Archiv für das Thema ‘Fußball’

Argentinische Spielsucht: Fußball mit Eisenbahnern, Tintenfischfressern und Anarchisten

von CHRISTOPH WESEMANN

Drei Tage. Drei Stadien. Drei Spiele. Zweite und dritte argentinische Liga. Ein Experiment, eine Zumutung und Selbstquälung. Wie verkaftet ein Mensch so viel üblen Fußball an so ungemütlichen Orten? Wo es keine Anzeigetafel und anderen Schnickschnack gibt, wo die Werbung der Sponsoren noch flattert und nicht flimmert, wo der Pass nur ankommt, wenn ihm der Weg nicht zu weit ist (maximal fünf Meter), wo der Verteidiger noch nach Blut grätscht, wo selbst die Nummer zehn den Ball unbedrängt verstolpert und der Spielmacher beider Mannschaften Zufall heißt?

  • Club Ferro Carril Oeste – Club Atlético Aldosivi
  • Club Atlético Defensores de Belgrano – Club Atlético Acassuso
  • Club Atlético Colegiales – Club Social y Deportivo Merlo

Angepfiffen werden die Partien jeweils um 17 Uhr, da freut sich bestimmt der Biorhythmus. Oder hat der damit gar nichts zu tun?

Erstes Spiel. Ferro Carril – Aldosivi 2:1.

Club Ferro Carril Oeste aus Buenos Aires spielt gegen Club Atlético Aldosivi aus Mar del Plata – oder auch: Der Tabellen-14. der zweiten Liga empfängt den 20. und damit Drittletzen. Wir sind im Stadtteil Caballito, dessen Name von einer Wetterfahne stammen soll. Als das Pferdchen um 1900 entstand, lag es am westlichen Rand von Buenos Aires. Heute ist das Viertel im Zentrum und mit 176 000 Menschen auf 6,8 Quadratkilometer nach Recoleta am dichtesten besiedelt.

Ferro war übrigens 1982 und 1984 argentinischer Meister und heißt auf Deutsch Westliche Eisenbahn, womit wir direkt im Geschichtsunterricht sind. Die ersten Fußballklubs waren nämlich im 19. Jahrhundert am Ausbau der Eisenbahnlinien in und um Buenos Aires beteiligt, weshalb viele Stadien bis heute entlang der damals entstandenen Strecken aufgereiht sind. Auch Ferro wurde am 28. Juli 1904 von 95 Eisenbahnern gegründet.

Als Welthauptstadt des Fußballs wird Buenos Aires ja gern bezeichnet – wegen der Fülle von Spitzen- oder wenigstens professioneller Mannschaften. Allein in der ersten Liga spielen derzeit sechs: All Boys, Argentinos Juniors, Boca Juniors, River Plate, San Lorenzo und Vélez Sarsfield. Aus dem Speckgürtel kommen vier weitere: Arsenal, Quilmes, Racing und Tigre.

Mein Sohn und ich sind ja bekanntlich Fans von Quilmes, dem Klub aus der Stadt des gleichnamigen Bieres. Meister waren wir auch schon, 1978, in meinem Geburtsjahr also. Außerdem haben wir den Papierschnipselregen beim Einmarsch der Mannschaft erfunden und sind der älteste Fußballverein des Landes.

Wieso bin ich überhaupt bei Ferro? Ach ja, Nelson, der Mann, der unsere Klimaanlage reparieren sollte, hatte mir den Besuch empfohlen – wegen des Stadions, nicht wegen des Fußballs. Ich verstand nicht genau, warum, es war ja auch viel zu heiß in der Wohnung. Das Ricardo-Etcheverri-Stadion, benannt nach seinem Architekten und  langjährigem Vereinsvizepräsidenten, ist jedenfalls ordentlich heruntergekommen und angerostet. Die Gegengerade war einmal, und in der Kurve steht man auf Holzplanken. Jemand, der viel repariert oder reparieren soll, guckt wohl mit anderen Augen.

Die Klimaanlage funktioniert natürlich noch nicht wieder.

Ich fotografiere gerade die Stehplatztribüne, als mir ein Breitschultriger ein Zeichen gibt, das bitte zu unterlassen. Er kommt noch extra auf mich zu. Hoppla, der hat ja mehr Tattoos als Zähne.

»Die Barra fotografiert man nicht, muchacho

Ja, die Barra Brava, die Wilde Horde, eine Mischung aus Ultras und Hooligans, gibt in jeder Beziehung den Ton an in argentinischen Stadien. Sie sorgt für die einzigartige Stimmung, für Gesänge und Musik. Leider sind viele der Chorknaben auch mindestens halbkriminell. Sie handeln mit allem, was sich zu Geld machen lässt, mit Drogen, Parkplätzen, Imbissständen und vor allem Eintrittskarten. Wenn es sein muss, bedrohen sie auch Spieler und Trainer. Gedeckt bis unterstützt werden sie von hohen Vereinsfunktionären, die im Hauptberuf oft Politiker sind oder es werden wollen. Diese Allianz sorgt dafür, dass die Gewalt in Argentiniens Fußball – fast 200 Tote seit 1939, 2012: zwölf, 2013: elf – kaum zu besiegen ist. Wenn‘s kracht, wenn Fäuste und Kugeln fliegen, geht’s ums Geld, ums Geschäft, nicht um Sport. In vielen Kurven rivalisieren verschiedene Barras.

»Okay, das mit der Barra wusste ich nicht.«

»Wo kommst du her?«

»Deutschland.«

»Dachte, du bist Bulle. Ich bin von der Barra.«

»¡Vamos Ferro!«

Das Schöne in Argentinien ist: Die Stadien sind uralt, und jedes sieht deshalb anders aus. Es stehen noch nicht diese hochmodernen Legoarchitekturarenen außerhalb der Stadt herum, die mehr Einkaufszentrum als Sportanlage sind. Bei uns spielen die Klubs auch noch in dem Viertel, in dem sie einst gegründet wurden. Jedes Heimspiel ist somit ein Nachbarschaftstreffen. Die Kinder bringt man mit und die Kinderwagen natürlich auch.

Ich schaue immer wieder nach links, wo gewöhnlich mein Sohn steht. Aber der ist ja mit dem Rest der Familie verreist. Er fehlt mir sosehr, auch als Zuhörer und Bewunderer meiner fundierten Analysen und immer konstruktiven Kritik an den Spielern. Die anderen Männer ohne Anschluss können immerhin mit sich selbst über das Spielgeschehen schreien. Würde ich auch gern machen. Aber Selbstgeschreie auf Spanisch mit deutschen Akzent – wie klänge das denn?

Flache 4, Falsche 9, Staubsauer und Doppelsechs, doppeln und Ball ablaufen, Tiki-Taka, Matchplan und anderer Krimskrams aus dem Akademikerfußball – das gibt es natürlich nicht in der Zweiten Liga. Hier ist volkstümlicher Fußball angesagt. Ferro und Aldosivi spielen, ganz klassisch, mit zwei Stürmern, und der Ball wird von hinten sehr weit nach vorn gedroschen. Selbstverständlich gelingt nicht alles, das meiste, ob Stoppen oder Schießen, misslingt sogar, es sind einfach zu viele Spieler mit zwei linken Füßen dabei. Aber um feinen und schnellen Fußball zu gucken, hat der Argentinier ja seine Nationalmannschaft und einen Fernseher mit Kabelanschluss für die Champions League und die Spitzenspiele aus England, Italien, Spanien und Deutschland.

In Spielminute 86 stehe ich schon am Ausgang. Zweimal 25 Minuten hätten mir auch gereicht.

Wenn Quilmes weiter so oft verliert und so selten gewinnt, steigen wir übrigens ab und spielen nächste Saison auch gegen Ferro Carril Oeste.

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Zweites Spiel. Defensores de Belgrano – Acassuso 0:0.

Wir steigen natürlich nicht ab. Ich habe gestern Abend Unsinn gefühlt. Selbst wenn wir absteigen sollten, steigen wir gleich wieder auf. Aber wir steigen ja nicht ab. Außerdem bleibt immer noch der ultimative Durch-dick-und-dünn-Spruch wahrer argentinischer Fußballfans: »Cuando ganas te quiero cuando perdes te amo.« – »Wenn du gewinnst, mag ich dich. Wenn du verlierst, lieb ich dich.«

Jetzt ist dritte Liga. Das Stadion von Defensores de Belgrano liegt direkt an der Avenida del Libertador, der 25 Kilometer langen Riesenstraße, die vom Norden in den Süden der Hauptstadt führt. Wir sind in Núñez, einem der wohlhabendsten Viertel, was der örtliche Fan gut zu verbergen weiß.

»Und für dich, Alter?«, fragt der Mann in der Imbissbude vorm Stadion.

