Archiv für das Thema ‘Alltag’

Der sechste Geburtstag, drei Rülpser und die deutsche Deklination

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Sechsjährige hat Geburtstag, und weil meine Frau wieder verdienstreist ist, es also keine Torte geben wird, habe ich ihr versprochen, sie samt kleiner Schwester und großem Bruder zum Abendessen auszuführen. Riesige Vorfreude. Der Aufbruch verzögert sich allerdings, denn mein ausgefeiltes und sehr ökonomisches System der Haushaltsführung hat sich nach zwei Tagen ohne Mama noch nicht komplett herumgesprochen. Kleider werden gesucht und nicht gefunden.

»Wäschekorb, Mädels!«

Der Neunjährige zieht ohnehin an, was er immer anzieht: ein Fußballtrikot. Heute ist es Barcelona. Morgen wird Bayern dran sein, danach Boca, James (Kolumbien, Nr. 10), Quilmes, Argentinien, dann wieder von vorn. Er weiß natürlich, wo er nicht zu suchen braucht.

»Mensch Mädels, eure Kleider sind doch nicht im Kleiderschrank.«

Die Dreieinhalbjährige freundet sich gleich mit der jungen Kellnerin an, kritzelt ein Blatt voll und überreicht ihr feierlich das dadaistische Gemälde, zieht ihr dann, während der Nachbartisch bestellt, an der Bluse und kräht durchs ganze Restaurant: »Gibt es alkoholfreies Bier?«

Jeder will am liebsten eine eigene Pizza. Muss ich denn immer wieder bei null anfangen? Zuhören, Ohren auf:

In Argentinien wird im Restaurant geteilt. Und warum? Weil das Essen ein sozialer Akt ist! Es geht nicht nur um die Nahrungsaufnahme. Der Dicke, der neulich unser verschimmeltes Parkett ausgewechselt hat, ihr wisst schon, wen ich meine, der sagt: »Das Schönste am Grillen ist nicht das Essen, sondern das Vorspiel. La previa. Feuer machen, mit den Freunden am Grill stehen, bisschen was trinken, erzählen, lachen, das Leben genießen.« Verstanden, Kinder?

Die Verhandlungen beginnen. Die Dreieinhalbjährige hält sich raus und geht zum Tisch am Fenster, um das Rentnerpaar vollzuquatschen. Sie breitet ihr halbes Leben aus, es kommt so ziemlich alles zur Sprache, wie es Sitte ist in diesem Land. Argentinische Münder entleeren sich ja gern vor Wildfremden, und die wiederum hören das gern. Ich greife erst ein, als es um »la panzita de mi papito lindo« geht, das »Bäuchlein meines hübschen kleinen Papis«. Man ahnt ja, wohin das noch führen könnte.

In Buenos Aires gibt es inzwischen mehr viel mehr pizzerías als parillas (Steakrestaurants) − 752 zu 555. Angeblich werden in der Hauptstadt jeden Tag 39 000 Pizzas gegessen, 14 Millionen im Jahr. Es ist eine Sache des Geldes. Die Fleischpreise haben sich allein zwischen 2009 und 2012 verdreifacht und sind seitdem weiter gestiegen. Ein Abendessen mit der Familie in der Pizzeria kostet deutlich weniger als in der Parrilla.

Viertel ohne strom

> Viertel ohne Strom

Wir haben gerade angefangen zu essen, als das Licht ausgeht. Es brennen nur noch drei Notleuchten an der Wand, und auf der Straße ist alles schwarz. Es ist nicht so, dass das irgendjemanden im Lokal überraschen oder gar verstören würde. Man nimmt den Stromausfall zur Kenntnis, kommentiert wird er nicht. Ich bereite die Kinder darauf vor, dass auch zu Hause kein Licht sein wird. Das haben sie sich schon gedacht. Man hört das Brummen der Dieselgeneratoren.

Die Bühne betritt jetzt der Verrückte unseres Viertels, ich weiß natürlich, was geschieht. Er hat eine Weile und vermeintlich unauffällig gelauscht und eine fremde Sprache vernommen. Zunächst hält er mich – wegen meines Akzents – für einen Franzosen. Wie immer verbitte ich mir das. Dann sagt er auf Deutsch: »Die deutsche Deklination ist sehr schwerrrrr. Tschüss. Sagt man so?«

Señora, die Rechnung, bitte!

Der Neunjährige rülpst, wie noch nie ein Neunjähriger gerülpst hat. Er ist ganz stolz auf sich, gibt zwei Zugaben und will das gleich Mama erzählen. Er nimmt mein Handy, fängt an zu tippen, bricht ab und fragt: »Kann man das Ö auch mit oe schreiben?«

Beim Warten auf das Wechselgeld lese ich die Nachricht meines Sohnes:

Rülps
Drei Stunden später ist der Strom wieder da.

Grillen wie ein Argentinier – der Film

von CHRISTOPH WESEMANN

Über den patagonischen Pilz einer Hure, der seit fast vier Monaten in meinem Ohr lebt

von CHRISTOPH WESEMANN

 
Rückblick. 24. Dezember 2014.

