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Argentinische Spielsucht: Fußball mit Eisenbahnern, Tintenfischfressern und Anarchisten

von CHRISTOPH WESEMANN

Drei Tage. Drei Stadien. Drei Spiele. Zweite und dritte argentinische Liga. Ein Experiment, eine Zumutung und Selbstquälung. Wie verkaftet ein Mensch so viel üblen Fußball an so ungemütlichen Orten? Wo es keine Anzeigetafel und anderen Schnickschnack gibt, wo die Werbung der Sponsoren noch flattert und nicht flimmert, wo der Pass nur ankommt, wenn ihm der Weg nicht zu weit ist (maximal fünf Meter), wo der Verteidiger noch nach Blut grätscht, wo selbst die Nummer zehn den Ball unbedrängt verstolpert und der Spielmacher beider Mannschaften Zufall heißt?

  • Club Ferro Carril Oeste – Club Atlético Aldosivi
  • Club Atlético Defensores de Belgrano – Club Atlético Acassuso
  • Club Atlético Colegiales – Club Social y Deportivo Merlo

Angepfiffen werden die Partien jeweils um 17 Uhr, da freut sich bestimmt der Biorhythmus. Oder hat der damit gar nichts zu tun?

Erstes Spiel. Ferro Carril – Aldosivi 2:1.

Club Ferro Carril Oeste aus Buenos Aires spielt gegen Club Atlético Aldosivi aus Mar del Plata – oder auch: Der Tabellen-14. der zweiten Liga empfängt den 20. und damit Drittletzen. Wir sind im Stadtteil Caballito, dessen Name von einer Wetterfahne stammen soll. Als das Pferdchen um 1900 entstand, lag es am westlichen Rand von Buenos Aires. Heute ist das Viertel im Zentrum und mit 176 000 Menschen auf 6,8 Quadratkilometer nach Recoleta am dichtesten besiedelt.

Ferro war übrigens 1982 und 1984 argentinischer Meister und heißt auf Deutsch Westliche Eisenbahn, womit wir direkt im Geschichtsunterricht sind. Die ersten Fußballklubs waren nämlich im 19. Jahrhundert am Ausbau der Eisenbahnlinien in und um Buenos Aires beteiligt, weshalb viele Stadien bis heute entlang der damals entstandenen Strecken aufgereiht sind. Auch Ferro wurde am 28. Juli 1904 von 95 Eisenbahnern gegründet.

Als Welthauptstadt des Fußballs wird Buenos Aires ja gern bezeichnet – wegen der Fülle von Spitzen- oder wenigstens professioneller Mannschaften. Allein in der ersten Liga spielen derzeit sechs: All Boys, Argentinos Juniors, Boca Juniors, River Plate, San Lorenzo und Vélez Sarsfield. Aus dem Speckgürtel kommen vier weitere: Arsenal, Quilmes, Racing und Tigre.

Mein Sohn und ich sind ja bekanntlich Fans von Quilmes, dem Klub aus der Stadt des gleichnamigen Bieres. Meister waren wir auch schon, 1978, in meinem Geburtsjahr also. Außerdem haben wir den Papierschnipselregen beim Einmarsch der Mannschaft erfunden und sind der älteste Fußballverein des Landes.

Wieso bin ich überhaupt bei Ferro? Ach ja, Nelson, der Mann, der unsere Klimaanlage reparieren sollte, hatte mir den Besuch empfohlen – wegen des Stadions, nicht wegen des Fußballs. Ich verstand nicht genau, warum, es war ja auch viel zu heiß in der Wohnung. Das Ricardo-Etcheverri-Stadion, benannt nach seinem Architekten und  langjährigem Vereinsvizepräsidenten, ist jedenfalls ordentlich heruntergekommen und angerostet. Die Gegengerade war einmal, und in der Kurve steht man auf Holzplanken. Jemand, der viel repariert oder reparieren soll, guckt wohl mit anderen Augen.

Die Klimaanlage funktioniert natürlich noch nicht wieder.

Ich fotografiere gerade die Stehplatztribüne, als mir ein Breitschultriger ein Zeichen gibt, das bitte zu unterlassen. Er kommt noch extra auf mich zu. Hoppla, der hat ja mehr Tattoos als Zähne.

»Die Barra fotografiert man nicht, muchacho

Ja, die Barra Brava, die Wilde Horde, eine Mischung aus Ultras und Hooligans, gibt in jeder Beziehung den Ton an in argentinischen Stadien. Sie sorgt für die einzigartige Stimmung, für Gesänge und Musik. Leider sind viele der Chorknaben auch mindestens halbkriminell. Sie handeln mit allem, was sich zu Geld machen lässt, mit Drogen, Parkplätzen, Imbissständen und vor allem Eintrittskarten. Wenn es sein muss, bedrohen sie auch Spieler und Trainer. Gedeckt bis unterstützt werden sie von hohen Vereinsfunktionären, die im Hauptberuf oft Politiker sind oder es werden wollen. Diese Allianz sorgt dafür, dass die Gewalt in Argentiniens Fußball – fast 200 Tote seit 1939, 2012: zwölf, 2013: elf – kaum zu besiegen ist. Wenn‘s kracht, wenn Fäuste und Kugeln fliegen, geht’s ums Geld, ums Geschäft, nicht um Sport. In vielen Kurven rivalisieren verschiedene Barras.

»Okay, das mit der Barra wusste ich nicht.«

»Wo kommst du her?«

»Deutschland.«

»Dachte, du bist Bulle. Ich bin von der Barra.«

»¡Vamos Ferro!«

Das Schöne in Argentinien ist: Die Stadien sind uralt, und jedes sieht deshalb anders aus. Es stehen noch nicht diese hochmodernen Legoarchitekturarenen außerhalb der Stadt herum, die mehr Einkaufszentrum als Sportanlage sind. Bei uns spielen die Klubs auch noch in dem Viertel, in dem sie einst gegründet wurden. Jedes Heimspiel ist somit ein Nachbarschaftstreffen. Die Kinder bringt man mit und die Kinderwagen natürlich auch.

Ich schaue immer wieder nach links, wo gewöhnlich mein Sohn steht. Aber der ist ja mit dem Rest der Familie verreist. Er fehlt mir sosehr, auch als Zuhörer und Bewunderer meiner fundierten Analysen und immer konstruktiven Kritik an den Spielern. Die anderen Männer ohne Anschluss können immerhin mit sich selbst über das Spielgeschehen schreien. Würde ich auch gern machen. Aber Selbstgeschreie auf Spanisch mit deutschen Akzent – wie klänge das denn?

Flache 4, Falsche 9, Staubsauer und Doppelsechs, doppeln und Ball ablaufen, Tiki-Taka, Matchplan und anderer Krimskrams aus dem Akademikerfußball – das gibt es natürlich nicht in der Zweiten Liga. Hier ist volkstümlicher Fußball angesagt. Ferro und Aldosivi spielen, ganz klassisch, mit zwei Stürmern, und der Ball wird von hinten sehr weit nach vorn gedroschen. Selbstverständlich gelingt nicht alles, das meiste, ob Stoppen oder Schießen, misslingt sogar, es sind einfach zu viele Spieler mit zwei linken Füßen dabei. Aber um feinen und schnellen Fußball zu gucken, hat der Argentinier ja seine Nationalmannschaft und einen Fernseher mit Kabelanschluss für die Champions League und die Spitzenspiele aus England, Italien, Spanien und Deutschland.