Tja, normalerweise essen der Sohn und ich vor dem Anpfiff an einem der Grillstände entlang der Straße argentinisch: also chorípan, die Bratwurst im Brot. Ist natürlich nicht ohne: Ältere wie ich brauchen die komplette erste Halbzeit, um mit der Zunge alle Fettfleischreste aus den Zahnzwischenräumen zu holen. Aber hier gibt es ja nur paty, den beschränkten Hamburger: Fleisch, Brot, Ketchup und Mayonnaise. Das Salatblatt und die zwei Tomatenscheiben kann man sich ja dazu denken. Paty ist eigentlich unsere Pausenmahlzeit. Heute also erschwerte Bedingungen, der Magen wird sich hoffentlich umstellen können.

Wenn ich richtig zähle, wird das mein 15. Spiel sein. Für die Chronik alle bisherigen Partien, unsortiert:

  • Ferro Carril – Aldosivi 2:1
  • Vélez Sarsfield – Estudiantes 1:1
  • River Plate – Vélez Sarsfield 0:0
  • Argentinos Juniors – Godoy Cruz 2:1
  • Boca Juniors – Barcelona SC 1:0 (Copa Libertadores)
  • Quilmes – Newell’s Old Boys 1:1
  • Quilmes – San Lorenzo 3:2
  • Quilmes – Arsenal 0:1
  • Quilmes – Godoy Cruz 0:0
  • Argentinien – Peru 3:1 (WM-Qualifikation)
  • Platense – Morón 1:0
  • All Boys – Newell’s Old Boys 3:1
  • Racing – River Plate 1:0
  • San Lorenzo – Estudiantes 0:0.

Das schönste aller Spiele war Quilmes gegen San Lorenzo, den späteren Meister. Montagabend. Flutlicht. Winterkälte. Und wir besiegen einen der großen Fünf des argentinischen Fußballs1.

Hackentricks, Übersteiger, Seitfallzieher – nichts davon gelingt hier bei Defensores gegen Acasusso. Es ist wie mittwochs um 20 Uhr, wenn ich mit Fede, Pancho, Koala, Limon und den anderen Jungs kicke: Man will immer viel, aber Kunst ist bei uns eben nur der Rasen. Welche hohe Meinung man aber auch von sich haben muss, um zu glauben, man könnte, was nicht mal diese Jungs können, die immerhin dritte Liga spielen. »Beim Training muss jedes Talent seine Form finden, und es ist ein Zeichen von Intelligenz, keine Lösungen zu suchen, die die eigenen Möglichkeiten übersteigen«, schreibt Jorge Valdano in seinem Buch Über Fußball. Demnach sind Fede, Pancho, Koala, Limon und die anderen Jungs, ich also auch, eher dumm. Im WM-Finale 1986 gegen Deutschland schoss Valdano übrigens das 2:0 für Argentinien. Heute ist der einstige Mittelstürmer, Trainer und Manager als Fußballphilosoph unterwegs.

»Wer nicht hüpft, ist ein Tintenfisch«, singen die Fans von Defensores, was sich auf Spanisch natürlich reimt. Der Tintenfisch (El Calamar) ist der Anhänger des Club Atlético Platense, der ganz in der Nähe sein Stadion hat. Bei Platense, ebenfalls gerade Drittligist, waren der Sohn und ich natürlich auch schon. Ein Flutlichtspiel am 17. August 2013, im Winter also. Der Tintenfisch gewann gegen den Hahn, die Mannschaft von Deportivo Morón. Jaja, der argentinische Fußball und seine Spitznamen.

Niemand, ist doch klar, singt natürlich so schön wie Quilmes:

Ich komme aus dem Bierbrauerviertel
Aus dem Viertel der Drogen und des Karnevals
Ich folge dir, seit ich kleiner Junge war
Niemals werde ich dich verlassen
Denn so ist Quilmes
Man trägt es im Herzen
Diese Fans hätten’s verdient, Meister zu werden

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Drittes Spiel. Club Atlético Colegiales – Deportivo Merlo 1:3.

Heute wird es schwer, in der Masse unterzutauchen. Als ich 20 Minuten vor Anpfiff die Kurve betrete, bin ich Nummer 5 und werde von zwei Jungs zum Drogenkonsum eingeladen. Ich habe noch nie zuvor einen Fan von Colegiales getroffen. Ich kenne die nur aus Zeitung, weil im Oktober 2013 der Anführer ihrer Barra Brava erschossen wurde, während er vor seiner Haustür eine Messerstecherei mit einem Colegiales-Fan hatte. 500 Anhänger begleiteten den Leichenzug, randalierten unterwegs und bedrohten Journalisten.

Colegiales wurde übrigens 1908 in Buenos Aires von Anarchisten gegründet. Erst 40 Jahre später zog der Verein in den Vorort Munro um. Ich war ja auch mal Anarchist, in der elften Klasse. Ich hatte nicht viel Auswahl damals, mein Gott, es gab doch bei uns nur Anarchisten, HipHopper und Wedernochs.

Was für ein Tor! Lucas Buono, der Glatzkopf mit der 9, schlenzt gleich in der ersten Minute den Ball von der Strafraumgrenze in den Winkel. 1:0 für Colegiales. Langsam füllt sich die Tribüne, nach zehn Minuten ist auch der Trompeter endlich da. Bis jetzt wurde nur getrommelt. Auch Colegiales spielt übrigens in einem Stadion mit Hufeisenform, wie es sehr typisch ist für Argentinien: An einer Seite ist keine Tribüne, sondern eine Wand.

Zweite Halbzeit. Wenn die Spieler Durst haben, trinken sie aus einem Fünfliter-Wasserkanister. So machen wir das zu Hause auch, ist ja viel günstiger als diese kleinen Flaschen. Ich will nach Hause.

Aber zunächst muss ich mich noch über den Schiedsrichter empören. Der hat gerade Merlo einen Elfmeter gegeben, der einer war, aber keiner sein darf. »Schwaaaaaalbeeeeeee! Bist du blind, du Idiot? Hurensohn! Stricher! Das Geschlechtsteil deiner Schwester! Ich weiß, wo dein Auto …« Ich hole mir mal was zu essen.

»Wer bist du denn?«

»Was?«

»Wo kommst du her?«

»Wieso?«

»Na, wir kennen dich nicht.«

Was muss ich denn bitte noch tun, um nicht aufzufallen? Ich bin am Montagnachmittag beim Fußball, in der dritten Liga wohlgemerkt, und habe vorhin das Riesenbanner mit ausgerollt, ich beleidige den Schiedsrichter und esse ja sogar den Hamburger, der eine Minute in der nackten Hand des Grillmeisters verbracht hat. Soll ich mich vielleicht noch tätowieren lassen? Dann stelle ich mich den drei Jungs von der Barra halt vor. Sie verlieren schnell das Interesse an dem Deutschen, der sich als »Fanatiker des argentinischen Fußballs« ausgibt.

»Sehr gut, amigo

Es steht mittlerweile 1:3. Colegiales bleibt also Vorletzter in der dritten Liga. Wann pfeift der Schiedsrichter endlich ab? Wie lange lässt der Schwachkopf denn nachspielen? Die zweite Halbzeit dauert schon 65 Minuten, mindestens. Am dritten Tag wird wahrscheinlich jedes Spiel zäh. Es fehlt aber auch die Abwechslung. Der Chor reagiert ja überhaupt nicht aufs Geschehen; das Repertoire wird nur sauber herunter gesungen. Und die Trompete, tja, hmm, ich konnte nicht mal Triangel im Musikunterricht, aber ich weiß nicht, also die Trompete, die habe vielleicht auch schon reiner gehört in anderen Stadion – das ist nur knapp über dem Niveau von Stefan Mross seinerzeit.

Ich bin am Ende meiner Kräfte.

Nie wieder Fußball.

Nie wieder.

  1. Boca Juniors, Independiente, Racing, River Plate und San Lorenzo []

Das Patagonische Reisetagebuch (II): Die Drei-Tropfen-Töchter, der singende Papa und ein Auto im Sandkasten

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Route: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn > Viedma > Azul > Buenos Aires

Teil I: Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

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Tag 6. Pehuén-Co > Las Grutas. 600 Kilometer.

Mit drei Söhnen hätte ich die Nacht in Ushuaia verbracht, der südlichsten Stadt der Welt, wir würden jetzt die Antarktis durchqueren und kämen spätestens morgen Früh oben in Kanada raus. Aber der Siebenjährige hat zwei kleinere Schwestern, die uns aufhalten, besonders gern, nachdem ich drei Laster überholt habe.

»Piiiipiii, Papa.«

Mein Sohn pinkelt, wie jeder gesunde Mann, morgens und, wenn er’s nicht vergisst, noch mal abends vor dem Schlafgehen.

Bei seinen Schwestern: drei Topfen.

Drei Tropfen, drei Laster, wieder drei Tropfen.