Ich bin mit der Familie im Sommerurlaub. Wir wollen mit dem Auto von Buenos Aires bis nach Santiago de Chile fahren und wieder zurück. Wir sind seit einer Woche unterwegs und heute, am Heiligen Abend, in Villa El Chocón, einem Örtchen in der Erdöl- und Dinosaurierprovinz Neuquén, 1219 Kilometer entfernt von zu Hause.

Villa El Chocon

Villa El Chocon 2

Die Stimmung könnte schlechter kaum sein, und in offener, also nicht geheimer Abstimmung stellt die Familie mit deutlicher Mehrheit (4:1) fest: Das liegt am Vater. An mir?

Okay, meine Betriebstemperatur ist cholerisch, und die habe ich schon vor Tagen erreicht, im Grunde gleich in den ersten Minuten auf der Autobahn. Es gibt nämlich haufenweise Argentinier, die ein Leben lang Überholspur fahren und ein Leben lang auch nicht in den Rückspiegel gucken. Ich blinke, ich lichthupe, meine Finger und Hände weisen den Fahrer − este hijo de puta1, diesen Hurensohn also − sehr bestimmt auf sein falsches Verhalten im Straßenverkehr hin. Ich könnte rechts überholen, wie’s die anderen machen, die Spur ist ja komplett frei.

Aber das sehe ich gar nicht ein.

Vom Beifahrersitz: ein Schnaufen.

»Schatz, man kann sich nicht alles gefallen lassen.«

»Aber der weiß doch überhaupt nicht, was du von ihm willst, du mit deinem Rechts-fahr-gebot

Hospital

Außerdem tut seit Tagen mein linkes Ohr weh. Tropfen. Alkoholtupfer. Bier. Viel Bier. Nichts hilft. Also schauen wir  im Dorfkrankenhaus von Villa El Chocón vorbei. In der Ambulanz wird heute tatsächlich gearbeitet, es streunt jedenfalls ein Pfleger herum. Der guckt ins Ohr und diagnostiziert: einen Pilz. Mit dem rechten Ohr, dem gesunden, höre ich den anerkennenden Jubel der im Untersuchungszimmer versammelten Familie. Man ist ausnahmsweise stolz auf das Familienoberhaupt. Tenor: Andere haben sowas am Fuß – unser Alter hat’s im Ohr.

»Muss ich sterben?«

Der Pfleger schaut meine Frau an, grinst und sagt, und zwar zu ihr: »Damit kann ich dir leider nicht dienen.«

»Und wenn er ein paar Tage auf Station bleibt, zur Beobachtung und so?«

»Ich verstehe. Aber, nein, tut mir leid.«

Die beiden sind kurz zuvor, sich abzuklatschen. Ich räuspere mich. Wollten wir nicht heute noch Dinosaurierknochen ausgraben mit den Kindern?

Der Pfleger ruft den Arzt an, um zu fragen, was zu tun sei, kommt wieder und bereitet eine Spritze vor.

»In den Arsch?«, frage ich.

»Da wirkt es nicht so schnell.«

Der Pfleger bindet den Oberarm mit einem Gummihandschuh ab und spritzt etwas Schmerzlinderndes. Der Wattetupfer, den er gleich auf die Einstichstelle kleben wird, klebt schon an seinem Kittel. Der Achteinhalbjährige schaut vorbei und fragt: »Warum nicht in den Arsch?«

Eine halbe Stunde später beginnt sich der Schmerz zurückzuziehen.

♦♦♦♦♦

15. April 2015.

Ich warte im Hospital Alemán, dem deutschen Krankenhaus in Buenos Aires, wo allerdings spanisch gesprochen wird, dass die Nummer 108 aufleuchtet. Noch steht auf der Anzeigetafel die 107. Ich wollte schon vor Tagen hier sein, weil das linke Ohr entweder schmerzt oder leicht taub ist. Aufgehalten hat mich das Wort otorrinolaringólogo (Hals-Nasen-Ohren-Arzt), das ich bei der Anmeldung ja vorbringen müsste. Dachte ich.

Es reichte dann aber der Versuch, es auszusprechen.

108! Zimmer 32. ¡Vamos!

Dr. Curi lässt sich kurz erklären, was mit mir los sei, und scheint zu verstehen. »Komm mit!«, sagt er. Er geht ins Nebenzimmer, legt mich dort − weil ich es selbst mangels Intelligenz nicht hinbekommen habe − »mit dem Kopf nach oben« auf die Pritsche und schaut zunächst ins gesunde rechte Ohr, dann ins kranke linke. Dann saugt er mit einem Schlauch sehr gründlich herum. Es knirscht.

»Un hongo«, sagt er schließlich.

Ein Pilz. Aha.

Mein Pilz.

Aus Patagonien.

Der hat also überlebt.

Dr. Curi verschreibt mir Dermizol Trio (»du nimmst drei Tropfen alle zwölf Stunden«) und entlässt mich mit Handschlag. In drei, vier Tagen erwartet er mich zur Nachkontrolle.

Wir kriegen Dich, diesmal kriegen wir Dich, hongo de puta!