In Spielminute 86 stehe ich schon am Ausgang. Zweimal 25 Minuten hätten mir auch gereicht.

Wenn Quilmes weiter so oft verliert und so selten gewinnt, steigen wir übrigens ab und spielen nächste Saison auch gegen Ferro Carril Oeste.

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Zweites Spiel. Defensores de Belgrano – Acassuso 0:0.

Wir steigen natürlich nicht ab. Ich habe gestern Abend Unsinn gefühlt. Selbst wenn wir absteigen sollten, steigen wir gleich wieder auf. Aber wir steigen ja nicht ab. Außerdem bleibt immer noch der ultimative Durch-dick-und-dünn-Spruch wahrer argentinischer Fußballfans: »Cuando ganas te quiero cuando perdes te amo.« – »Wenn du gewinnst, mag ich dich. Wenn du verlierst, lieb ich dich.«

Jetzt ist dritte Liga. Das Stadion von Defensores de Belgrano liegt direkt an der Avenida del Libertador, der 25 Kilometer langen Riesenstraße, die vom Norden in den Süden der Hauptstadt führt. Wir sind in Núñez, einem der wohlhabendsten Viertel, was der örtliche Fan gut zu verbergen weiß.

»Und für dich, Alter?«, fragt der Mann in der Imbissbude vorm Stadion.

Tja, normalerweise essen der Sohn und ich vor dem Anpfiff an einem der Grillstände entlang der Straße argentinisch: also chorípan, die Bratwurst im Brot. Ist natürlich nicht ohne: Ältere wie ich brauchen die komplette erste Halbzeit, um mit der Zunge alle Fettfleischreste aus den Zahnzwischenräumen zu holen. Aber hier gibt es ja nur paty, den beschränkten Hamburger: Fleisch, Brot, Ketchup und Mayonnaise. Das Salatblatt und die zwei Tomatenscheiben kann man sich ja dazu denken. Paty ist eigentlich unsere Pausenmahlzeit. Heute also erschwerte Bedingungen, der Magen wird sich hoffentlich umstellen können.

Wenn ich richtig zähle, wird das mein 15. Spiel sein. Für die Chronik alle bisherigen Partien, unsortiert:

  • Ferro Carril – Aldosivi 2:1
  • Vélez Sarsfield – Estudiantes 1:1
  • River Plate – Vélez Sarsfield 0:0
  • Argentinos Juniors – Godoy Cruz 2:1
  • Boca Juniors – Barcelona SC 1:0 (Copa Libertadores)
  • Quilmes – Newell’s Old Boys 1:1
  • Quilmes – San Lorenzo 3:2
  • Quilmes – Arsenal 0:1
  • Quilmes – Godoy Cruz 0:0
  • Argentinien – Peru 3:1 (WM-Qualifikation)
  • Platense – Morón 1:0
  • All Boys – Newell’s Old Boys 3:1
  • Racing – River Plate 1:0
  • San Lorenzo – Estudiantes 0:0.

Das schönste aller Spiele war Quilmes gegen San Lorenzo, den späteren Meister. Montagabend. Flutlicht. Winterkälte. Und wir besiegen einen der großen Fünf des argentinischen Fußballs1.

Hackentricks, Übersteiger, Seitfallzieher – nichts davon gelingt hier bei Defensores gegen Acasusso. Es ist wie mittwochs um 20 Uhr, wenn ich mit Fede, Pancho, Koala, Limon und den anderen Jungs kicke: Man will immer viel, aber Kunst ist bei uns eben nur der Rasen. Welche hohe Meinung man aber auch von sich haben muss, um zu glauben, man könnte, was nicht mal diese Jungs können, die immerhin dritte Liga spielen. »Beim Training muss jedes Talent seine Form finden, und es ist ein Zeichen von Intelligenz, keine Lösungen zu suchen, die die eigenen Möglichkeiten übersteigen«, schreibt Jorge Valdano in seinem Buch Über Fußball. Demnach sind Fede, Pancho, Koala, Limon und die anderen Jungs, ich also auch, eher dumm. Im WM-Finale 1986 gegen Deutschland schoss Valdano übrigens das 2:0 für Argentinien. Heute ist der einstige Mittelstürmer, Trainer und Manager als Fußballphilosoph unterwegs.

»Wer nicht hüpft, ist ein Tintenfisch«, singen die Fans von Defensores, was sich auf Spanisch natürlich reimt. Der Tintenfisch (El Calamar) ist der Anhänger des Club Atlético Platense, der ganz in der Nähe sein Stadion hat. Bei Platense, ebenfalls gerade Drittligist, waren der Sohn und ich natürlich auch schon. Ein Flutlichtspiel am 17. August 2013, im Winter also. Der Tintenfisch gewann gegen den Hahn, die Mannschaft von Deportivo Morón. Jaja, der argentinische Fußball und seine Spitznamen.

Niemand, ist doch klar, singt natürlich so schön wie Quilmes:

Ich komme aus dem Bierbrauerviertel
Aus dem Viertel der Drogen und des Karnevals
Ich folge dir, seit ich kleiner Junge war
Niemals werde ich dich verlassen
Denn so ist Quilmes
Man trägt es im Herzen
Diese Fans hätten’s verdient, Meister zu werden

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Drittes Spiel. Club Atlético Colegiales – Deportivo Merlo 1:3.

Heute wird es schwer, in der Masse unterzutauchen. Als ich 20 Minuten vor Anpfiff die Kurve betrete, bin ich Nummer 5 und werde von zwei Jungs zum Drogenkonsum eingeladen. Ich habe noch nie zuvor einen Fan von Colegiales getroffen. Ich kenne die nur aus Zeitung, weil im Oktober 2013 der Anführer ihrer Barra Brava erschossen wurde, während er vor seiner Haustür eine Messerstecherei mit einem Colegiales-Fan hatte. 500 Anhänger begleiteten den Leichenzug, randalierten unterwegs und bedrohten Journalisten.

Colegiales wurde übrigens 1908 in Buenos Aires von Anarchisten gegründet. Erst 40 Jahre später zog der Verein in den Vorort Munro um. Ich war ja auch mal Anarchist, in der elften Klasse. Ich hatte nicht viel Auswahl damals, mein Gott, es gab doch bei uns nur Anarchisten, HipHopper und Wedernochs.

Was für ein Tor! Lucas Buono, der Glatzkopf mit der 9, schlenzt gleich in der ersten Minute den Ball von der Strafraumgrenze in den Winkel. 1:0 für Colegiales. Langsam füllt sich die Tribüne, nach zehn Minuten ist auch der Trompeter endlich da. Bis jetzt wurde nur getrommelt. Auch Colegiales spielt übrigens in einem Stadion mit Hufeisenform, wie es sehr typisch ist für Argentinien: An einer Seite ist keine Tribüne, sondern eine Wand.

Zweite Halbzeit. Wenn die Spieler Durst haben, trinken sie aus einem Fünfliter-Wasserkanister. So machen wir das zu Hause auch, ist ja viel günstiger als diese kleinen Flaschen. Ich will nach Hause.

Aber zunächst muss ich mich noch über den Schiedsrichter empören. Der hat gerade Merlo einen Elfmeter gegeben, der einer war, aber keiner sein darf. »Schwaaaaaalbeeeeeee! Bist du blind, du Idiot? Hurensohn! Stricher! Das Geschlechtsteil deiner Schwester! Ich weiß, wo dein Auto …« Ich hole mir mal was zu essen.