Wir sind unterwegs auf der Ruta Nacional 3, Argentiniens berühmter Ostküstenstraße, die von Regisseuren gern für hiesige Roadmovies (Die Reise) besetzt wird. Sie führt von Buenos Aires nach Feuerland und ist 3060 Kilometer lang, wobei man hinter Río Gallegos, der Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, ein Stück durch Chile fährt. Der Reisende, dichtet der Lonely Planet, »durchquert weite, gähnend leere Landschaften, die am Horizont verschwimmen wie ein endloses unbeschriebenes Blatt Papier«. Wir wollen überübermorgen den Kilometer 1514 erreichen und dort ins Tierschutzreservat Punta Tombo abbiegen, um die Magellan-Pinguine zu besuchen. Ich hätte große Lust, weiterzufahren bis ans Ende der Straße. Aber: siehe oben.

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Mapa de la Ruta Nacional 3 en la Argentina., Creative Commons, Urheber: Dario Alpern

 

Hmmmh, sind das schon Altersflecken auf meinem Handrücken? Oder noch Sommersprossen? Und was singt da Andrés Calamaro? »Me parece que soy de la quinta que vio el Mundial 78, me toco crecer viendo a mi alrededor paranoia y dolor.1« Was meint er damit? Nichts gegen Andrés Calamaro: Wir hören sein 2005er Konzertalbum El Regreso, eingespielt in Buenos Aires, rauf und runter auf dieser Reise. Aber allmählich könnte mal wieder ein Auto von vorne kommen. Das Geradeausfahren in dieser Leere führt gedanklich ja doch zu nichts. Macht nur müde. Wenn mich nicht bald wenigstens eine Kurve aufmuntert, muss ich singen, um wach zu bleiben.

 

Wir sind bei Kilometer 970 und nun, am sechsten Urlaubstag, endlich in Patagonien, der Region südlich der Flüsse Colorado (Argentinien) und Bío Bío (Chile) und nördlich der Magellanstraße. »Das große, grandiose Nichts« nennen sie Patagonien bei Spiegel Online. Der argentinische Teil ist 765 000 Quadratkilometer groß – umgerechnet: zweimal Deutschland plus die Schweiz. Hach, sechs Wochen müsste man Zeit haben, nein, sechs Monate, und mit diesen Töchtern natürlich entsprechend mehr. Sechs Jahre, grob gerechnet.

Jedenfalls nicht nur: noch sechs Tage.

Auf dem Weg nach Las Grutas, der nächsten Station, können wir uns bloß ein paar Extravaganzen leisten. Die Nationalstraße haben wir eben hinter Carmen de Patagones verlassen. Die Stadt ist die südlichste der Provinz Buenos Aires und nennt sich selbst Eingangstor nach Patagonien. Auf dem Rückweg werden wir in Viedma übernachten, dem Nachbarort, Hauptstadt der Provinz Río Negro.

Ella no va a volver y la pena me empieza a crecer, adentro
La moneda cayó por el lado de la soledad y el dolor
La moneda cayó por el lado de la soledad otra vez
La moneda cayó por el lado de la soledad.

(Sie wird nicht zurückkehren und der Kummer beginnt in mir zu wachsen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit und des Schmerzes gefallen
Abermals ist die Medaille auf die Seite der Einsamkeit gefallen
Die Medaille ist auf die Seite der Einsamkeit gefallen)

»Papa, du singst so schlecht!«

Zwischenstopp in El Cóndor, dem Seebad am Atlantik, Heimat der größten Papageienkolonie der Welt. Angeblich, natürlich. »Argentinier können über Argentinien eigentlich nur im Superlativ sprechen«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. Ein anderer Journalist, Jakob Strobel y Serra, meint:

Argentinien ist wie Maradona, und Maradona ist wie Argentinien. Niemals könnte er Brasilianer sein, genauso wenig wie Pelé jemals Argentinier sein könnte. In Diego Armando Maradona, dem argentinischen Archetypus par excellence, vereinen sich alle Widersprüche des zweitgrößten Landes Lateinamerikas: Triumph und Tragik, Genie und Wahnsinn, Demut und Divenhaftigkeit, Lebenshunger und Leidenslust, Großmannssucht und Schutzbedürfnis, Schaffenskraft und Selbstverstörungswahn.                          Argentinien: Ein Reiselesebuch, Hamburg 2010.

Apropos Selbstzerstörungswahn: In den Klippen unter dem ältesten Leuchtturm Patagoniens haben die Papageien ihre Nisthöhlen, mehr als 30 000 sollen es sein; und im Sand verstecken die Schildkröten ihre Eier. Trotzdem fahren Geländewagen und Pickups herum, es ist sogar erlaubt. Ach Argentinien, Du Klappstuhlnation. Man sonnt sich nicht auf Decken, sondern bringt seine Stühlchen mit zum Strand. Zur Grundausrüstung gehören außerdem gut gefüllte Kühlboxen, Sonnenschirme und mehrere Liter Warmwasser für den Mate. Und weil man nichts schleppen will, fährt man so weit wie möglich vor.

Hahaha, guckt mal, einer ist mit seinem Jeep im Sand stecken geblieben. Geschieht ihm recht! Der Fahrer buddelt und legt zwei Pappen an die Vorderräder, Mama, Oma und Tochter müssen gleich schieben. Was für eine idiotische Familie. Wir stellen uns auf und genießen.

Noch drei Stunden bis Las Grutas – mindestens. Denn wir haben beschlossen, die unbefestigte Route entlang der Küsten zu nehmen, die Provinzstraße 1. Asphalt, also die Nationalstraße 3, ist etwas für Anfänger.

»Was gibt’s eigentlich heut Abend zu essen?«

»Wie immer.«

»Lecker.«

Wie traumhaft schön diese endlosen, menschenleeren Strände doch sind! Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner. Irgendwo müssen ja keine Leute sein. Und hier sind sie nicht. In Patagonien teilen sich zwei Einwohner einen Quadratkilometer – in Deutschland sind es 226. Aber was dafür an Tieren herumrennt, auf und neben der Straße, schaut euch das an.

»Strauße! Wären mir fast vors Auto gelaufen, die Biester.«

»Das sind Nandus

»Da hinten: Lamas!«

»Guanakos

»Wer ist eigentlich klüger, Papa? Mama oder du?«

»Unentschieden.«

Hoppla, dort vorne liegt aber ordentlich Sand auf der Straße. Die Reifenspuren sind ziemlich tief, ich weiche mal nach rechts aus, wo der Untergrund fester ist.

Keine gute Idee.

In Island, im Sommerurlaub 2010, wollten wir einen Vulkan besichtigen oder einen Wasserfall, vielleicht auch Geysire, mehr gibt es ja in Island eigentlich nicht. Dann kam ein Flüsschen, das in keiner Karte verzeichnet war, aber nachweislich vor uns plätscherte – wohl, weil es in der Nacht geregnet hatte. Ich wollte hindurchfahren, als uns ein Franzose im Suzuki überholte – und gleich darauf, merci beaucoup, mit seinem Geländewägelchen im Schlamm einsank.

Wir stecken auch fest.

Wo, hijo de puta, ist in Patagonien der Franzose, wenn man ihn braucht?

Mittlerweile haben sich die Nachbarn versammelt, um die Köpfe zu schütteln. Fehlt nur noch die Spanner-Omi mit Kissen auf der Fensterbank. Während ich die Reifen freibuddele, fängt der Siebenjährige neben mir wieder mit seinen Amarok-Phantasien an. Ist das überhaupt heilbar? Der Franzose wurde damals übrigens von anderen Franzosen abgeschleppt, aber auf die Deutschen zähle ich hier, am Ende der Welt, eher nicht.

Ein paar Minuten später sind wir umringt von Argentiniern, die mit ihren Pickups angehalten haben. Natürlich wird erst mal eine Runde geplaudert und sich kennen gelernt. Das gibt mir Gelegenheit, zu einer Verteidigungsrede anzusetzen. Für mich ist’s auch schon die sechste Stunde am Steuer. Und schaut euch mal das gelbe Lämpchen am Tacho an, das leuchtet schon seit Buenos Aires. Ist doch ein Wahnsinn, oder? Wird immer gelber. Wisst ihr, ich bin nicht der Typ, der sich größer macht, als er ist. Aber dass wir überhaupt so weit gekommen sind, liegt vor allem an meinen hervorragenden Fahrkünsten und meinen außerordentlich guten Nerven.

Meinetwegen kann ich mich die ganze Welt, eigene und angeheiratete Familie eingeschlossen, für einen Trottel halten. Aber dass mich Argentinien gut findet, ist mir wichtig.

Beim ersten Abschleppversuch reißt das Seil, weil ich falsch lenke. Einer der Argentinier löst mich ab, lässt sich rausziehen, setzt das Auto zurück und rast dann problemlos über die hundert Meter lange Sandfläche. Das Ganze dauert keine zwei Minuten. Der Sohn bekommt das zerrissene Seil geschenkt und fährt gemeinsam mit der Vierjährigen noch ein Stück auf der Ladefläche des weißen Ford Ranger mit.