Tropfen

  1. sehr häufiger Fluch in Argentinien []

Ein Herzensargentinier im Exil (3): Auferstanden in Ruinen und der Kakerlake zugewandt

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Herr T. hat ein Jahr in Buenos Aires gelebt. Der Leser des Argentinischen Tagebuchs kennt ihn vor allem als nervenstarken Reisebegleiter nach Chile und Bolivien. Im September 2014 kehrte er nach Deutschland zurück. Nun ist er wieder da.

♦♦♦♦♦

Ich war vorbereitet. Ich habe in Uni-Seminaren Mate getrunken, die weiß-himmelblaue Fahne geschwenkt. Ich habe Freunde mit meinem Argentinienwissen genervt und mit Lionel Messi gelitten, als dieser die Niederlage gegen Deutschland hinnehmen musste. Ich war auf alles vorbereitet. Nur nicht auf die Hitze. 36 Grad knallen vom Himmel, als ich aus ebendiesem auf argentinischem Grund lande. Ich bin zurück. Schwitzend, schmelzend, sterbend – und doch glücklich.

Wieder durch die Häuserblöcke von Buenos Aires zu fahren, weckt Erinnerungen. Ein Jahr hatte ich hier gelebt und mich an die verrückten und auch liebenswürdigen Argentinier gewöhnt. Nun bin ich zurück und glaube, mich an jede einzelne Straßenecke erinnern zu können. Wie in einem Film, an den man sich vage erinnert. Ich komme in Recoleta unter, dem argentinischen Paris. Qué elegancia la de Francia. Ich erkunde die Stadt, schlendere über den Friedhof von Recoleta, auf dem auch die gefeierte Schutzheilige Eva Perón begraben liegt, und flaniere die Avenidas entlang bis zum Kongress und Präsidentenpalast.

Friedhof Recoleta

Friedhof Recoleta

Evita

Evitas Grab

Meine Liebe zum argentinischen Wein lebt wieder auf, und auch das traditionelle Asado ist noch so lecker, wie ich es in Erinnerung habe. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Es verwundert viele, vor allem Argentinier selbst, dass ich mir vorstellen könnte, hier zu leben. Cheeee, dir gefällt’s bei uns? Du nimmst mich auf den Arm! So mancher lernt ja nach Englisch noch eine zweite Fremdsprache hinterher, um nach Europa auswandern zu können.

Buenos Aires

Blick auf die Avenida Corrientes

Buenos Aires 2

Das Microcentro von Buenos Aires

Ich erinnere mich an so viele Kleinigkeiten. Die Collectivos, buntbemalte Linienbusse, die mit exzessivem Gebrauch der Hupe und des Gaspedals mit den Taxis um die Herrschaft auf den Straßen kämpfen. Taxifahrer, die sofort wissen wollen, wo man denn herkomme, was man hier mache – aber vor allem: dein Fußballklub, eh? Geldwechsler, die von jeder Ecke der beliebtesten Einkaufsstraße »Cambio« rufen – in einer Monotonie, als hätten sie nur dieses eine Wort gelernt. Unebene Fußwege, die regelmäßig von verlassenen Baustellen unterbrochen werden und auf denen einem die Kondenswassertröpfchen der Klimaanlagen in den Nacken fallen. Der Fernet (ja, Opas Magenbitter), der mit Cola und Eis gemischt wird, um sich dem Nachtleben ein wenig sorgloser zu widmen. Fahrstühle aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, die erst funktionieren, wenn beide Türen manuell zugezogen sind. Dazu Stromausfälle, Kakerlaken und Demonstrationen. Nicht, dass das unmittelbar in einem Zusammenhang stehen würde. Habe ich doch in einem Restaurant gleich zwei Kakerlaken in fünf Minuten am Tisch begrüßt, die der Kellner auf Nachfrage schwer gelangweilt und recht träge mit einem Taschentuch eliminierte. Ein echter Argentinier stört sich doch an so was nicht! Und mir gelingt es natürlich auch, damit umzugehen, jedenfalls besuche ich das Restaurant sogar noch zwei weitere Male.

Demonstration am Kongress, dem Nationalparlament

Kurz vor meiner Ankunft wurde der Staatsanwalt Alberto Nisman tot aufgefunden. Niemand kann sicher sagen, was genau passiert ist, doch glauben alle, es zu wissen: Die Präsidentin habe ihn ermorden lassen. Dass ein Volk mehrheitlich davon überzeugt ist, dass die eigene Regierung zu Auftragsmorden fähig ist, wirft nicht nur eine Frage über Demokratie und Justiz auf. Jedenfalls spürt man diese Unruhe deutlich − und egal, ob es nun Mord oder Selbstmord war: Der Fall wird das Land noch über Jahrzehnte hinweg spalten.

Mein Land.

Die Echte-Kerle-Komödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Hochsommer in Argentinien. Ferienzeit. Alle Schulen geschlossen. Die Kinder besuchen von 9 bis 18 Uhr die colonia, den Ferienhort eines Sportklubs in Buenos Aires. Morgen ist campamento. Das heißt: Die Kinder übernachten im Klub. Die Mutter ist auf Dienstreise.