»Wer bist du denn?«

»Was?«

»Wo kommst du her?«

»Wieso?«

»Na, wir kennen dich nicht.«

Was muss ich denn bitte noch tun, um nicht aufzufallen? Ich bin am Montagnachmittag beim Fußball, in der dritten Liga wohlgemerkt, und habe vorhin das Riesenbanner mit ausgerollt, ich beleidige den Schiedsrichter und esse ja sogar den Hamburger, der eine Minute in der nackten Hand des Grillmeisters verbracht hat. Soll ich mich vielleicht noch tätowieren lassen? Dann stelle ich mich den drei Jungs von der Barra halt vor. Sie verlieren schnell das Interesse an dem Deutschen, der sich als »Fanatiker des argentinischen Fußballs« ausgibt.

»Sehr gut, amigo

Es steht mittlerweile 1:3. Colegiales bleibt also Vorletzter in der dritten Liga. Wann pfeift der Schiedsrichter endlich ab? Wie lange lässt der Schwachkopf denn nachspielen? Die zweite Halbzeit dauert schon 65 Minuten, mindestens. Am dritten Tag wird wahrscheinlich jedes Spiel zäh. Es fehlt aber auch die Abwechslung. Der Chor reagiert ja überhaupt nicht aufs Geschehen; das Repertoire wird nur sauber herunter gesungen. Und die Trompete, tja, hmm, ich konnte nicht mal Triangel im Musikunterricht, aber ich weiß nicht, also die Trompete, die habe vielleicht auch schon reiner gehört in anderen Stadion – das ist nur knapp über dem Niveau von Stefan Mross seinerzeit.

Ich bin am Ende meiner Kräfte.

Nie wieder Fußball.

Nie wieder.

  1. Boca Juniors, Independiente, Racing, River Plate und San Lorenzo []

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

El chico que camina como Menem y está más loco que El Loco

von Christoph Wesemann y Moní (traducción)

Mi hijo dice que alguna vez habló finés. No recuerdo esto. Por supuesto tiene talento para las lenguas extranjeras, habla ruso y castellano. Y una vez estuvimos en la capital Helsinki para visitar a una amiga que vivia ahí. Pero en aquel entonces tenía cinco. Cinco meses. La próxima lengua que quiere aprender es chino. Empezará cuando tenga nueve, le falta un año y medio.

Tal vez no tolera a la Argentina.

Helsinki

Un alemán que desde hace poco está viviendo en Buenos Aires pero extraña Valencia, donde trabajó por cinco o seis años, no piensa bien de los argentinos. »Son fanfarrones, mentirosos y estafadores«, dice. Y lo dice en serio, al menos en un 80 por ciento. También se resiste a hablar castellano. Así que cecea las letras c y z como la gente en Valencia. Así por ejemplo dice caie, cuando en realidad aquí a la calle se le dice cashe. El conoce mil veces más palabras españolas que yo pero, por lo menos, yo no hablo como un conquistador del siglo dieciocho que tiene su velero atracado en el puerto de la ciudad de Buenos Aires.

Ahora mi hijo va todos los miércoles al entrenamiento de fútbol organizado por su colegio. La primera vez lo acompañé. A las 12 Santiago, el profesor de educación física, pasa a buscar a 120 escolares, de los cuales 95 llevan la camiseta de Leo Messi. Después despotrica con los chicos de seis a diez años y les dice: »¡No corremos! ¿Está claro?« Y … ¿qué pasa? Los chicos cruzan la calle a paso muy lento; una bandada de patos hubiera sido más rápida. Y generan un atasco de tránsito de tal magnitud, que en Alemania sería noticia por la radio.

Messi

Después se eligen equipos que se enfrentan en ocho canchitas. Como espectador se ve sólo que cada plantel juega con la misma táctica: ¡Todos hacia la pelota! Esa tarde mi hijo jugó sin pena ni gloria.

»Che, ¿cómo te fue?«, lo pregunté después del entrenamiento.

»¡Re-bien!«

»¿Y qué les dijo al final el entrenador?«

»Dijo que habíamos jugado bien y que teníamos que pasar mejor la pelota.«

»¡Gran DT!«

»¿Viste mis tres golazos, papá?«

»¿Qué?«

Heldenteams

Claro que puede haber metido los tres goles mientras yo estaba ocupado en atar el cordón de mi zapato derecho. Por otra parte, ese hubiera sido la tripleta más rápida del mundo.

En el regreso a casa me repitió exactamente el mismo relato de sus tres goles. Antes de hacer el primero había eliminado a cinco adversarios y pateado la pelota con la izquierda al ángulo derecho. En el segundo fue una volea después de un córner. Y el tercer gol lo hizo de cabeza. Me costó entender a mi hijo porque todo el tiempo me acuerdo del alemán de Valencia y de su frase: »Los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores« – es una buena frase, para situaciones difíciles en la vida, para montañas rusas.

Disneyland

De viaje a Alemania nos quedamos algunos días en París porque los niños querían visitar a toda costa Disneyland. Disneyland en francés podría resumirse como: salir del centro de París a la pampa francesa, llegar después de una hora de viaje, mostrar entradas por valor de 300 euros y esperar en todas partes.

Es necesario esperar incluso frente a atracciones simples, como las que hay en lugares similares – por ejemplo ese carrusel con tazones de café. En uno de los tazones podrían sentarse flojo cinco adultos o siete niños. Pero había sólo dos hindúes. Y en el otro, dos hindúes más. No tengo nada contra los hindúes (ni contra los paquistaníes, por supuesto) pero ocho hindúes en cuatro tazones de café – ¡eso es un escándalo!

Así es que se necesita una paciencia grandísima. Para un lugar como Disneyland fueron inventados los abuelos.

Para subir a la montaña rusa es necesario que los niños midan al menos 1,20 metros. A mi hijo le faltaban cinco milímetros y por eso lo volvieron a medir. Sorprendentemente no había crecido en estos 20 segundos. Dios mío, ¿a quién le gusta medir con tanta exactitud? A una chica de Alemania, ¡claro que sí! Cuando lo rechazó, mi hijo estaba a punto de llorar.

En un primer momento se me ocurrió la idea de tirar de él frente a la revisora: la mamá de sus manos y yo de sus piernas. Pero ratito después pensé en Carlos Menem, a quien cuando era presidente le gustaban los zapatos de tacón para disimular su baja estatura. Y pensé también en el alemán y su frase de que los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores.

Así que fuimos a la vuelta con mi hijo y yo llené sus zapatillas deportivas con todas las cosas que encontramos en nuestros cuatro bolsillos: un mapa de París, una bolsita vacía de pan, un pañuelo usado, caramelos, billetes de subte, tiques del supermercado, panfletos y piezas de Lego.

Él caminaba de forma un poco extraña pero orgulloso como Menem y sonreía de oreja a oreja cuando fue medido por tercera vez por la revisora. Después fuimos cuatro veces en la montaña rusa. Hasta que yo estaba mareado.

Tres golazos en un partido.

¡Ese es mi hijo!

Ciudad de Buenos Aires, 18 de agosto 2013 – El Día del Niño

Fußball, Gewalt und Sauerkraut

von CHRISTOPH WESEMANN

Meine Kinder mögen mir bitte verzeihen. Aber natürlich ist heute mein größter Tag gewesen. Gewiss, drei Geburten mitzuerleben war auch super. Aber was hatte ich damit zu tun? Um Missverständnissen und Vaterschaftstests vorzubeugen: Ich meine, mit dem Gebären an sich? Eben. Die Hebamme, 60 Jahre alt, 5000 Babys, hatte damals im Vorgespräch die Erwartungen an mich im Kreißsaal so formuliert: »Halt einfach die Klappe und lass uns machen.«

Das klingt leichter, als es ist – wenn man quasi zu allem eine Meinung hat.