»Einmal Sand kommt noch«, sagt der Fahrer, geht in die Knie und malt die Strecke inklusive aller Kurven mit dem Finger – Humor hat er ja – in den Sand. »Darfst keine Angst haben.«

»Angst? Ich?«

Sicherheitshalber fährt ein Pickup voraus und einer uns hinterher, bis wir nach 30 Kilometern wohlbehalten zurück auf der Nationalstraße sind.

Tag 7. Las Grutas.

Das schreibt der Reiseführer:

ein im Sommer völlig überlaufenes Seebad

Ich mag Las Grutas nicht. Zu viel Zivilisation. Ich mag das Hostel nicht. Zu viel Jugend. Ich mag die Jugend nicht. Zu viel Gekoche. Wir kommen nicht mal zum Essen. Bei uns wird grundsätzlich geschlungen, wissend um die Zuverlässigkeit von Zwischenfällen (überfüllte Blasen, umkippende Gläser, Gefechte mit Messerchen und Gäbelchen, allgemeiner Futterneid). Es scheint Familien zu geben, auch große wie unsere, die vernünftig essen. Vielleicht haben die Eltern liebere Kinder oder die Kinder strengere Eltern.

Bei uns wird es heute Abend schon wieder Empanadas de Carne geben.

Vorhin, nach dem Aufstehen, hat sich die Toilette über die Fliesen erbrochen. Das neue Zimmer ist noch kleiner als das alte. Im Garten sitzen sich zwei Amerikaner gegenüber, reden miteinander und rubbeln gleichzeitig auf ihren Smartphones rum. Facebook mag ich auch nicht.

Ich vermisse Buenos Aires.

Am Abend gucke ich beim Abwaschen so lange in die Pfanne von Juan aus Córdoba, dass er mich nötigt, mitzuessen. Er hat dünne Rindfleischscheiben mit allerlei Gemüse für sich und seine Freundin angebraten. Ich erkenne Paprika und rieche Knoblauch. Juans Herz gewinne ich, als mir einfällt, dass es für boludo (Schwachkopf, Depp) ein Extrawort in Córdoba gibt: culiado. Jetzt wird sich verbrüdert. Der Herbergsvater hat mitgehört, kommt an den Tisch und fragt, ob ich schon mal Fernet mit Cola probiert hätte, das argentinische Kultgetränk. Argentinier trinken es – etwa vorm Fußballstadion – gern kollektiv aus einer geköpften Plastikflasche.

Noch nie. Ich schwöre. Her mit der Brühe! Ist doch kostenlos, oder?

Noch ein Glas, bitte. Danke.

Und der argentinische Rotwein, den du da hast, Juan, mein lieber culiado, der ist mir auch total unbekannt.

Die Familie guckt besorgt und hat damit, wie ich am Morgen erfahre, absolut recht gehabt.

Fortsetzung folgt

  1. Übersetzung: »Ich glaube, ich gehöre zur Generation, die die WM 1978 gesehen hat. Um mich herum musste ich Paranoia und Schmerz sehen.« Calamaro spielt an auf die Weltmeisterschaft in Argentinien während der Militärdiktatur. []

Das Patagonische Reisetagebuch (I): Zwei Lämpchen, der arme Esel und fünf Autohausbesetzer

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Tag 1. Buenos Aires > Tandil. 413 Kilometer.

»Ich sitz vorne, Papa.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Polizei. Du darfst noch nicht vorne sitzen.«

»Ich will aber vorne sitzen.«

»Du sitzt hinten. Basta.«

Wir sind gerade auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, als auf dem Tachometer das gelbe Lämpchen aufleuchtet. Mal im Handbuch nachgucken. Wir wollen ja nach Patagonien, nach Punta Tombo zu den Pinguinen. Wir haben zweieinhalb Wochen sogenannten Urlaub und werden in Etappen fahren: Buenos Aires > Tandil > Pehuen-Có > Las Grutas > Puerto Madryn. Drei der 23 argentinischen Provinzen bereisen wir: Buenos Aires (so groß wie Deutschland), Río Negro und Chubut. Bis dorthin sind es noch 2000 Kilometer. Und es gibt schon jetzt Probleme.

Ah, kein Handbuch. Fragen wir jemanden, der sich mit Autos besser auskennt.

Leider ist der Siebenjährige gerade beschäftigt.

Also Tankstelle.

Der Tankwart will das Handbuch sehen. Er bietet dann Öl an.

»Öl ist super.«

»Das gute Öl?«, fragt er.

»Sicher.«

»Ist ein sehr gutes Öl.«

Dem Lämpchen ist’s, tja, sehr egal.

Man müsste eine Glasscheibe haben wie die Taxifahrer in New York City, ja, das wär’s, eine Scheibe, die das Cockpit von der Rückbank trennt. Könnte gar nicht dick genug sein. Die Kleine (2) und die Mittlere (4) stoßen seit zehn Minuten spitze Schreie aus und beklagen Bissspuren am Unterarm. Gleich wird der Zeigefinger in ein Auge gesteckt. Achso, stimmt, das hatten wir schon, beim Losfahren vor einer Stunde. Dann sind halt die Ohren dran oder die Haare, oder wie wäre es mit dem Ellenbogen in den Rippen, mein Sohn? Das mögen doch deine Schwestern überhaupt nicht.

Mein Sohn sagt, er habe, wie immer, nichts gemacht. Ich bin selbst ein großer Bruder, ich kenne alle Tricks, ich habe mich auch immer nur verteidigt.

»Du kommst nach vorne.«

»Nein.«

»Sofort!«

»Ich will nicht vorne sitzen.«

»Du sitzt vorne!«

»Und die Polizei, Papa?«

Bis ans Ende unserer Reise wird der Siebenjährige beifahren und jedes Mal, wenn Polizisten zu sehen sind, fragen: »Soll ich mich groß oder klein machen?«

Tag 2. Tandil.

Das sagt der Reiseführer:

Die hübsche Stadt Tandil liegt am nördlichen Rand der Sierras de Tandil, einer 2,5 Mio. Jahre alten Bergkette. Durch Erosion entstanden sanfte, grasbewachsene Hügel und Felsvorsprünge, die zum Klettern und Mountainbiken geradezu ideal sind. Zum Reiz der Stadt gehört die Mischung aus dörflichem Charme und der Energie einer Großstadt.

Wir sind im Naturschutzgebiet unterwegs, der Reserva Natural Sierra del Tigre. Wir wollen uns aufwärmen für das, was uns erwartet auf dieser Reise: argentinische Wildnis. Oder wenigstens das ein oder andere exotische Tier, das bereit ist, sich fotografieren zu lassen: Pinguine, Gürteltiere, vielleicht ein Schwertwal, vor allem Robben oder Seehunde, vielleicht sind’s auch Seelöwen, egal, ich kann diese grunzenden braunen Säcke, die am Strand rumliegen, eh nicht unterscheiden. Bislang habe ich hier außerhalb des Zoos nur Lamas gesehen und auch gleich gegessen, damals in Salta, hoch im Norden Argentiniens; ich hatte mich nicht im Griff, ich war allerdings auch mit Herrn T. unterwegs, das gibt mildernde Umstände.

Guckt mal, Kinder, da vorn, ein Pferd, nee, ein Pony. Ein Esel, sag ich doch.

Großer Jubel im Auto. Wurde in unserer Welt jemals ein Esel so überschwänglich begrüßt? Oh, er ist ganz blutverschmiert. Die Familie ergeht sich sogleich in Mutmaßungen: Er hat sich bestimmt am Felsen beim Fressen die Schnauze eingeklemmt oder wurde ganz sicher von dummen, bösen, ekelhaften Menschen mit Steinen beworfen oder ist wahrscheinlich einem Raubtier begegnet. An der Börse von Buenos Aires wird weniger spekuliert. Die Zweijährige ist mit den Nerven komplett am Ende, eine halbe Stunde lang sagt sie unaufhörlich: »Armer Esel. Armer Esel.«

Ich heize hinab ins Tal, wir brauchen einen Arzt, dringend, der Esel verblutet uns, halt durch, Junge, halt durch. Wahrscheinlich musst du ausgeflogen werden, wir kommen selbstverständlich für alle Kosten auf. Ich mache schon mal meinen linken Arm frei, ich spende dir so viel Blut, wie du willst.

»Papa spinnt.«

»Sag bloß.«

»Armer Esel. Armer Esel.«

»Ist ja gut, Liebes.«

Einer der Parkwächter sagt, der Esel habe mit einem anderen Esel gekämpft. »Machen die ganz gern. Sind nun mal Esel.«

Tag 3. Tandil > Pehuen-Có. 337 Kilometer.

Abfahrt. Jetzt leuchtet noch eine zweite Lampe, und eine rote Schrift sagt, das Abblendlicht sei defekt. Abblendlicht, aha. Der rechte Scheinwerfer geht nicht mehr, was dumm ist, weil man auf argentinischen Nationalstraßen immer mit Licht fahren muss. Ich zupfe an ein paar Kabeln im Motorraum, ich lasse mir Zeit, mache mein Finger absichtlich schmutzig und starre zwischendurch ins Nichts. Dann tauche ich wieder auf, kratze mich am Kopf und sage der Familie den Satz, den ich vor Jahren in einer Werkstatt aufgeschnappt habe: »Pfffffff, kannst heute nichts mehr selbst reparieren am Auto, läuft alles übern Computer, nicht mal ne kaputte Glühbirne kriegste gewechselt, ja, früher, bei meiner ersten Karre, da habe ich den Motor noch zerlegt und …«

Ich werde gebeten, endlich loszufahren. Nächster Halt: Tankstelle.