♦♦♦♦♦

ERSTE SZENE

Vater und sein Sohn im Wohnzimmer; die Töchter spielen auf der Terrasse.

VATER. Was müsst ihr denn alles mitbringen? Zeig mal den Zettel.

SOHN. Ich habe schon gepackt.

VATER. Zettel!

SOHN. Ich habe doch aber schon alles …

VATER. Ich muss gleich das Abendessen machen und euch vorher baden und nachher dann aufräumen. Morgen kommt eure Mutter wieder, schau dich mal um, wie’s hier …

SOHN. Okay-okay. (reicht ein Blatt Papier)

VATER. (liest laut vor) Kurze Hose. Lange Hose. T-Shirt. Pullover. Zwei Paar Socken. Unterwäsche. Hut. Sonnencreme. Insektenspray. Zwei Paar Socken, pfffffff, eins reicht ja wohl. Plastikbecher. Schlafsack. Isomatte. Zahnbürste. Kamm. Den lassen wir auch weg. Was ist das hier?

SOHN. Was?

VATER. (liest stockend) Cortina de baño.

SOHN. Das verstehe ich auch nicht.

VATER. »La cortina« ist doch »der Vorhang«, und »baño« heißt »Bad«. Vorhang vom Bad. Badvorhang. Was soll das denn sein?

SOHN. Hmmh.

VATER. Wen könnten wir fragen?

SOHN. Pablo?

VATER. Super Idee. Meinen Freund Pablo.

 ♦♦♦♦♦

ZWEITE SZENE

Zwei Orte, zwei Männer, zwei Mobiltelefone; Getippe auf Spanisch

VATER. Cheeeeeeee Pablo, wie geht’s? Alles gut? Hör mal, die Kinder haben morgen campamento, wir packen gerade die Sachen. Weißt du, was die mit »cortina de baño« meinen?

PABLO. Keine Ahnung. Aber wenn du mich fragst: ein Blödsinn, diese campamentos. Dieser Aufwand!

VATER. Stell dir vor: Die Kinder sollen für eine Nacht zwei Paar Socken mitbringen.

PABLO. Hast du hoffentlich eins gleich wieder ausgepackt.

VATER. Ja, natürlich. Die übernachten doch nicht im »Sheraton«. Also, du weißt auch nicht, was »cortina de baño« sein soll?

PABLO. Wozu brauchen die überhaupt ein Bad?

VATER. Na ja, diese verwöhnten Kinder von heute. Typen wie Du und ich, ich meine, wir pinkeln ja überall hin.

PABLO. Genau. Wir parken, steigen aus und pissen. Wie es sich gehört.

VATER. Manchmal steige ich nicht mal aus.

PABLO. Deswegen leihe ich Dir ja mein Auto auch nicht.

♦♦♦♦♦

DRITTE SZENE

Vater und Sohn, noch immer immer Wohnzimmer

SOHN. Darf ich lesen, was Pablo geschrieben hat?

VATER. Nein.

SOHN. Und was hat er gesagt?

VATER. Brauchst du nicht, diese komische cortina.

VORHANG

Leiden und Leben auf Argentinisch

von CHRISTOPH WESEMANN

Ein Sommerabend in Buenos Aires. Der Strom fällt um halb sieben aus, kehrt um halb neun für 40 Minuten zurück und verabschiedet sich dann abermals für Stunden. Stockfinster die Straße, Kerzen und Taschenlampen in den Wohnungen.

Aber bis kurz nach eins brummt der Dieselgenerator vor der Parrilla, dem Restaurant mit Riesengrill.

»Fußball, Gegrilltes und Wein sind die Leidenschaften des argentinischen Volkes«, sagt ein Sprichwort. Ein anderes: »Nur zu grillen, damit der Hunger gestillt wird, ist eine Flegelei.«

Nacht in Buenos Aires

Der kürzeste argentinische Witz

von CHRISTOPH WESEMANN

Geht ein Kaiser in Buenos Aires in ’ne Tango-Bar…

Beckenbauer Franz

Foto im Fenster der »Bar Sur«, Stadtteil San Telmo, Estados Unidos 289 (Ecke Balcarce)

 

 

»

 

Von einem Deutschen, der 1948 nach Argentinien auswanderte – die Weihnachtsgeschichte

von CHRISTOPH WESEMANN

Thomas Leonhardt ist froh, dass es noch geklappt hat mit dem Weihnachtsbaum. Verkaufsstände an der Straße gibt es am anderen Ende der Welt sowieso nicht, aber in diesem Jahr war es schwierig wie nie: keine Bäume in und um Buenos Aires. Standard ist in Argentinien die Plastik-Tanne, und selbst die nadelt dann, aber es gibt Schlimmeres: Deutsche wünschen sich eine weiße Weihnacht – Argentinier, dass nicht wieder stundenlang der Strom ausfällt, wenn alle auf einmal ihre Klimaanlage einschalten, um die Sommerhitze zu ertragen.

Ein Freund hat ihm schließlich eine Tanne besorgt – ausgegraben, nicht abgesägt, Entfernung zum Wohnzimmer in San Isidro, einem Vorort von Buenos Aires: fast 100 Kilometer. Ein hübscher Baum mit vielen Kugeln und einer Spitze.