Bild 1

Und heute bin ich in Olé. Olé ist das größte Sportblatt Argentiniens, also in einem nach Fußball überverrückten Land die wichtigste Tageszeitung. Was? Clarín? Pffff, schreibt Namen bedeutender Persönlichkeiten falsch.

Ich bin natürlich nicht so der Bühnenprofi. Einem Bühnenprofi passiert nämlich nicht, was mir zwei Stunden vor dem Auftritt am Dienstagabend passiert ist: Da kaufte ich mir eine Cola am Kiosk und ließ sie mir, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte, an der nächsten Ecke abnehmen. Ein Mann war mir entgegen gekommen. Ich kann mich an die Worte nicht mehr erinnern, aber er fragte ungefähr: »Krieg ich deine Cola?« Es klang nicht fordernd, eher leise und unsicher, und wir hielten auch gar nicht an, sondern ich übergab meine Flasche im Vorbeigehen. »Gracias«, sagte er noch. Ich war sprachlos. Auch über mich selbst.

Und dann meine Rede. La violencia en el fútbol alemán. Die Gewalt im deutschen Fußball. Hooligans und Affenlaute gegen schwarze Spieler, Daniel Nivel und neue Stadien. Mehr Polizei und die Frage: Kann der argentinische Fußball mit seinem viel größeren Gewaltproblem etwas von Deutschland lernen? Antwort: eher nicht. In Argentinien sind Politik und Polizei Teil des Problems.

Ich fand mich nicht gut, und das kommt ja selten vor. Da mich aber von den Zuhörern nur Lob erreicht hat und ich leichtgläubig bin, halten wir fest: Eine große Rede war das.

Foto konferenz

Mein Umfeld und ich rätseln jetzt noch, wie die Überschrift von Olé – »Y éste le puso chucrut« – zu verstehen ist. Ich habe fünf Argentinier gefragt und keine klare Übersetzung bekommen. Klar, chucrut ist Sauerkraut, und Sauerkraut ist für Argentinier typisch deutsch. Noch deutscher als Sauerkraut sind übrigens nur die Toten Hosen, wie eine andere argentinische Zeitung mal schrieb.

Die Überschrift könnte bedeuten: Er brachte das Sauerkraut, also die deutsche Perspektive, mit in die Konferenz.

Oder ich selbst bin das Sauerkraut.

Was Opa mal erzählen wird

von CHRISTOPH WESEMANN

Liebe Porteños,

ich werde heute Abend in Eurer Stadt, die längst auch meine geworden ist, einen Vortrag halten. Die argentinische Abgeordnete Cornelia Schmidt-Liermann will, dass ich erzähle, wie in Deutschland mit Gewalt im Fußball umgegangen wurde und umgegangen wird. Und was glaubt Ihr, habe ich auf die Frage, ob ich auf Deutsch oder auf Spanisch sprechen wolle, wohl geantwortet?

Genau.

Wisst Ihr, ich werde meinen Enkel noch davon erzählen, dass ich in Eurem Congreso de la Nación einen Auftritt hatte. Bueno, es ist der Fraktionssaal, in dem ich spreche, vielleicht auch nur ein angrenzendes Hotel, aber Ihr, Ihr wisst doch genau, wie das mit dem Übertreiben ist, oder?

Man erzählt’s nachher so oft, bis man direkt die Präsidentin unterrichtet hat – und es auch noch glaubt.

Übrigens: Als ich neulich in Córdoba war, ist mir aufgefallen, dass es Argentinier gibt, die man auf Anhieb versteht, weil sie nicht so ein Hauptstadthektiknuschelkuddelmuddelspanisch reden wie Ihr. Wenn Ihr also nachher etwas von mir wissen wollt, sprecht bitte deutlich und langsam. Benutzt nach Möglichkeit Wörter, die ich kenne, ich weiß, so viele sind das nicht. Lenkt mich bitte auch nicht mit übertriebenen Gesten vom Verstehen ab. Männer, knöpft Euer Hemd zu, damit ich nicht neidisch Brustfell gucken muss. Frauen, schmeißt Eure Mähne nicht so wild, ich bin verheiratet.

Ach, am besten fragt Ihr gar nichts, liebe Porteños.

Ich muss sowieso schnell weg. Die Kinder sind bei Freunden und Freundinnen, weil ich wieder ein paar Tage alleinerziehend bin. Auf mich wird gewartet!

Ach ja, lacht bitte über meine zwei Scherze, die ich eingebaut habe. Die sind wirklich gut. Ich habe jeweils dreißig Sekunden wildestes Gelächter eingeplant und werde mir auch noch zwei, drei Beruhigungsfloskeln auf die Handinnenseite schreiben. Lasst mich nicht hängen; ich habe zwar jemandem im Saal, der die Witze anlacht, aber nur er und ich, das wäre doch ein bisschen dürftig. Der erste Scherz kommt gleich am Anfang und geht auf Deutsch so: »Oh, Verzeihung. Entschuldigt bitte meinen starken Akzent. Es ist der Traum meines Lebens, zu sprechen wie ein Argentinier. Oder noch besser: wie ein Porteño.«

Brüller. Sag ich doch. Wie die größte Tageszeitung des Landes meinen Namen schreibt, ist aber auch einer: Herrjeh, da schaffst du’s einmal in Clarín, und dann heißt du Cristhoph Wesermann.

Die Herkunft der angeblichen Quilmes-Läuse (Richtigstellung)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich entschuldige mich in aller Form bei den Fans des Quilmes Atlético Club für die Unterstellung, meinen Sohn neulich im Fußballstadion mit Kopfläusen versorgt zu haben. Ich wurde unzureichend eingebunden. Leider erst heute, also viel spät, hat mich die Schuldirektorin des Siebenjährigen korrekt informiert.

Betreff: Zweite Antiläuse-Session

Liebe Familien,

wir haben beobachtet, dass die Läusefälle in der Schule zugenommen haben. Wir setzen auf unsere Alltagserfahrungen und darauf, dass wir von Ihnen wissen, dass es sehr produktiv war, den gemeinsamen Kampf zu fördern. Wir schaffen es gemeinsam, zumindest für eine Zeit, den Ansteckungsherd zurückzudrängen.

Nachdem ein paar Monate vergangen sind, ist es jetzt nötig, die Aktion zu wiederholen. Deshalb bitten wir Sie, an diesem Wochenende bei Ihren Kindern eine Antiläusebehandlung vorzunehmen, die dann – wieder einmal – einmal erfolgreich ist. Auf unsere Teamarbeit!

Herzlicher Gruß

(Übersetzung von mir)

Ich trete als Kolumnist dennoch nicht zurück. Ich bleibe im Amt.

Auf Spanisch klingt die Rundmail so:

Queridas Familias:

Hemos observado que se han incrementado los casos de pediculosis en el Colegio. Basados en nuestra experiencia cotidiana y en aquello que muchos de Uds. nos han transmitido evaluamos que fue muy productivo promover un combate en conjunto. Logramos entre todos, al menos por un tiempo, disminuir los focos de contagio.

Pasados unos meses se vuelve necesario repetir la acción. Los invitamos entonces a que este fin de semana del 8 y 9 de junio les realicen el tratamiento antipediculosis a sus hijos para que triunfe, una vez más, ¡nuestro trabajo en equipo!