Ein höchstens zwölfjähriger Tankwart mit mindestens 20 Jahre alten Koteletten beschaut den Schaden, also er guckt auf die zwei Lämpchen, und sagt dann: »Ich weiß nicht, was es ist, aber schlimm ist es nicht.« Ich könnte ihn küssen, fürchte aber, dass er sich in einen Esel verwandelt.

Ich stelle den Tempomat auf 130 Kilometer pro Stunde, 20 mehr als erlaubt; die 60-Schilder vor Abfahrten in irgendwelche entlegenen Dörfer ignoriere ich schon seit vorgestern, da bremst ohnehin keiner. Genauso ist es mit Baustellen, die großspurig angekündigt werden – Gefahr! Arbeitende Menschen und Maschinen! 20 km/h! – und dann verwaist sind. Außerdem weiß ich mittlerweile, dass vor jeder echten Baustelle in Argentinien ein Mann steht und eine Fahne schwenkt. Dann – und nur dann – wird gebremst.

Zwei Stunden und fast 200 Kilometer später beginnt das Auto zu ruckeln, wenn ich Gas gebe; ein Überholmanöver endet damit, dass der Fahrer des entgegenkommenden Autos scharf bremst und auf den Rasen neben der Straße wechselt. Danke, Du Retter! Die letzten 50 Kilometer bis Pehuen-Có fahre ich 80, beschleunige wie ein Sonntagsfahrer mit Regenschirm auf der Hutablage und spreche mit dem Auto: Das machst du ganz fein. Ein Stückchen noch, ja?

Der Mann in der einzigen Auto-Werkstatt von Pehuen-Có sagt, der Motor bekomme keine Luft. Aber helfen könne er auch nicht, er habe, genau, keinen Computer.

Wir wohnen, 200 Meter entfernt vom Atlantikstrand, beim Russen. El ruso, so heißt die Unterkunft und wohl auch ihr Besitzer. Argentinier sind ja Weltmeister im Spitznamengeben. Man orientiert sich gern an Äußerlichkeiten und nimmt es dabei nicht so genau: Wer ein bisschen asiatisch erscheint, ist el chino, der Chinese, wer eine dunklere Hautfarbe hat, wird el negro, der Schwarze, gerufen, und el turco, der Türke, ist entweder Moslem oder sieht aus, wie in der Vorstellung von Argentiniern Männer aus dem arabischen Kulturkreis auszusehen haben. Eine andere beliebte Methode ist, aus Menschen Tiere zu machen. Im Fußball gab und gibt‘s unter anderem: Esel, Enten und Entchen, Schildkröten, Küken, Aale, schwarze Spinnen, Tiger, Mäuschen und Mäuse, Hunde und Windhunde, Echsen, Löwen, Affen, Wölfe, Ponys, Tauben und Maulwürfe. Lionel Messi ist, klar, der Floh. Außerdem heißen Spieler: Kartoffelchen, Zwiebel, Butter, Kakao, Paprika, Salat, Bohne und Tomätchen. Jeder Argentinier hat obendrein mindestens einen Freund, den er gordo (Dicker) oder flaco (Dünner) nennt, wobei – hiesiger Humor – der gordo auch sehr flaco sein kann und umgekehrt. Und wenn man den Namen des Gegenübers nicht kennt oder vergessen hat, behilft man sich mit Schmeicheleien: Der Hotdog- und der Zeitungsverkäufer in unserem Viertel begrüßen mich als Chef und verabschieden mich als Champion.

Unsere Ferienwohnung, meint die Frau, ist ein bisschen schmuddelig. Sie findet angetrocknetes Bratfett auf der Mikrowelle, Staubschichten unter den Betten und alte Fußspuren in der Dusche. Wir sind im Urlaub und werden sowieso die meiste Zeit unterwegs sein, ich denke, da kann man ruhig mal ein Auge zudrüc … LÄSST SICH DIE VERDAMMTE SCHEISSHAUSTÜR ETWA NICHT SCHLIESSEN? Ich verlange ja keinen Schlüssel oder einen Riegel. Aber zumachen lassen sollte sich die Tür wenigstens.

Das schreibt der Reiseführer:

Im Strandort Pehuen-Có, 440km südwestlich von Mar del Plata, kann man den Strand noch für sich alleine haben – abgesehen von den Quallen, die wie die Badefreudigen das hier ein paar Grad wärmere Wasser schätzen.

Tag 4. Bahía Blanca.

Wir stehen um sechs Uhr auf, wir müssen zum VW-Autohaus nach Bahía Blanca, 80 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. Meine Plan ist: Wir werden die ersten Kunden sein, ich schicke die Frau mit den Kindern rein, das erweckt Mitleid und kitzelt die Beschützerinstinkte der ölverschmierten Kerle; ich existiere gar nicht. Während wir in der Nähe einen Kaffee trinken, wird das Auto an den Computer gestöpselt und der Fehler entdeckt; Ersatzteile liegen im Lager, es ist schließlich eine Vertragswerkstatt; nach einem Spaziergang zur Plaza Rivadavia, dem zentralen Platz, holen wir das reparierte Auto ab. Um 16 Uhr bin ich bereits wieder in Pehuén-Có am Strand und jage Quallen. Ich kann nicht erkennen, dass der Plan auch nur eine Schwachstelle hätte.

In Bahía Blanca (300 000 Einwohner) befindet sich übrigens der größte Marinestützpunkt des Landes; er wurde 1828 von Oberst Ramón Estomba als Fortaleza Protectora Argentina (Beschützerin Argentiniens) gegründet. Außerdem ist die Stadt das Zentrum der Petrochemie und hat seit dem vergangenen Jahr wieder einen Erstligafußballklub.

Wir sind nicht die Ersten, eher Nummer zehn. Oder zwölf. Kinder, ihr seht nicht niedergeschlagen genug aus! Und hört auf, so nett zueinander zu sein, benehmt euch wie immer. Los jetzt!

Nach einer halben Stunde treffe ich die Familie wieder; sie sieht niedergeschlagen aus. Es sei nicht klar, ob das Auto heute überhaupt noch drankomme. Wir sollen auf einen Anruf warten. Kann zwei Uhr werden oder auch fünf. Ich muss noch mal zum Auto, um die Sonnencreme und die Matetasche zu holen. Es ist inzwischen weggeparkt worden und steht, tja, wie soll ich’s beschreiben? Der Parkplatz gehört bestimmt offiziell noch zum Autohaus, der Weg dorthin ist aber weit und stellenweise sehr dunkel. Ich glaube nicht, dass die Autos ringsum irgendwann wieder fahren sollen. Die warten eher auf ihre Ausschlachtung.

Wir halten erst mal am Plan fest und verbringen eine Stunde im Café. Als die Kinder beginnen, Tische zu verrücken, und zwar besetzte, brechen wir auf. Und jetzt? Die Museen sind geschlossen. Ferienzeit. In der Fußgängerzone sind Klettergerüste und Rutschen aufgebaut, das bringt wieder eine Dreiviertelstunde. Wie spät ist es jetzt? Halb zwölf.

Ich bekomme allmählich sehr schlechte Laune und beginne zu hassen. Leute, die nicht verstehen, nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, dass es ein riesiger Unterschied ist, ob ich allein in einer fremden Stadt bin oder mit drei kleinen Kindern, machen mich aggressiv. Wir haben weder eine Wohnung in Bahía Blanca noch kennen wir jemanden, bei dem wir die Zweijährige zum Mittagsschlaf hinlegen könnten. Heiß ist es außerdem. Ihr Männer im Autohaus, wie habt ihr euch das vorgestellt? Was sollen wir in eurer Petrochemie-Metropole machen, bis ihr irgendwann in ein paar Stunden anruft? Und was sagt ihr uns dann? Keine Zeit gehabt heute? Zu viele Terminkunden, ja? Und dann? Fahren wir zurück nach Pehuén-Có? Mit dem Bus? Und das Auto? Morgen ist Feiertag, nicht wahr? Und ich weiß dann immer noch nicht, ob das Auto bald erstickt? Hmmmh.

Wir kaufen erst mal ein Handtuch als Bettdecke, versuchen, die Zweijährige auf der Parkbank schlafen zu legen, trinken um die Wette kaltes Wasser und rufen im Autohaus an. Alle Männer sind zu Tisch. Ich würde jetzt am liebsten den Laden besetzen, so richtig breitmachen müsste man sich, wie die Bundys damals im Supermarkt. Toiletten, W-Lan, Klimaanlage, heißes Wasser für den Mate, Autozeitschriften für den Großen, Sessel zum Rumhüpfen für die Mädchen – ist ja alles da. Peggy meint, das sei meine beste Idee seit Jahren. Eine Stunde später ist das Autohaus erfolgreich besetzt.