Thomas Leonardt am Weihnachtsbaum

Wäre nur nicht diese neue Lichterkette.

Thomas Leonhardts Frau, eine Argentinierin, hat sie aus London mitgebracht, wo die Tochter lebt. Der Besucher wird vorab gewarnt. Stecker rein. Blau, rot, grün, gelb, die Birnchen wechseln sekündlich die Farbe. »Ist eher etwas für einen Schulhort, oder?«, fragt Leonhardt. Strecker raus. Das Fest wird trotzdem schön werden, und er hat ja in den vergangenen 65 Jahren gelernt, Abstriche zu machen. »Seit meinem fünften Lebensjahr feiere ich Weihnachten bei 35 Grad mit Heringssalat.«

1948 steigt Thomas Leonhardt, vier Jahre alt, mit seinen Eltern und dem älteren Bruder aufs Schiff. Der Vater, ein Marineoffizier, Soldat schon im Ersten Weltkrieg, ist aus der englischen Gefangenschaft entlassen. Nach Liegnitz aber führt kein Weg zurück, denn die niederschlesische Großstadt gehört nun zu Polen. Auch ihre Textilfirmen hat die Familie verloren. Wohin also? Es gibt einen Onkel, der seit den zwanziger Jahren in Buenos Aires lebt. Einen Unternehmer.

»Dem Onkel ging es gut«, sagt Thomas Leonhardt.

Argentinien war nach den Vereinigten Staaten von Amerika das Einwanderungsland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch wegen der 5,5 Millionen Menschen, die zwischen 1857 und 1924 kamen, wurde die einstige spanische Kolonie zum großen Getreidespeicher und einem der wohlhabendsten Länder der Welt. »Reich wie ein Argentinier«, dieses längst überholte Sprichwort, mehr noch ein Versprechen, lockte vor allem Italiener, aber auch Spanier, Niederländer und Deutsche, viele von ihnen aus dem Norden. Noch 1914 waren sechs von zehn Argentinier entweder im Ausland geboren oder Kinder von Immigranten der ersten Generation. Heute kommen die Glückssucher indes aus der Nachbarschaft, aus Bolivien, Paraguay und Peru. Für Europäer ist Argentinien, das seit 70 Jahren Krisen bewältigt, um bald darauf neue zu erschaffen, kaum noch attraktiv.

»Ich kann mich nicht erinnern, nicht Spanisch gesprochen zu haben«, sagt Thomas Leonhardt, geboren 1944. »Ich habe auch keine Erinnerungen an die schlechten deutschen Jahre. Wir haben gehungert, aber ich weiß es nicht mehr.« In seinem Gedächtnis beginnt die Kindheit erst auf den Straßen von Buenos Aires, wo er immer mit einem Jungen spielt, der noch heute sein bester Freund ist. Der Vater, mit 51 Jahren zum Argentinier geworden, macht aus einer Wachstuch- eine Kunststofffabrik. Der Sohn liest Karl May, um die Sprache der alten Heimat nicht zu vergessen, studiert Jura, fängt 1972 in einer deutschen Kanzlei an und gründet vier Jahre später eine eigene. Bis heute arbeitet er als Anwalt und berät vor allem argentinische Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen. Seine drei Söhne leben in Buenos Aires und Wien, die Tochter hat einen Engländer geheiratet und ist ihm gefolgt. Der Bruder lebt noch in Karlsruhe, plant aber schon die Rückkehr nach Argentinien.

Thomas Leonhardt im Arbeitszimmer

Seit zwölf Jahren ist Leonhardt, mit Pausen, Präsident des Deutschen Klubs von Buenos Aires, einem Treffpunkt für Unternehmer. Er hat das Bundesverdienstkreuz am Bande und das 1. Klasse verliehen bekommen. Die Urkunden, unterschrieben von den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Joachim Gauck, hängen in seinem Arbeitszimmer. Im Regal stehen Hölderlin, Marcel Reich-Ranickis »Mein Leben«, Herders Großer Bildatlas. Von der Wand schaut der Alte Fritz, es ist kein wertvolles Bild, aber Leonhardt hängt daran. Sein Vater brachte es aus der Gefangenschaft mit, es sollte wohl verbrannt werden.

»Ich bin in einer typisch deutschen Familie aufgewachsen und trotzdem sehr argentinisiert«, sagt Leonhardt. »Ich kann mich ohne Probleme jeder Disziplin unterwerfen, aber die Gesetzeshörigkeit der Deutschen habe ich nicht aufgenommen.« Die argentinische Gesellschaft schätzt »die Täuschung als Kunst«, wie der Fußballphilosoph Jorge Valdano, 1986 Weltmeister mit Diego Maradona, einmal sagte: »Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist.« Las leyes son para los tontos, heißt ein hiesiges Sprichwort, die Gesetze sind für die Idioten. Vergehen werden kaum bestraft, und falls doch, kauft man sich frei oder kennt einen, der einen kennt, und der kennt dann auch noch einen, der helfen könnte. Oder müsste. »Der Argentinier akzeptiert Spielregeln nur, wenn sie ihm passen«, sagt Leonhardt und lacht. »Ich habe versucht, meinen Kindern das nicht beizubringen.«