Un afectuoso saludo

 

Pep Guardiola, die Katzenfresser, der fluchende Taxifahrer und ein Sohn

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn die Newell’s Old Boys aus Rosario Ende Juli die Copa Libertadores gewinnen sollten und dann im Weltpokalfinale in Tokio1 Marokko gegen die Bayern spielen, werde ich Pep Guardiola anrufen und mich als Informant auf Honorarbasis (steuerfrei) anbieten. Ich habe die Truppe aus der Provinz Santa Fe jetzt zweimal live gesehen und kann das Spiel der so genannten »Katzenfresser« lesen. Pep lernt natürlich deutsch, aber um sicher zu gehen, dass er meine Anweisungen zum horizentalen Pressing mit gleichzeitiger Vertikalverschiebung auch kapiert, werden wir in seiner Sprache reden. Ich hoffe nur, dass er mit seinem Gelehrtenspanisch mein eher volkstümliches Argentinisch mit starkem Buenos-Aires-Akzent auch versteht.

Diesmal hatten es die Newell’s Old Boys, der Tabellenführer der ersten Liga, auch Ñuls genannt, übrigens mit dem Hauptstadtklub All Boys aus dem Viertel Floresta zu tun. Montagabendspiel. Feierabendverkehr. Verstopfte Hauptstraßen. Gesperrte Nebenstraßen. Rauchende Polizisten am Rand. Ein paar hundert Meter vorm Ziel soll aus den drei Spuren, die aber benutzt werden, als wären es fünf, nun eine Spur werden. Der Taxifahrer ganz links lässt mal kurz die Hupe los, macht die Scheibe runter und zeigt mit dem Finger Gesprächsbedarf an. Was ist denn los? Er gibt alles: eine halbe Minute feinster Schimpfwörter und Flüche, alles Hurensöhne, Trottel, scheiß Baustelle, hörst du, die F**** deiner Schwester, die Hure, die mich geboren hat, sollen mir doch alle einen blasen, diese Idioten.

Recht hast du, mein Freund, danke fürs Gespräch.

»Hast du das gehört?«

»Jedes Wort, Papa.«

Aber wo müssen wir überhaupt hin? Fragen wir doch den jungen Mann im All-Boys-Trikot nach dem Weg zum Estadio Islas Malvinas. Der kommt gleich mit einer Gegenfrage. »Willst du zum Eingang von Ñuls?«

»Hey, ich ess‘ doch keine Katzen!«

Großes Hahaha.

Klar, wenn man sich als Fan der Heimmannschaft ausgibt, sollte man vielleicht das Stadion auf Anhieb finden. Andererseits: Fassungsvermögen 21 000. Das ist keine Cancha, das ist eine Canchita, die man durchaus mal übersehen darf.

Am Ende steht ein 2:1-Sieg der Hauptstadt über die Provinz. Und der Siebenjährige nutzt die Chance zum Triumphieren, beschimpft aus voller Kehle die abrückenden Gäste als »hiiiijos de puuuuutaaa« – und bekommt Szenenapplaus.

  1. Da verlasse ich mich mal wieder auf Lebenserfahrung (wie immer Tokio, wo denn sonst) und bekomme gleich eine dezente Kurznachricht mit Link von Leser Wacho_Chorro: »Morsche, zieh Deinen Bericht zurück. Dicker Fehler drin.« []

Der Fluch und die Läuse-Kolumne

von CHRISTOPH WESEMANN

Am 3. Juli 2012 kletterte ich mit meiner Frau und drei Kindern in ein Flugzeug, um die nächsten Jahre in Buenos Aires zu leben. In der Nacht, irgendwo über dem Atlantik, sagte ich River Plate ab und ließ mein Herz für die Mannschaft aus dem Hafenviertel schlagen. Als wir argentinischen Boden betraten und auf unsere 13 Koffer warteten, erfuhr ich, dass meine Boca Juniors am Abend das Finale der Copa Libertadores gegen Corinthians verloren hatten. Ich wusste zwar erst jetzt, dass wir so weit gekommen waren, war aber wegen der Niederlage augenblicklich zerstört. Ich wollte niedersinken und theatralisch trauern, aber dann kam das Gepäck, und wir mussten ja auch los. Juan Román Riquelme war zurückgetreten, der einzige Boca-Spieler, den ich kannte, ja, auch das noch.

Quilmes-Newell's 2

Quilmes-Newell's 3

Quilmes-Newell's 4

Quilmes-Newell's

In der Ligatabelle stehen jetzt Vereine vor uns, von denen ich bis vor einem Jahr noch nie etwas gehört hatte: Lanús. All Boys. Rafaela. San Martín. Angeblich gibt es sogar einen Klub namens Godoy Cruz, und der ist auch noch Fünfter. Wir sind Drittletzter. Wenn das so weitergeht, nehme ich, bevor wir nach Deutschland zurückkehren, noch Bocas Abstieg mit.

Es scheint ein Fluch auf mir zu liegen, wahrscheinlich bekomme ich eines Tages, wie die sieben schwarzen Katzen von Independiente im Racing-Stadion, einen Abschnitt bei Wikipedia, weil sich herausgestellt hat: Meine Sippe und mich mit 13 Koffern für ein paar Jahre nach Buenos Aires zu schicken war nur ein großes Komplott von River Plate.

Mein Sohn findet Boca auch gut. Ich habe mich auf gar keine Diskussion eingelassen, ich werde noch früh genug jeden Einfluss auf ihn verlieren, er lässt sich ja schon jetzt wenig von mir sagen, was seine Mutter übrigens überhaupt nicht schlimm findet.

Ich will es als Fußballphilosoph nicht übertreiben, aber es ist doch so: Ich habe es meinem Sohn leicht machen wollen. Boca ist ein Erfolgsklub: 24 Meisterschaften, nur ein Verein hat mehr, und es spielt gar keine Rolle, welcher. Die meisten Spiele im Leben gehen aber nun einmal verloren. Man will immer gewinnen, und meistens verliert man. Vieles ist Kampf und Krampf. Man lauert auf Großchancen, um sie dann zu vergeben. Und wer nie ausgewechselt worden ist, obwohl es gerade ziemlich gut lief, hat Entscheidendes verpasst: die Hoffnungslosigkeit, die Reha fürs kranke Herz und das Comeback.

 

Nun habe ich mit meinem Sohn einen anderen Verein besucht und darüber eine Kolumne geschrieben, als Gastbeitrag für das wunderbare Blog Argifutbol – Argentinischer Fußball auf Deutsch. Darauf wollte ich hinaus – und außerdem die übrig gebliebenen Textreste weiterreichen, man soll ja nichts verkommen lassen.

Ein Lausbub bei den Bierbrauern von Quilmes

Seit mein Sohn bei den Cerveceros gewesen ist, hat er Läuse. Wegen der angedeuteten Kausalität zwischen der Cancha von Quilmes und dem Kopfkratzen des siebenjährigen Kolumnistenkindes könnten mich die Bierbrauer aus der kleinen Stadt im Speckgürtel von Buenos Aires locker verklagen. Ich habe nämlich keine Beweise, ich kann nur sagen: am Abend Estadio Centenario, am Morgen Pediculus humanus capitis.

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Danü hat wieder zwei zauberhafte Bilder gemalt – eins zeige ich hier. Wir trafen nämlich die Katzenfresser aus Rosario.

Katze

Eine tolle Dokumentation mit deutschem Untertitel gibt es über den Quilmes Atlético Club und seine Fans übrigens auch.