 

Die Kleine schläft auf zwei zusammengeschobenen Sesseln, wir schlürfen Mate und lesen Kinderbücher vor. Wenn dem Sohn langweilig ist, schaut er sich die Neuwagenmodelle an und sabbert vorm Amarok, Listenpreis: 223 590 Peso. Es gibt auch Modelle für 190 000, aber er will Allradantrieb. Volkswagen Argentina wirbt übrigens mit dem Slogan Das Auto, also deutscher Artikel. (Auto heißt auch hier auto; coche sagen die Spanier.) Der Boss von VW ist war 1 Viktor Klima, der frühere österreichische Bundeskanzler. Präsident Néstor Kirchner hat er auch beraten. »Seit einer Herzoperation im Jahre 2009 hat er sein Leben umgestellt«, schreibt Wikipedia. »Er lebt mit seiner dritten Frau und drei Kindern im Alter zwischen 4 und 9 Jahren rund eine Stunde von Buenos Aires entfernt, wo er eine Farm mit 240 Hektar Grund und 200 Rindern besitzt.«

Fährt bestimmt Amarok, der Klima.

15 Uhr. Unser Auto wird aus der Abstellkammer geholt. Die Kleine schläft immer noch. Die Mittlere liegt auf dem Boden und malt. Der Große trinkt Mate, um mehr sabbern zu können. Ich weiß gar nicht, was diese Blicke sollen. »Gobernar es poblar«, schrieb schon der Verfassungsvater Juan Bautista Alberdi (1810 bis 1884). »Regieren bedeutet besiedeln.« Und in der Verfassung, Artikel 25 steht sogar:

Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu begünstigen; sie darf in keiner Weise den Eintritt von Fremden in das Argentinische Gebiet, welche in der Absicht kommen, das Land zu bebauen, die Gewerbe zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren, beschränken und mit Abgaben belasten.

16 Uhr. Die chicas von der Buchhaltung gucken angewidert, als ich vor der Glasscheibe ihres Großraumbüros meine Salamistulle aus Pehuen-Có esse. Sie haben sehr gute Fahrgestelle und werden offenbar serienmäßig mit langem, wallendem Haar und großen Airbags ausgeliefert. Ich sabbere nicht.

16.30 Uhr. Der Kanister des Wasserspenders wird ausgetauscht. Wurde aber auch Zeit.

17 Uhr. Ein Teil war locker oder abgebrochen, ich habe keine Ahnung, welches. Die Frau versucht’s mir zu erklären, sie hat ja die ganze Zeit mit den Jungs verhandelt und auch den Schlüssel empfangen. Ich nicke und freue mich, dass die beiden Lämpchen am Tacho nicht mehr leuchten.

Kleiner Haken, sagt sie: Das Auto ist nur provisorisch repariert.

Ich würde sagen: sehr großer Haken, man könnte einen Schwertwal dran aufhängen. Wir haben in Argentinien schon Toiletten und Markisen reparieren lassen, die dann gleich wieder kaputt gegangen sind – und das waren keine provisorischen Reparaturen. Auch der Rückspiegel im Auto fällt gern ab, wenn’s ihm zu heiß ist.

Tag 5. Monte Hermoso.

Ich will unbedingt den höchsten Leuchtturm Südamerikas besteigen und zwinge die Familie, mit mir nach Monte Hermoso zu fahren, einen Badeort 70 Kilometer entfernt von Pehuen-Có. 70 Kilometer, das ist nichts. Höchster Leuchtturm Südamerikas! 293 Stufen! 67 Meter! Leider endet die asphaltierte Strecke nach 20 Kilometern. Man sieht: Schotter, Schlaglöcher, Sand und Staub bis zum Horizont. Wir beraten fünf Minuten und suchen nach einer Ausweichroute. Schon morgen werden wir eine doppelt so lange und dreimal so schlimme Piste ohne Murren zurücklegen. Aber das weiß noch keiner von uns.

Der Umweg über eine asphaltierte Straße kommt nicht infrage. Das wären 120 Kilometer.

»Jetzt einen Amarok, das wär’s, ne, Papa?«

Als wir am Leuchtturm ankommen, brennt das gelbe Lämpchen schon wieder.

 

Fortsetzung folgt

  1. Nachtrag: Llamadojorge ist schlauer als Wikipedia (und als ich sowieso) und korrigiert in den Kommentaren: Klima ist schon Ende 2012 in Rente gegangen. []

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

El chico que camina como Menem y está más loco que El Loco

von Christoph Wesemann y Moní (traducción)

Mi hijo dice que alguna vez habló finés. No recuerdo esto. Por supuesto tiene talento para las lenguas extranjeras, habla ruso y castellano. Y una vez estuvimos en la capital Helsinki para visitar a una amiga que vivia ahí. Pero en aquel entonces tenía cinco. Cinco meses. La próxima lengua que quiere aprender es chino. Empezará cuando tenga nueve, le falta un año y medio.

Tal vez no tolera a la Argentina.

Helsinki

Un alemán que desde hace poco está viviendo en Buenos Aires pero extraña Valencia, donde trabajó por cinco o seis años, no piensa bien de los argentinos. »Son fanfarrones, mentirosos y estafadores«, dice. Y lo dice en serio, al menos en un 80 por ciento. También se resiste a hablar castellano. Así que cecea las letras c y z como la gente en Valencia. Así por ejemplo dice caie, cuando en realidad aquí a la calle se le dice cashe. El conoce mil veces más palabras españolas que yo pero, por lo menos, yo no hablo como un conquistador del siglo dieciocho que tiene su velero atracado en el puerto de la ciudad de Buenos Aires.

Ahora mi hijo va todos los miércoles al entrenamiento de fútbol organizado por su colegio. La primera vez lo acompañé. A las 12 Santiago, el profesor de educación física, pasa a buscar a 120 escolares, de los cuales 95 llevan la camiseta de Leo Messi. Después despotrica con los chicos de seis a diez años y les dice: »¡No corremos! ¿Está claro?« Y … ¿qué pasa? Los chicos cruzan la calle a paso muy lento; una bandada de patos hubiera sido más rápida. Y generan un atasco de tránsito de tal magnitud, que en Alemania sería noticia por la radio.

Messi

Después se eligen equipos que se enfrentan en ocho canchitas. Como espectador se ve sólo que cada plantel juega con la misma táctica: ¡Todos hacia la pelota! Esa tarde mi hijo jugó sin pena ni gloria.

»Che, ¿cómo te fue?«, lo pregunté después del entrenamiento.

»¡Re-bien!«

»¿Y qué les dijo al final el entrenador?«

»Dijo que habíamos jugado bien y que teníamos que pasar mejor la pelota.«

»¡Gran DT!«

»¿Viste mis tres golazos, papá?«

»¿Qué?«

Heldenteams

Claro que puede haber metido los tres goles mientras yo estaba ocupado en atar el cordón de mi zapato derecho. Por otra parte, ese hubiera sido la tripleta más rápida del mundo.

En el regreso a casa me repitió exactamente el mismo relato de sus tres goles. Antes de hacer el primero había eliminado a cinco adversarios y pateado la pelota con la izquierda al ángulo derecho. En el segundo fue una volea después de un córner. Y el tercer gol lo hizo de cabeza. Me costó entender a mi hijo porque todo el tiempo me acuerdo del alemán de Valencia y de su frase: »Los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores« – es una buena frase, para situaciones difíciles en la vida, para montañas rusas.

Disneyland

De viaje a Alemania nos quedamos algunos días en París porque los niños querían visitar a toda costa Disneyland. Disneyland en francés podría resumirse como: salir del centro de París a la pampa francesa, llegar después de una hora de viaje, mostrar entradas por valor de 300 euros y esperar en todas partes.

Es necesario esperar incluso frente a atracciones simples, como las que hay en lugares similares – por ejemplo ese carrusel con tazones de café. En uno de los tazones podrían sentarse flojo cinco adultos o siete niños. Pero había sólo dos hindúes. Y en el otro, dos hindúes más. No tengo nada contra los hindúes (ni contra los paquistaníes, por supuesto) pero ocho hindúes en cuatro tazones de café – ¡eso es un escándalo!

Así es que se necesita una paciencia grandísima. Para un lugar como Disneyland fueron inventados los abuelos.

Para subir a la montaña rusa es necesario que los niños midan al menos 1,20 metros. A mi hijo le faltaban cinco milímetros y por eso lo volvieron a medir. Sorprendentemente no había crecido en estos 20 segundos. Dios mío, ¿a quién le gusta medir con tanta exactitud? A una chica de Alemania, ¡claro que sí! Cuando lo rechazó, mi hijo estaba a punto de llorar.

