos, no falta nada!«

1.47 Uhr.

Wir sind da. Vor der Basilika steht ein Priester mit Mikrofon, begrüßt die Pilger und fragt, woher sie kämen.

»Chaco

»Herzlich willkommen.«

»Formosa

»Willkommen. Alles gut?«

»Córdoba.«

»Ihr habt’s geschafft!«

»Alemania.«

»Woher?«

»Alemania!«

»Ich verstehe nicht. Komm mal näher.«

»Aaaaa-leeee-maaaaa-niiiiiii-aaaaaa!«

Schweigen.

Wallfahrt 12

Wallfahrt 11

Schlafende Pilger in der Basilika von Luján (2013)

Schlafende Pilger in der Basilika von Luján (2013)

 

  1. »Die Hure, die mich geboren hat.« Argentinischer Fluch []

Frisches Angeberwissen (1)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

♦♦♦♦♦

Mindestlöhne und Hausangestellte

  • Der Mindestlohn beträgt 4400 Pesos und wurde im September 2014 um 22,2 Prozent angehoben. Vorher waren es 3600 Pesos (beschlossen zum Januar 2014). Zum 1. Januar 2015 soll der Mindestlohn abermals steigen, um 7,2 Prozent auf dann 4716 Pesos. Das wäre der höchste Mindestlohn in Lateinamerika. Allerdings betrifft der Mindestlohn nur 113 000 der fast zehn Millionen Personen, die offiziell beschäftigt werden und nicht schwarz arbeiten. In Deutschland wird vom 1. Januar 2015 an ein Mindestlohn von 8,50 Euro gelten.
  • 25 Pesos beträgt der Mindeststundenlohn von argentinischen Hausangestellten, wenn sie dort wohnen, wo sie auch arbeiten. Haben sie eine eigene Wohnung, sind es 28 Pesos. Der offizielle Mindestmonatslohn beträgt 3220 Pesos (ohne eigene Wohnung) und 3590 Pesos. Hausangestellte haben Anspruch auf Urlaub; die Zahl der (bezahlten) Urlaubstage hängt davon ab, wie lange die Person bereits im Haus angestellt ist:

− sechs Monate bis fünf Jahre: 14 Tage

− fünf bis zehn Jahre: 21 Tage

− zehn bis 20 Jahre: 28 Tage

− mehr als 20 Jahre: 35 Tage

♦♦♦♦♦

Armut und Arbeitslosigkeit

Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

  • Die offizielle Arbeitslosenquote lag im zweiten Trimester 2014 bei 7,5 Prozent. Die Erwerbstätigenquote betrug 41,4 Prozent − der niedrigste Wert seit Anfang 2006 (40,7 Prozent). In Deutschland liegt sie bei mehr als 72 Prozent. [Nachtrag: Ich habe die Vergleichszahl gestrichen. Siehe den Äpfel-mit-Birnen-Kommentar von Jorge. War insgesamt keine gute Idee, auf diesem Feld, das statistisch hier wie dort Niemandsland ist, den Vergleich zu suchen.]
  • Unabhängige Studien beziffern die Armut in Argentinien auf 30 bis 33 Prozent − das wären zwischen 13 und 14,5 Millionen Menschen. Die Regierung spricht von 1,6 Millionen, umgerechnet etwa fünf Prozent. Offizielle Daten zur Armut werden aber seit dem vergangenen Jahr nicht mehr veröffentlicht. Die Regierung hatte angekündigt, die Untersuchungsmethode zu verändern. Dabei ist es bislang geblieben.
  • In Argentinien wird statistisch zwischen einem Leben in »pobreza« (Armut) und »indigencia« (Armut und Mittellosigkeit, im Sinne von Elend) unterschieden. Grundlage zur Einstufung bilden die Einkünfte und Sozialleistungen, die eine Familie − zwei Erwachsene, zwei Kinder − monatlich zur Verfügung hat. Staatliche und nichtstaatliche Institutionen kommen dabei zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen, was die Monatsobergrenzen betrifft:

− Einheitsgewerkschaft CGT: bis 3110 Pesos Elend, bis 7122 Pesos Armut

− Politikinstitut IpyPP: bis 3435 Pesos Elend, bis 6320 Pesos Armut

− Katholische Universität UCA: bis 1982 Pesos Elend, bis 4142 Pesos Armut

− staatliches Statistikamt Indec: bis 787,63 Pesos Elend, bis 1783,63 Pesos Armut.