Kinderquatsch mit Messi, der Mama von Fran und Onkel Siggi

von CHRISTOPH WESEMANN

Das fast vierjährige Vorschulmädchen schaut mit mir im Sportkanal Barcelona gegen Paris St. Germain, das Viertelfinalrückspiel der Champions-League. Barca liegt 0:1 zurück und braucht ein Tor, um das Halbfinale zu erreichen. Lionel Messi, als erster Spieler viermal in Folge Weltfußballer, soll eingewechselt werden und beginnt sich warmzuwachen. Der Argentinier ist noch verletzt und darf eigentlich nicht spielen.

 

»Kennst du Messi?«, frage ich.

»Ja!«

»Magst du ihn?«

»Ja!«

»Ist der gut?«

»Hm, ich glaube nicht.«

Zehn Minuten später tritt Messi einmal an, trickst zwei Spieler aus und bereitet den Ausgleich vor. »Einbeiniger Allmächtiger« titelt die Süddeutsche Zeitung zwei Tage später und staunt: Messi habe, obwohl erkennbar geschwächt und kaum fähig zu laufen, die »psychologische Balance des Spiels schlagartig« verändert. »Er kippte sie.« Stürmer David Villa wird mit dem Satz zitiert: »Messi entscheidet ein Spiel mit seiner alleinigen Präsenz.«

◊◊◊◊◊

Wir sprechen über das Verhältnis zu ihrem siebenjährigen Bruder.

»Weißt du, Papa, er sagt zu mir immer blöde Kuh.«

»Echt?«

»Ja. Und das ist doch ein schlimmes Wort, ja?«

»Eigentlich sind das sogar zwei schlimme Wörter.«

»Manchmal nennt er mich auch dumme Kuh

»Echt?«

»Ja!«

»Und was sagst du dann?«

»¡Cállate!« – Cállate heißt: Halt’s Maul!

◊◊◊◊◊

Die Eineinhalbjährige wird im Kindergarten nur Colo gerufen, eine Kurzform des Adjektivs colorado/a, was bunt, obszön und pikant, aber auch rot bedeutet. Ich frage mich natürlich schon länger, warum sie als einzige in der Familie rote Haare hat. Angeblich kommen die von Onkel Siggi, wobei ich auf diversen Familienfeiern nie einen Onkel Siggi getroffen habe. Scheint ein sehr entfernter Verwandter zu sein.

Die Rothaarige könnte außerdem allmählich anfangen zu sprechen. Sie versteht sehr viel, beherrscht aber bislang nur vier Wörter: hola, mamá (wie im Spanischen endbetont), Kitty und no. Die Kommunikation mit ihr ist nicht immer ganz einfach, obwohl ich sogar bilingual unterwegs bin.

»Hunger?«

»No.«

»Willst du was trinken?«

»No.«

»Queres tomar algo?«

»No.«

»Gibst du mir einen Kuss?«

»No.«

»Un beso?«

»No.«

»Soll ich dich küssen?«

»No.«

»Hast du Papa lieb?«

»No.«

»He!«

»Mamá.«

»Hunger?«

»No.«

 

◊◊◊◊◊

Der Siebenjährige erzählt ein paar Tage lang immer wieder, dass sein Schulfreund Fran ihn zum Spielen eingeladen habe. Es gibt für solche Fälle ein Verfahren: Die Eltern sprechen eine Einladung aus, indem sie entweder anrufen, wenn sie die Telefonnummer haben, oder beim Klassenlehrer einen kurzen Brief abgeben, den der wiederum ins Mitteilungsheft des Eingeladenen legt. Frans Eltern melden sich jedoch nicht. Ich habe die Angelegenheit gerade vergessen, als ich in der Schultasche des Sohnes einen beschriebenen und zum Kuvert gefaltenen Zettel finde:

Hallo Mama von Fran darf ich irgendeinen Tag (unlesbares Wort) bei euch übernachten er kann dann am Sonnabend bei mir schlafen

(Übersetzung von mir)

Brief an Mutter Fran

Im Klassenraum findet er tags darauf zehn Pesos, und vielleicht um Spuren zu verwischen, investiert er sie sogleich am Schulkiosk in Kartoffelchips. Sein Klassenlehrer ertappt ihn und schreibt mal wieder ins Mitteilungsheft. Das Geld gehöre nämlich Alejandro, der es verloren habe und morgen bitte zurückbekomme. »¡Muchas Gracias! Saludos, Juan.«

◊◊◊◊◊

In den vergangenen Wochen hat mein Sohn seinen Schimpfwortschatz erheblich erweitert. Mittlerweile kennt er alle handelsüblichen Beleidigungen und Flüche Argentiniens, und zwar sowohl auf Spanisch als auch auf Deutsch.

Lieber Leser, alter Schwachkopf, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie stolz ich bin.

Krieg im Klassenzimmer, ein falscher Robin Hood und vier Sekretärinnen: Meine letzte Woche mit 34 (Teil 2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Fortsetzung des ersten Teils: Zwischen Che Guevara und Günther Jauch

  • Mittwoch: Franco, eine Pralinenschachtel und die Betrunkenen von der Trbüne

Der erste Schultag nach den Osterferien: Die fast Vierjährige trägt Uniformteile ihres Bruders, es hat sein Gutes, wenn Vorschule und Schule zwar räumlich getrennt, aber doch eins sind. Am Mittag hole ich beide Kinder ab. Es ist ja auch der erste Vorschultag im Leben der Tochter. Neue Kinder, neue Erzieherin, neuer Ort. Außerdem hat es schon für Erstaunen gesorgt, dass wir sie am Morgen nicht hingebracht, sondern zu ihrem Bruder in den Schulbus gesetzt hatten. Sie wollte es so, und ich hatte nichts dagegen: Der Verkehr zwischen sieben und neun in Buenos Aires ist kein Vergnügen.

Der Siebenjährige kommt aus der Schule mit seinem besten Freund, der schon dreimal bei uns übernachtet hat. »Und, Franco«, frage ich, »besuchst du uns bald wieder?«

»Heute!«, sagt mein Sohn.

»Nein.«

»Bitte, Papa!«

„Geht nicht, Oma und Opa sind da. Wir haben kein Bett frei.«

»Dann morgen. Bitte.«

»Oma und Opa sind auch morgen noch da.«

»Wie lange sind sie denn da?«

»Bis Freitag!«

»Franco, dann kommst du am Freitag zu mir und übernachtest bei uns.«

Ich setze die Schwiegereltern und meinen Sohn in den Zug, es sind nur zwei Stationen nach Hause, und versuche noch mal, mit meiner Tochter die Vorschuluniform zu kaufen. Das Geschäft ist halb dunkel, aber geöffnet. Erst am Nachmittag, nach zwei Tagen, wird das Viertel wieder Strom haben. Im Kindergarten der Eineinhalbjährigen gebe ich einen Beutel ab. Die Erzieherinnen hatten die Eltern gebeten, Kinderkleidung zu spenden. In vielen Ecken der Hauptstadt wird an diesem Tag für die Überschwemmten in der Provinz Buenos Aires gesammelt.

Was machen argentinische Fußballfans, wenn die eigene Mannschaft schlecht spielt und die Partie sehr langweilig ist? Sie machen sich lustig über den Erzfeind, und der muss dafür nicht mal mitspielen.