En un primer momento se me ocurrió la idea de tirar de él frente a la revisora: la mamá de sus manos y yo de sus piernas. Pero ratito después pensé en Carlos Menem, a quien cuando era presidente le gustaban los zapatos de tacón para disimular su baja estatura. Y pensé también en el alemán y su frase de que los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores.

Así que fuimos a la vuelta con mi hijo y yo llené sus zapatillas deportivas con todas las cosas que encontramos en nuestros cuatro bolsillos: un mapa de París, una bolsita vacía de pan, un pañuelo usado, caramelos, billetes de subte, tiques del supermercado, panfletos y piezas de Lego.

Él caminaba de forma un poco extraña pero orgulloso como Menem y sonreía de oreja a oreja cuando fue medido por tercera vez por la revisora. Después fuimos cuatro veces en la montaña rusa. Hasta que yo estaba mareado.

Tres golazos en un partido.

¡Ese es mi hijo!

Ciudad de Buenos Aires, 18 de agosto 2013 – El Día del Niño

Die Kindertagskolumne: Mein Sohn, sein blinder Vater und zwei Inder in der Kaffeetasse

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn sagt, er habe mal finnisch gesprochen. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Nun besitzt er bestimmt ein Talent für fremde Sprache, er kann Russisch und Spanisch, und wir haben auch mal eine Woche mit ihm bei einer Freundin in Helsinki verbracht. Aber da war er fünf. Monate. Die nächste Sprache, die er lernen will, ist übrigens Chinesisch. Er wird damit anfangen, wenn er neun ist – es dauert also nur noch eineinhalb Jahre.

Vielleicht verträgt er ja Argentinien nicht.

Helsinki

Der Deutsche, der in Buenos Aires lebt, aber Valencia vermisst, wo er fünf, sechs Jahre gearbeitet hat, hält nicht so viel von Argentiniern. »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger«, sagt er manchmal, und er meint das, obwohl er an sich ein intelligenter Mann ist, zu mindestens 80 Prozent ernst. Er weigert sich auch, argentinisches Spanisch zu reden, er lispelt das C und das Z, wie man das in Walennssija macht, und er sagt zum Beispiel kaje, obwohl Straße, also calle, bei uns hier kasche ausgesprochen wird. Er kennt ungefähr tausendmal mehr Wörter als ich, aber ich klinge dafür nicht wie ein spanischer Kolonialherr aus dem späten 18. Jahrhundert, der gerade mit seinem Segelschiff im Hafen von Buenos Aires angelegt hat.

Mein Sohn geht neuerdings mittwochs zum Fußballtraining, das von seiner Schule angeboten wird. Beim ersten Mal habe ich zugeschaut. Es beginnt damit, dass Sportlehrer Santiago um zwölf Uhr 120 Jungen abholt, von denen 95 ein Messi-Trikot tragen. Dann schnauzt er die Erst- bis Viertklässler erst mal an: »Es wird nicht gerannt! Ist das klar?« Daraufhin überqueren die Jungen im Zeitlupentempo die Straße, ein Schwarm von Stockenten wäre schneller drüben. Zurück bleibt ein Stau, lang genug, dass er es in Deutschland in die Verkehrsnachrichten der Radios schaffen würde.

Messi

Es werden dann Mannschaften gewählt, die auf acht Kleinstkunstrasenplätzen gegeneinander spielen. Als Zuschauer kann man gucken, wohin man will, die Teams versuchen sich an der gleichen Taktik: Alle auf den Ball! Mein Sohn hat an diesem Nachmittag, nun ja, unauffällig gespielt.

»Und hat’s Spaß gemacht?«, fragte ich nach dem Training.

»Und wie!«

»Was hat euch der Trainer eigentlich am Ende gesagt?«

»Dass wir gut waren, hat er gesagt, wir sollen nur mehr abspielen.«

»Super Trainer.«

»Hast du meine drei Tore gesehen, Papa?«

»Äh.«

Er kann die drei Tore nur geschossen haben, als ich damit beschäftigt war, die Schleife meines rechten Schuhs neu zu binden. Andererseits wäre das der schnellste Hattrick in der Geschichte des Weltfußballs. Er hat mir auf dem Heimweg auch haargenau und zehn Minuten lang seine drei Treffer nacherzählt. Vor dem ersten tänzelte er fünf Gegenspieler aus und traf dann mit links in die rechte Ecke. Beim zweiten verwandelte er einen Eckball mit Volleyschuss. Das dritte Tor erzielte er mit dem Kopf. Ich hatte ein bisschen Mühe, ihm zu folgen, weil ich die ganze Zeit an den Satz des Deutschen aus Walennssija denken musste.

»Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger« – das ist übrigens ein guter Satz, einer für die schwierigen Lebenslagen. Für Achterbahnen.

Neulich, auf dem Weg nach Deutschland, waren wir in Paris zwischengelandet, weil die Kinder unbedingt einmal Disneyland  besuchen wollten. Disneyland auf Französisch bedeutet, grob gesagt: eine Stunde rausfahren aus dem Pariser Zentrum ins Niemandsland, Eintrittskarten im Wert von fast 300 Euro vorzeigen und dann überall anstehen.

In die lange Schlange muss man selbst bei Attraktionen, die jedes schlechtere Volksfest zu bieten hat – etwa das Karussell mit den überdimensionierten Kaffeetassen. In eine Tasse passen fünf Erwachsene oder sieben Kinder, aber es sitzen nur zwei Inder drin. Und in der daneben auch nur zwei. Ich habe nichts gegen Inder (und auch nichts gegen Pakistanis). Aber acht Inder in vier Kaffeetassen – das geht einfach nicht.

Man braucht eine Wahnsinnsgeduld. Für einen Ort wie Disneyland wurden Großeltern erfunden.

Um überhaupt mit der Achterbahn fahren zu dürfen, muss man mindestens 1,20 Meter groß sein. Der Sohn endete bei 119,5. Es fehlten fünf Millimeter, woraufhin er auf meinen Wunsch von der Kontrolleurin noch einmal vermessen wurde. Gewachsen war er überraschenderweise nicht in der Zwischenzeit. Fünf Millimeter, wer misst denn bitte so genau? Ach, eine junge Deutsche, natürlich. Mein Sohn war den Tränen nahe, als er abgewiesen wurde.

Zunächst hatte ich die Idee, ihn in der Luft quer zu legen und vor den Augen der Kontrolleurin gemeinsam an ihm zu ziehen, seine Mama an den Händen, ich an den Beinen. Aber dann fiel mir Carlos Menem ein, Argentiniens Präsident von 1989 bis 1999, der gern Absätze trug, weil er von Natur aus eher klein ist. Und mir fiel der Deutsche ein und sein Satz: »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger.«

So ging ich mit meinem Sohn um die Ecke und stopfte ihm in die Turnschuhe, was wir in seinen und meinen vier Hosentaschen so fanden: den Stadtplan von Paris, eine leere Brottüte, ein volles Taschentuch, Bonbons, zerknüllte Fahrscheine, Kassenzettel, Flugblätter und Legosteine.

Er ging ein bisschen unrund, aber stolz wie Carlos, ließ sich ein drittes Mal vermessen und grinste die Kontrolleurin dabei an. Dann fuhren wir viermal Achterbahn. Bis mir schlecht war.

Drei Tore in einem Spiel.

Mein Sohn.

Buenos Aires, 18. August 2013 – Kindertag in Argentinien

Fußball, Gewalt und Sauerkraut

von CHRISTOPH WESEMANN

Meine Kinder mögen mir bitte verzeihen. Aber natürlich ist heute mein größter Tag gewesen. Gewiss, drei Geburten mitzuerleben war auch super. Aber was hatte ich damit zu tun? Um Missverständnissen und Vaterschaftstests vorzubeugen: Ich meine, mit dem Gebären an sich? Eben. Die Hebamme, 60 Jahre alt, 5000 Babys, hatte damals im Vorgespräch die Erwartungen an mich im Kreißsaal so formuliert: »Halt einfach die Klappe und lass uns machen.«

Das klingt leichter, als es ist – wenn man quasi zu allem eine Meinung hat.

Bild 1

Und heute bin ich in Olé. Olé ist das größte Sportblatt Argentiniens, also in einem nach Fußball überverrückten Land die wichtigste Tageszeitung. Was? Clarín? Pffff, schreibt Namen bedeutender Persönlichkeiten falsch.

Ich bin natürlich nicht so der Bühnenprofi. Einem Bühnenprofi passiert nämlich nicht, was mir zwei Stunden vor dem Auftritt am Dienstagabend passiert ist: Da kaufte ich mir eine Cola am Kiosk und ließ sie mir, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte, an der nächsten Ecke abnehmen. Ein Mann war mir entgegen gekommen. Ich kann mich an die Worte nicht mehr erinnern, aber er fragte ungefähr: »Krieg ich deine Cola?« Es klang nicht fordernd, eher leise und unsicher, und wir hielten auch gar nicht an, sondern ich übergab meine Flasche im Vorbeigehen. »Gracias«, sagte er noch. Ich war sprachlos. Auch über mich selbst.