Deutschland kennen die meisten Argentinier nur aus den Nachrichten, vom Hörensagen oder ihrem Volkswagen, den sie allerdings »Wollwágen« nennen. Ordentlich, zuverlässig, ein bisschen langweilig, aber ehrlich, überpünktlich und überwiegend blond, so stellt man sich los alemanes vor. Einerseits wäre man gern wie sie, auch, damit es mal vorangeht. Andererseits wird schon Pünktlichkeit als unhöflich empfunden und deshalb vermieden. »Wenn du erzählst, dass du von einem Deutschen betrogen wurdest, schauen dich alle erstaunt an. Das ist etwas Besonderes«, sagt Leonhardt. »Passiert dir das mit einem Argentinier, hörst du nur: Tja, hättest du besser aufpassen müssen.«

Der argentinische Alltag ist »un quilombo«, ein Chaos, irgendeine Berufsgruppe streikt immer; wenn die Bankangestellten arbeiten, streiken die Busfahrer, wenn die Polizisten arbeiten, streiken die Ärzte, die Lehrer oder die Müllmänner, wobei der Müll auch sonst herumliegt. Generalstreiks gibt’s obendrauf. Es wird pausenlos geflucht, vor allem beim Autofahren. Jeder in diesem Land leidet ja, sobald er hinterm Steuer sitzt, unter akutem Bluthochdruck. Es sind aber auch unheimlich viele boludos, hijos de puta und pelotudos, Schwachköpfe, Hurensöhne und Vollidioten, unterwegs.

Andererseits: Kinderlärm ist ausdrücklich erwünscht, und zwar überall. Lateinamerikaner empfinden ja nicht nur Europa als kühl, sondern auch die, die den Kontinent bevölkern. Deshalb sind sie, die Argentinier, Brasilianer und Kolumbianer, obwohl katholisch, mit Papst Benedikt XVI., dem Intellektuellen, nie warm geworden. Der Priester ist hier zuallererst Seelsorger, und die Kirche ein Zufluchtsort, wo es warmes Essen gibt, Nachhilfe und Bücher. Gerade in den Armenvierteln fällt die Schule ja regelmäßig aus, es muss nur stark genug regnen. Dann nämlich wollen oder können die Lehrer nicht kommen. Franziskus, der Argentinier in Rom, umarmt und lacht, er guckt nicht nur Fußball, sondern hat auch eine Lieblingsmannschaft (die seit seinem Amtsantritt wie durch ein Wunder wieder erfolgreich ist).

 

Thomas Leonhardt wird am Heiligen Abend mit seiner Familie den Gottesdienst besuchen. Die Straße vor der Kirche ist gesperrt, jeder trägt einen Stuhl bei sich, und 2000 Argentinier singen »Noche de paz, noche de amor«, die spanische Variante von »Stille Nacht, heilige Nacht«. Danach kommt die Familie zusammen, die Schwestern seiner Frau bringen ihre Familien mit, Freunde schauen vorbei. »Und ein paar einsame Deutsche, die in der Stadt sind, sammeln wir auch immer noch ein, damit sie nicht alleine feiern müssen.« Leonhardt rechnet mit 20 bis 30 Gästen. Jeder bringt etwas fürs kalte Buffet mit, seine Söhne grillen ein Spanferkel, nur beim Heringssalat vertraut man dem Feinkosthändler. »Es weiß ja keiner mehr, wie der gemacht wird.« Beschert wird auch, aber es gibt nur ein Geschenk für jeden. Vorher wurde ausgelost, wer wen überrascht. »El amigo invisible« heißt das Spiel, der unsichtbare Freund.

Thomas Leonhardt stößt beim Erzählen auf alte Bilder, die das Gedächtnis aufbewahrt hat: der Vater, der die Weihnachtsgeschichte vorliest, der Bruder und er im Anzug mit Krawatte, wie es sich in den fünfziger Jahren noch gehörte an Heiligabend, die Mutter, der beim Singen einfällt, wie schön Deutschland ist, ihre Tränen.

Wie früher werden sie leise den Schnee rieseln lassen, obwohl alles, ja wirklich alles dagegen spricht. Und jeder, der kein Deutsch kann, wird leise mitsummen.

Gespräche und Selbstgespräche am Rande des Nervenzusammenbruchs, la la la la

von CHRISTOPH WESEMANN

Steckt ein geheimer Plan dahinter, ist es Absicht? Dass meine Frau immer dann verdienstreist, wenn die Kinder Feste feiern. Schon vor einer Woche war sie weg und unsere Mittlere dran: Abschied vom Kindergarten. Die Mädchen und Jungen von der »sala cinco«, der Gruppe der Fünfjährigen, die im Februar eingeschult werden, tanzten und sangen uns südamerikanische Länder vor. Die Tochter war Brasilien, soweit ich sehen konnte, ich saß ja in Reihe 30, in Worten: vorletzte.