Zum ersten Mal erlebe ich ein Spiel der Boca Juniors. Das Stadion – Traumziel vieler Groundhopper – heißt, wie es aussieht: La Bombonera, die Pralinenschachtel. Barcelona Sporting Club, Ecuadors Rekordmeister, ist zu Gast in der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions-League.

Boca schießt ein frühes Tor und bekommt danach nichts mehr hin. Also wird gesungen, und immer wieder dasselbe Lied, noch nach dem Schlusspfiff ist es im Treppenhaus des Stadions zu hören. Es macht ja auch Spaß, den großen Rivalen dafür auszulachen, dass der am 26. Juni 2011 erstmals in seiner 110-jährigen Vereinsgeschichte in die Zweite Liga abgestiegen war. Ein Jahrhundertereignis im argentinischen Fußball. Vergleichbar mit einem Abstieg der Bayern, mindestens. »Niemand, absolut niemand, wird in der Lage sein, diesen Tag zu vergessen«, schrieb damals Clarín, die größte Zeitung des Landes.

Schon nach der Niederlage im ersten Entscheidungsspiel drei Tage zuvor in Córdoba hatten Fans von River ihre Spieler über den Platz gejagt. Im Rückspiel begannen Hooligans des berüchtigten Fanclubs Los Borrachos del Tablón (Die Betrunkenen von der Theke Tribüne1) noch vor dem Abpfiff, das eigene Stadion zu zerlegen. Der Schiedsrichter beendete die Partie nach 89 Minuten.

 

Draußen gab es stundenlange Straßenschlachten mit mehr als 2000 Polizisten, Autos brannten, Restaurants wurden geplündert. Ein Jahr später kehrte River Plate aus der Primera B Nacional zurück – doch die Schmach bleibt. Und bei Boca, das selbst eine schwer kriminelle und gewaltbereite Fanszene hat, erfreut man sich bis heute am in jeder Beziehung peinlichen Abschied des Feindes aus der Ersten Liga.

(Ich danke meiner Leserin Mónica und Andreas von Argifutbol für die Tipps beim Übersetzen.)

  • Donnerstag: 100 Pesos und die Sache mit den Inseln

Ich habe heute Euren Sohn am Schulkiosk erwischt. Er hatte 100 Pesos in der Hand und wollte Süßigkeiten kaufen, um sie mit seinen Kumpels zu teilen. Wir sagen den Kindern immer, dass sie kein Geld mitbringen sollen, um sich irgendwas zu kaufen. Es gibt bei so etwas nur Probleme und Missverständnisse. Bitte helft uns und vermeidet es, ihm so viel Geld mitzugeben. Vielen Dank! Grüße, Juan.

Eintrag des Klassenlehrers im Mitteilungsheft

Ich befrage gleich den falschen Robin Hood, der’s dem Armen nimmt und den Reichen gibt, also von unten (Kolumnenschreiber) nach oben (Anwaltskinder) umverteilt. Beim Sprechen muss ich mein Gesicht immer wieder wegdrehen, um mein Grinsen zu verbergen. Ich sehe vor mir, wie dieser Zwerg auf dicke Jogginghose macht und breitbeinig zum Kiosk marschiert. Er gibt auch gleich alles zu und hat kein schlechtes Gewissen.

»Ich hatte Hunger.«

»Was wolltest du denn kaufen?«

»Wieso wollte?«

»Du hast gekauft?«

»Ja.«

»Was denn?«

»Eis, Chips, ein Sandwich, eine Fanta. Ich hatte Hunger, Papa!«

»Du hattest Brot mit.«

»Ich hatte großen Hunger.«

Las Malvinas an der Wand des Präsidentenpalasts

Ich frage, was es sonst Neues gebe.

»Wir haben über diese Inseln gesprochen.«

»Die Malwinen

»Ja.«

»Und? Erzähl mal!«

»Ähm, also, die Engländer … «

» … die verdammten Engländer, mein Sohn … «

» … haben Inseln, die eigentlich Argentinien gehören. Und da hat Argentinien einen Krieg angefangen … «

» … am 2. April 1982, gestern vor 31 Jahren … «

» … und den verloren. Deshalb haben die verdammten Engländern immer noch die Inseln.«

»Aber die Malwinen waren, sind und bleiben argentinisch! Las Malvinas fueron, son y serán argentinas! Merk dir das!«

»Weiß ich doch. Hat Juan auch gesagt.«

»Ist ein guter Lehrer! Und warum gehören die Inseln Argentinien?«

»Weil sie neben Argentinien sind.«

»Bist ein guter Junge!«

Ein Arbeitsblatt aus dem Schulheft des Sohnes. Der Erklärtext oben lautet übersetzt: »Vor langer Zeit wurden unsere Malwineninseln von Großbritannien besetzt. Am 2. April 1982 wollte die argentinische Regierung sie militärisch zurückholen. So begann ein Krieg, in dem unser Land besiegt wurde.« Anmerkung von mir: Die argentinische Regierung zu dieser Zeit war eine sehr brutale Militärdiktatur, die brutalste aller Diktaturen in Südamerika. Die Lehrerin zeigt auf die Weltkarte und sagt: »Das hier sind unsere Malwineninseln.«

 

  •  Freitag: Eine Stirnbeule, vier argentinische Sekretärinnen und Homer Simpson

»Wenn Franco heute kommt, schaffe ich es nicht mehr, das Geschenk zu kaufen, das du dir zum Geburtstag wünschst«, sagt der Siebenjährige am Morgen und ist den Tränen nahe. Ach ja, die Kinder sind aufgeregter als ich.

»Mir fällt schon was ein«, sage ich.

Ich kaufe zwei Homer-Simpson-Plastikfiguren im Trikot der Boca Juniors, eine für meinen Schwiegervater, eine für mich.

Um 13 Uhr, als sich die Schwiegereltern gerade verabschieden, ruft die Schulsekretärin an. Mein Sohn sei im Flur vor dem Klassenraum beim Herumrennen, was selbstverständlich nicht erlaubt sei, von einem anderen Jungen zu Fall gebracht worden und habe sich verletzt. Es gehe ihm aber ganz gut. »Willst du vorbeikommen und ihn abholen?«, fragt die Sekretärin »Oder soll er um vier mit dem Bus nach Hause kommen?«

Ich winde mich etwas. Ich habe meine Schwiegereltern gestern acht Stunden durch die Stadt geführt und sie abends noch zu einer Tangoshow begleitet. Ich habe die vergangenen vier Nächte im Schnitt nur vier Stunden geschlafen. Außerdem ist es heute noch einmal irre heiß. Eigentlich will ich jetzt nicht das Haus verlassen. Ich würde gern ein bisschen lesen und Mate trinken, bis um fünf die Familie einfällt. Es geht ihm doch gut, hat sie gesagt. Er sagt das sogar selbst, ich frage extra noch mal nach.

»Ich muss Bescheid sagen, verstehst du?«, fragt die Sekretärin.

»Ja, klar.«

»Und die meisten Eltern kommen in solchen Fällen sicherheitshalber vorbei.«

»Okay, ich muss noch was erledigen, bin aber in eineinhalb Stunden da.«

Ich kann gar nicht so viel Mate trinken, wie ich kotzen möchte.

Mein Sohn hat eine rote Beule auf der Stirn und ist total gut drauf. Franco steht neben ihm und freut sich auch schon, er darf nämlich, weil er bei uns übernachtet, die letzte Stunde mitschwänzen. Seine Mama hat es erlaubt, erfahre ich von der Sekretärin.

Augenblick, wieso noch Unterricht? Ich dachte immer, nachmittags wird nur Fußball gespielt.