Und dann meine Rede. La violencia en el fútbol alemán. Die Gewalt im deutschen Fußball. Hooligans und Affenlaute gegen schwarze Spieler, Daniel Nivel und neue Stadien. Mehr Polizei und die Frage: Kann der argentinische Fußball mit seinem viel größeren Gewaltproblem etwas von Deutschland lernen? Antwort: eher nicht. In Argentinien sind Politik und Polizei Teil des Problems.

Ich fand mich nicht gut, und das kommt ja selten vor. Da mich aber von den Zuhörern nur Lob erreicht hat und ich leichtgläubig bin, halten wir fest: Eine große Rede war das.

Foto konferenz

Mein Umfeld und ich rätseln jetzt noch, wie die Überschrift von Olé – »Y éste le puso chucrut« – zu verstehen ist. Ich habe fünf Argentinier gefragt und keine klare Übersetzung bekommen. Klar, chucrut ist Sauerkraut, und Sauerkraut ist für Argentinier typisch deutsch. Noch deutscher als Sauerkraut sind übrigens nur die Toten Hosen, wie eine andere argentinische Zeitung mal schrieb.

Die Überschrift könnte bedeuten: Er brachte das Sauerkraut, also die deutsche Perspektive, mit in die Konferenz.

Oder ich selbst bin das Sauerkraut.

Was Opa mal erzählen wird

von CHRISTOPH WESEMANN

Liebe Porteños,

ich werde heute Abend in Eurer Stadt, die längst auch meine geworden ist, einen Vortrag halten. Die argentinische Abgeordnete Cornelia Schmidt-Liermann will, dass ich erzähle, wie in Deutschland mit Gewalt im Fußball umgegangen wurde und umgegangen wird. Und was glaubt Ihr, habe ich auf die Frage, ob ich auf Deutsch oder auf Spanisch sprechen wolle, wohl geantwortet?

Genau.

Wisst Ihr, ich werde meinen Enkel noch davon erzählen, dass ich in Eurem Congreso de la Nación einen Auftritt hatte. Bueno, es ist der Fraktionssaal, in dem ich spreche, vielleicht auch nur ein angrenzendes Hotel, aber Ihr, Ihr wisst doch genau, wie das mit dem Übertreiben ist, oder?

Man erzählt’s nachher so oft, bis man direkt die Präsidentin unterrichtet hat – und es auch noch glaubt.

Übrigens: Als ich neulich in Córdoba war, ist mir aufgefallen, dass es Argentinier gibt, die man auf Anhieb versteht, weil sie nicht so ein Hauptstadthektiknuschelkuddelmuddelspanisch reden wie Ihr. Wenn Ihr also nachher etwas von mir wissen wollt, sprecht bitte deutlich und langsam. Benutzt nach Möglichkeit Wörter, die ich kenne, ich weiß, so viele sind das nicht. Lenkt mich bitte auch nicht mit übertriebenen Gesten vom Verstehen ab. Männer, knöpft Euer Hemd zu, damit ich nicht neidisch Brustfell gucken muss. Frauen, schmeißt Eure Mähne nicht so wild, ich bin verheiratet.

Ach, am besten fragt Ihr gar nichts, liebe Porteños.

Ich muss sowieso schnell weg. Die Kinder sind bei Freunden und Freundinnen, weil ich wieder ein paar Tage alleinerziehend bin. Auf mich wird gewartet!

Ach ja, lacht bitte über meine zwei Scherze, die ich eingebaut habe. Die sind wirklich gut. Ich habe jeweils dreißig Sekunden wildestes Gelächter eingeplant und werde mir auch noch zwei, drei Beruhigungsfloskeln auf die Handinnenseite schreiben. Lasst mich nicht hängen; ich habe zwar jemandem im Saal, der die Witze anlacht, aber nur er und ich, das wäre doch ein bisschen dürftig. Der erste Scherz kommt gleich am Anfang und geht auf Deutsch so: »Oh, Verzeihung. Entschuldigt bitte meinen starken Akzent. Es ist der Traum meines Lebens, zu sprechen wie ein Argentinier. Oder noch besser: wie ein Porteño.«

Brüller. Sag ich doch. Wie die größte Tageszeitung des Landes meinen Namen schreibt, ist aber auch einer: Herrjeh, da schaffst du’s einmal in Clarín, und dann heißt du Cristhoph Wesermann.

Pep Guardiola, los comegatos, el taxista que maldice y un hijo

von Christoph Wesemann y Moní (traducción)

Si Newell’s Old Boys de Rosario ganara la Copa Libertadores a fines de julio y después tuviera que jugar la final de la copa mundial des clubes contra Bayern en Marruecos, yo llamaría a Pep Guardiola para ofrecerle mis servicios de informante en forma gratuita (libre de impuestos).

He visto dos veces al equipo de la provincia de Santa Fe en vivo y en directo y ya puedo anticipar la forma de jugar de los comegatos. Naturalmente Pep está aprendiendo alemán. Pero para estar seguro de que entienda mis instrucciones acerca de la presión horizontal simultáneo con el desplazamiento vertical, vamos a hablar en su idioma. Sólo espero que con su castellano culto logre entender mi argentino popular con un fuerte acento porteño.

KatzeEsta vez Newell’s Old Boys, también llamado Ñuls, líder de la primera división tuvo que vérselas con el club capitalino All Boys del barrio de Floresta.

Juego de lunes por la nochecita. Tránsito de fin de jornada. Avenidas principales obstruídas. Calles laterales cerradas. Policías fumando a los costados. Unos pocos cientos de metros antes de llegar a destino, los tres carriles que se utilizan como si fueran cinco, se convierten en uno solo.

El taxista que está bien a la izquierda toca la bocina, abre el vidrio y señaliza con su dedo la necesidad de hablar.

¿Qué está pasando? El tachero larga de todo: durante medio minuto todos los insultos y maldiciones imaginables, todos hijos de puta, pelotudos, maldita obra, ¿me escuchás?, la c.… de tu hermana, la p… que me parió, me los paso todos por el forro …., estos idiotas.

Tenés razón, amigo. Gracias por la conversación.
»¿Escuchaste eso?«
»Si, cada palabra, papi.«

¿Pero a dónde tenemos que ir? Preguntemos al tipo joven con camiseta de All Boys cómo llegar al Estadio Islas Malvinas. Este nos responde enseguida con otra pregunta. »¿Querés ir a la entrada de Ñuls?«
»¡Hey, pará que yo no como gatos!«
Gran jajajajaja.

Claro, si uno se identifica como hincha del equipo local, tendría que encontrar el estadio de una. Por otra parte, tiene capacidad para 21 500. No es una cancha, es sólo una canchita, que bien se puede pasar por alto alguna vez.

Al final la capital vence a la provincia por 2:1. Y el niño de 7 aprovecha la ocasión del triunfo para insultar con un »hiiiijos de puuuuutaaa« a grito pelado a los invitados que se van retirando y la gente lo aplaude entusiasta.

Die Herkunft der angeblichen Quilmes-Läuse (Richtigstellung)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich entschuldige mich in aller Form bei den Fans des Quilmes Atlético Club für die Unterstellung, meinen Sohn neulich im Fußballstadion mit Kopfläusen versorgt zu haben. Ich wurde unzureichend eingebunden. Leider erst heute, also viel spät, hat mich die Schuldirektorin des Siebenjährigen korrekt informiert.

Betreff: Zweite Antiläuse-Session

Liebe Familien,

wir haben beobachtet, dass die Läusefälle in der Schule zugenommen haben. Wir setzen auf unsere Alltagserfahrungen und darauf, dass wir von Ihnen wissen, dass es sehr produktiv war, den gemeinsamen Kampf zu fördern. Wir schaffen es gemeinsam, zumindest für eine Zeit, den Ansteckungsherd zurückzudrängen.

Nachdem ein paar Monate vergangen sind, ist es jetzt nötig, die Aktion zu wiederholen. Deshalb bitten wir Sie, an diesem Wochenende bei Ihren Kindern eine Antiläusebehandlung vorzunehmen, die dann – wieder einmal – einmal erfolgreich ist. Auf unsere Teamarbeit!

Herzlicher Gruß

(Übersetzung von mir)

Ich trete als Kolumnist dennoch nicht zurück. Ich bleibe im Amt.

Auf Spanisch klingt die Rundmail so:

Queridas Familias:

Hemos observado que se han incrementado los casos de pediculosis en el Colegio. Basados en nuestra experiencia cotidiana y en aquello que muchos de Uds. nos han transmitido evaluamos que fue muy productivo promover un combate en conjunto. Logramos entre todos, al menos por un tiempo, disminuir los focos de contagio.

Pasados unos meses se vuelve necesario repetir la acción. Los invitamos entonces a que este fin de semana del 8 y 9 de junio les realicen el tratamiento antipediculosis a sus hijos para que triunfe, una vez más, ¡nuestro trabajo en equipo!

Un afectuoso saludo

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)