Kinderfestkolumne 4

Ihre kleine Schwester, unsere Dreijährige, lief barfuß kreuz und quer durchs Festzelt und hätte fast vor die Bühne gepinkelt, die Hose hatte sie schon unten. Der Achteinhalbjährige spielte draußen mit den anderen großen Brüdern Fußball. Er kam nur am Ende vorbei, um uns Eltern bei der Polonaise zu begutachten und den Kopf zu schütteln. Aus den Boxen dröhnte »Vivir mi vida«, der hiesige Vorjahreshit von Marc Anthony.

Manchmal kommt der Regen, / Um die Wunden zu säubern. / Manchmal kann nur ein Tropfen / die Dürre besiegen.

Refrain:

Ich werde lachen, ich werde tanzen, / Mein Leben leben, la la la la. / Ich werde lachen, ich werde genießen, / Mein Leben leben, la la la la.

 

Heute nun feiert die Kleine Jahresabschluss mit ihrem Kindergarten. Kindergarten ist heute natürlich nicht gewesen. Die Wohnung bestätigt das.

Um kurz vor Fünf kommt der Achteinhalbjährige von der Schule, jetzt aber los, rein ins Auto, Mensch, macht hinne, schnallt euch an. Wir haben zehn Minuten für zwei Kilometer. Unmöglich. ¡Vamos!

Und nachher wird aufgeräumt, Freunde.

Nein, nein, nein, ich habe nichts zu trinken eingepackt, ich kann ja auch mal was vergessen. Doch, Mama wäre das auch passiert. Sie vermisst euch übrigens ganz doll. Hupe an. Es ist grün, fahr doch, hijo de puta1. Hupe aus. Blick in den Rückspiegel. Kostümprobe. Rotes Unterhemd. Schwarze Leggins. Zwei Zöpfe, links und rechts. Gut gemacht, Alter. Hemd und Hose hat die Mama von Mili besorgt, muss ich gleich noch bezahlen, darf ich nicht vergessen. Die zwei Zöpfe habe ich geflochten.

Was hatte eigentlich die Fünfjährige vor einer Woche an? Brasilien, klar, ein gelbes Kleid. Hatte die Mama von Dings besorgt.

Guck mal, Schätzchen, deine Freundinnen Mili, Laila und Valen sind auch schon da. Alle drei mit zwei Zöpfen wie du. Hübsch. Und mit roten Schleifen. Die Dreijährige hat zwei beige Gummis im Haar, die ich im letzten Augenblick aus dem Besteckkasten gefummelt hatte. Wieso haben die rote Schleifen im Haar und du nicht? Die Hure, die mich geboren hat!2

Ich weiß, Liebling, das sagt man nicht.

Äh, was sagt man nicht?

Hihi.

Äh, was sagt man nicht?

Hihihi.

Äh, was sagt man nicht?

Krrrrrrr. Verzeih mir.

Ach, wie die Zeit vergeht. Vor zwei Jahren, beim ersten Kindergartenfest, war die Kleine noch in der Kükengruppe und saß auf dem Boden, eine Rassel in jeder Hand. Im vergangenen Jahr tanzte sie schon mit den anderen Affen. Jetzt ist sie Elefant und hat einen beeindruckenden Hüftschwung. Muy latina. Bald steigt sie zu den Giraffen auf.

Das mit den roten Schleifen hatte Laura, die Erzieherin, angeblich extrem idiotensicher im Mitteilungsheft vermerkt.

Kinderfestkolumne 1

Laura, du weißt doch, dass ich da nie reingucke.

Ja, weiß sie. Deswegen hatte sie mich gestern noch mal daran erinnert.

Vielleicht war ich ja in Gedanken schon beim Fest des Achteinhalbjährigen am Donnerstag.

Im nächsten Jahr wird meine Frau die Polonaise machen, dafür sorge ich. Und ich spiele mit den Brüdern Fußball, während die Kleine vor die Bühne pinkelt.

Kinderfestkolumne 2

  1. »Hurensohn«. In Argentinien übliche Anrede für andere Fahrzeugführer []
  2. Beliebter Fluch in Argentinien: »¡La puta que me parió!« []

Pablo, Taxis auf der Galopprennbahn und die Feuerwehr von Buenos Aires

von CHRISTOPH WESEMANN

Argentinier lieben es, »estoy llegando« zu sagen. Wörtlich übersetzt heißt das: »Ich bin am Ankommen.« Und etwas freier: »Gleich da.« Die wahre Bedeutung des Satzes ist jedoch eine andere. Was der Argentinier dir eigentlich sagen will, wenn er »estoy llegando« sagt, ist: »Cheee boludo1, ich habe keine Ahnung, wann wir uns sehen, ich weiß, wir sind verabredet, allerdings ich bin gerade am Arsch der Welt, ich gehe zur U-Bahn, sobald ich genug Mate getrunken habe, kann aber nicht versprechen, dass auch eine kommt, und falls sie kommt, ob ich‘s schaffe, mich reinzuquetschen. Mach dir keine Sorgen, mein geliebter Freund, ich umarme dich. Bin gleich da.«

Jemand, der »estoy llegando« in sein Handy ruft und Sekunden darauf tatsächlich um die Ecke biegt und dir winkt, ist entweder ein Argentinier, der zu lange in Deutschland gelebt hat, oder ein Deutscher, der noch nicht lange genug in Argentinien lebt.