  • Vergleichsdaten: ein Liter Milch kostet 7 bis 10 Pesos, das Kilogramm Weißbrot mindestens 18 Pesos, 200 Gramm Butter 12 Pesos oder mehr. Die Regierung legt für mehr als 200 Produkte des täglichen Bedarfs die Preise fest.

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♦♦♦♦♦

Gesundheit

  • Nach Angaben des Gesundheitsministeriums rauchen 25,1 Prozent der Erwachsenen in Argentinien − weniger als in Deutschland (30 Prozent). 2005 waren es noch 30 Prozent, vier Jahre später 27,1.
  • Fast sechs von zehn Argentiniern über 18 Jahren (57,9 Prozent) sind übergewichtig. 2005 waren es nur 49 Prozent, vier Jahre später schon 53,9. Für »fettleibig« hält das Ministerium 20,8 Prozent der Erwachsenen. Der Anteil nach Alter:

− 18 bis 24: 7,7 Prozent

− 25 bis 34: 15,8 Prozent

− 35 bis 49: 24,3 Prozent

− 50 bis 64: 29,6 Prozent

− 65 und älter: 24,3 Prozent

Quelle:  Dritte landesweite Umfrage des Gesundheitsministeriums zu Risikofaktoren (2013)

♦♦♦♦♦

Umwelt

Müll am Río de la Plata

♦♦♦♦♦

Die Provinz Buenos Aires

  • Wenn Argentinier »Buenos Aires« sagen, meinen sie die Provinz, eine von 23. (Die Hauptstadt Buenos Aires nennen sie einfach »Capital«.) Buenos Aires, die Provinz, ist flächenmäßig fast so groß wie Deutschland und hat mehr als 15 Millionen Einwohner. Vier von zehn Argentiniern leben hier.
  • Es gibt es 12 000 staatliche Schulen (3,3 Millionen Schüler) und 4800 private (1,5 Millionen).
  • Im Schnitt wird in dieser Provinz alle 32 Stunden ein Mord begangen. Pro Stunde gab es im Jahr 2013 82 Verbrechen − fünf Prozent mehr als 2012.

♦♦♦♦♦

Kino

1. Relatos Salvajes: 449 986 (2014)

2. Metegol: 422 845 (2013)

3. Corazón de León: 295 332 (2013)

4. Séptimo: 270 322 (2013)

5. Bañeros 3 Todopoderosos: 228 497 (2006)

  • Die erfolgreichsten Kinostarts aller Zeiten in Argentinien:

1. Monsters University: 791 225 (2013)

2. Los Simpsons: 759 032 (2007)

3. La Era de Hielo 4: 620 009 (2012)

4. Shrek para siempre: 600 041 (2010)

5. Rápidos y Furiosos 6: 594 978 (2013)

Brasilien – Argentinien 3:11

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Erste hat gearbeitet und deshalb Argentiniens 4:2 gegen Deutschland verpasst. Der Zweite war zu Hause, winkt aber ab und murmelt etwas von »Finaltrauma«. (Welches Finale?) Der Dritte hatte den Fernseher immerhin an, sagt aber: »Naja, war bloß ein Freundschaftsspiel.«

Auf die argentinischen Freunde ist auch kein Verlass mehr.

Unser Chefreporter Marc Koch hat sich als guter Journalist indes blitzschnell eine fundierte Meinung gebildet, wie die SMS-Kommunikation zeigt.

CW. Deine deutschen Ausreden, bitte.

MC. Trainingsspielchen. Von der Fifa angeordnete Revanche. Blatter-Grondona-Connection. Postum. Chancentod Gomez. Schiri gekauft. Drei Elfer verweigert. Kannste alles verwenden.

CW. Jahrhundertspiel!

MC. Komm grad‘ aus dem Dschungel und weiß nur, dass Argentinien führt.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)