»Unterricht ist bis 16 Uhr.«

Plötzlich stehe ich im Sekretariat, vier Frauen um mich herum, vier junge Frauen, vier argentinische Frauen. Ich soll jetzt schnell entscheiden, was mit den beiden Schülern wird, und bin natürlich überfordert. Vier! Frauen!

Wenn ich die beiden Jungs gleich mitnähme, so kalkuliere ich, wären wir gegen drei zu Hause. Zehn nach drei wäre Chaos in der Bude; die erste Randale gäbe es um halb vier. Gegen halb fünf wäre ich eingekesselt.

»Die bleiben!«

Dem Simulanten und seinem Helfershelfer wird das sogleich mitgeteilt. Sie haben schon ihre Schultaschen geschultert und stehen abmarschbereit vor mir. Nix da, Freunde. Proteste. Tränen. Androhung psychischer Gewalt. Ich flüchte ins Café.

Eine E-Mail von Tomás, der die Karten für das Boca-Spiel besorgt hatte.

Estimado Christoph, como andan? Fue muy grato el momento pasado juntos en la cancha, junto al pequeño y tu suegro, un caballero al igual que vos. Te agradezco mucho las fotos, y también la pasión por los colores de nuestro querido equipo. Volveremos a la cancha. Ustedes son buenas personas con valores y un gran corazón, son nuestros amigos muy queridos.

Un gran abrazo. Tomás.

Geschätzter Christoph, wie geht’s Euch? Die Zeit mit euch im Stadion war großartig, mit dem Kleinen und deinem Schwiegervater, einem Gentleman, wie es Du es bist. Ich danke Dir sehr für die Fotos – und für die Leidenschaft für die Farben unserer geliebten Mannschaft. Wir gehen bald wieder zusammen ins Stadion! Ihr seid wunderbare Menschen mit Werten und einem großen Herzen, ihr seid unsere geliebten Freunde.

Sei fest umarmt. Tomás.

Ich könnte das nicht so poetisch formulieren, fühle mich aber sehr gut beschrieben.

  • Sonnabend: Zwei Geschenke zum 35. und ein Hosenkauf

Sind heute mehr Haare als sonst nach dem Duschen in der Badewanne? Ich bin jetzt 35 und fühle mich keinen Tag jünger.

Zum Geburtstag bekomme ich von meiner Familie ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten Pinguin, der eine Krawatte trägt, und die Homer-Simpson-Figur im Trikot der Boca Juniors. Ich bin gerührt.

Mir wird überdies versprochen, dass ich im Laufe des Tages statt einer Geburtstagstorte noch eine kleine Tüte meiner Lieblings-Medialunas überreicht bekäme, was freilich auch im Laufe des Tages vergessen wird. Ich komme sowieso nicht zum Essen, sondern muss die fast Vierjährige und den schon Siebenjährigen zum Russischunterricht ans andere Ende der Stadt bringen. Sie haben diese Sprache gelernt, richtig gelernt, erst in der Ukraine, dann in einem deutsch-russischen Kindergarten in Berlin, nicht wie ich einst in der Schule kurz vor dem Zusammenbruch der DDR. Mein Sohn spricht akzentfrei Russisch, und ich empfinde das als Privileg, das es zu bewahren gilt.

Franco kommt natürlich mit, er bleibt ja bis Sonntag bei uns, vielleicht auch bis Montag, alles ist möglich. Seine Mutter sagt am Telefon: »Wie ihr wollt. Wenn ich ihn abholen soll, ruft an.«

Ich hetze ihn durch die Straßen, weil ich zwei neue Hosen brauche. Erst friert Franco und teilt mir das alle zwei Minuten mit. Er trägt aber weder Jacke noch Socken. Ich versuche, Franco in meinem Windschatten gehen zu lassen, die Radrennfahrer machen das doch auch so, Belgischer Kreisel, und verlaufe mich dabei. Und der argentinische Wind pfeift auf meinen Belgischen Kreisel und dreht die ganze Zeit. Ein Hosengeschäft finden wir auch nicht.

Erst auf dem Nachhauseweg kommen wir zufällig an einem Laden vorbei. Zwei alte Herren bedienen. Man kann so was gar nicht erfinden: Der eine ist Fan von Racing Club, der andere von Independiente. Wohl nirgendwo auf der Welt sind sich zwei verfeindete Fußballklubs so nahe wie in Avellaneda, einem Vorort von Buenos Aires. Nur 300 Meter trennen die beiden Stadien, von der Tribüne des einen kann man das andere sehen. Maximal vier Meter trennen den Racingfan vom Independientefan, größer ist der Hosenladen nicht. Sie arbeiten jeden Tag miteinander und teilen vielleicht noch mehr, ich würde das nicht ausschließen. Die Vierjährige beginnt gleich, die Frontscheibe des Kassenschranks abzulecken, und die beiden Siebenjährigen wollen unbedingt den Krawattenständer umstoßen.

Der Racingfan legt seine Zigarette beiseite, reicht mir zwei schwarze Hosen und raucht weiter. Die eine passt sofort, die andere wird in drei Tagen gekürzt sein. Die drei Kinder, die ich mitgebracht habe, sind inzwischen ein schreiendes Knäuel auf dem Boden. Ich ermahne sie, ich erpresse sie mit McDonald’s, ich bitte um Ruhe, nichts hilft. Die armen Hosenverkäufer.

Zum Glück bin ich fertig und habe das Geld schon in der Hand. Der Racingfan lässt mich nur noch ganz schnell und absolut unverbindlich eine Strickjacke anziehen, die wunderbar zu meinen neuen Hosen passen würde. Und einen Gürtel, auf dem Argentina steht und zwei Pferde abgebildet sind, findet er auch zufällig. »Halt den mal an, muchacho, ist doch irgendwann eine tolle Erinnerung an dein Leben in Buenos Aires.« Che, und dieses T-Shirt, das ganz neu reingekommen ist, fühl mal, 100 Prozent irgendwas, wahrscheinlich Baumwolle, das schenkt er mir fast, ich wäre regelrecht blöd, das hier zu lassen.

Dann zündet er sich eine neue Zigarette an und tippt auf dem Taschenrechner alles zusammen, zwei schwarze Hosen, schwarzer Gürtel mit zwei Pferden, schwarzes T-Shirt, schwarze Strickjacke, er nennt eine Summe und fragt sicherheitshalber, ob ich schon einen guten Anzug hätte. Ich überlege tatsächlich einen Augenblick.

»Ich habe drei und trage keinen davon«, sage ich, und das stimmt sogar.

Kann sein, dass ich am Ende, mit all den großzügig gewährten Rabatten und Fast-Geschenken, mehr bezahle, als wenn der Racingfan die offiziellen Preise einfach addiert hätte. Aber zum einen wälzt sich das Knäuel immer noch schreiend, nun aber auch Schimpfwörter ausspuckend, über den Boden. Ich weiß wirklich nicht, was das für Verrückte sind, die sich vier Kinder anschaffen. Zum anderen: Gute Geschichten gibt es nun mal nicht umsonst.

Ende.

  1. Oh, wie peinlich: »Maestro, ich muss Dich schweren Herzens korrigieren«, schreibt mir Andreas von Argifutbol. »Los tablones sind Holzelemente/-bretter oder -dielen, aus denen früher die Stadien errichtet wurden. Dementsprechend sind Rivers .. .die gehen ja auch ins Stadion und nicht in die Bar.« []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)