Ich bin in Buenos Aires schon oft zu spät gekommen, unter anderem zu einer Trauung (das Brautpaar allerdings auch) und zu einem Elternabend (aber früher als die Lehrerin). Ich hole die Dreijährige regelmäßig zu spät vom Kindergarten ab und werde dann – was oft schade ist – beim Ausredenerfinden von der Erzieherin unterbrochen: »No pasa nada.«

Gar nicht schlimm also.

Ein Fest im argentinischen Kindergarten

»Pünktlich zu sein ist erstens unüblich und zweitens unhöflich«, sagt mein Freund Pablo.

Pünktlichkeit trägt vor allem Stress mit sich. Man kommt unerwartet und trifft deshalb auf unvorbereitete Gastgeber: Sie ist noch ungeschminkt, er hat noch die Lockenwickler im Haar.

Noch vor ein paar Jahren kam es vor, dass selbst Fußballspiele der ersten argentinischen Liga verspätet begannen. Die Zeitungen vermeldeten den Anstoß um 17 Uhr, angestoßen wurde aber erst, als die Zuschauer im Stadion eingetroffen waren. Und die Schiedsrichter. Und die Spieler. Seitdem alle Partien im staatlichen Fernsehen übertragen werden, ist das vorbei.

Man hat gelernt, damit zu leben. Die Stimmung ist − trotz aller Gewalt − nach wie vor sensationell, das Spiel nach wie vor eher mau. Es heißt, der Fußball sei das, was Argentinien – diesen Haufen von Individualisten, dieses Land von Nachfahren europäischer Einwanderer und indigener Völker, zu denen sich heute die armen Glückssucher aus Bolivien, Paraguay und Peru gesellen – tatsächlich miteinander verbinde. Nur diese eine Liebe, und vielleicht noch der Anspruch auf die Malwinen.

 

Selbst ein gewöhnlicher Ausländer kann mit jedem Argentinier − ob Taxifahrer oder Kneipenbekanntschaft, Freund oder Tribünenkumpel − über alles reden. Aber in der Regel nicht − zumindest nicht objektiv − über:

1. Argentinien,

2. argentinischen Fußball,

3. den Papst,

4. die Malwinen,

5. die Tatsache, dass Argentinier, nun ja, ein spezieller Menschenschlag sind.

Jorge Valdano, 1986 Weltmeister an der Seite von Diego Maradona, erzählte in einem Interview mit dem »Spiegel« einmal:

Als Fußballer besaß ich eher so eine deutsche Geschicklichkeit. Argentinischer Fußball ist sehr wendig, Sie kennen diesen romantischen Mythos, sehr phantasievoll, sehr kreativ, Maradona eben.

Mauermalerei in der Nähe des Friedhofes von Chacarita in Buenos Aires

Und weil der Fußball am Río de la Plata das Leben ist, ist das Leben wie der Fußball. »In der argentinischen Gesellschaft gilt die Täuschung als Kunst. Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist«, sagte Valdano und lieferte gleich die passende Anekdote:Jorge Valdano

Bei meinem ersten Verein als Profi, damals noch in Argentinien bei den Newell’s Old Boys, gab es jeden Dienstag ein Lauftraining. Neben unserem Platz lag die Galopprennbahn, da mussten wir dreimal rum, das ist eine ziemlich lange Strecke. Bei meinem ersten Training bei den Old Boys geschah Folgendes: Ich lief vorneweg, ich war jung und schnell, ein athletischer Typ. Aber nach einer viertel Runde überholten mich zu meiner großen Überraschung die drei Stars des Teams − in einem Taxi. Sie hatten an der Strecke einen Freund mit seinem Auto postiert, der sie dann wieder absetzte, kurz bevor es auf die Zielgerade ging. Der Trainer hat das nicht mitbekommen. Um ein Star zu sein in Argentinien muss man nicht hart trainieren, sondern Taxi fahren.2

Und darf auf keinen Fall pünktlich sein.

»Wir wissen ja, dass wir nicht immer perfekt sind«, sagt Pablo. »Aber wir wollen es nicht von einem verdammten Ausländer hören. Verstehst du?«

»Nein.«

»Du solltest wissen: Wenn du morgen bei uns im Radio über unser Land lästerst, könnte eure Botschaft brennen.«

»Willst du mich einschüchtern, Pablo?«

»Nö, ist ja nicht meine Botschaft.«

Ich werde nicht über Argentinien lästern.

Ich habe Angst, dass die Feuerwehr von Buenos Aires zu spät anrückt.

  1. »He Schwachkopf« − eine sehr beliebte Anrede in Argentinien, auch unter Freunden []
  2. Marc Koch, der frühere Chefreporter und jetzige Erste-Welt-Korrespondent des Argentinischen Tagebuchs, hat das Zitat dankenswerterweise archiviert und dem Autor spendiert. []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

Themen

Suchen

Suchbegriff eingeben und «Enter»


Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)