Posts Tagged ‘Inflation’

Der Herausgeber, der Karrierist und das Zeugnis

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche in Buenos Aires schreiben sich Kurznachrichten.

♦♦♦♦♦

CW. Es kann doch nicht sein, dass in diesem Land sechs Klopapierrollen (einlagig!) umgerechnet fünf Euro kosten.

MC. Das nennt man Inflation, der Herr, und davon haben wir doch 40 Prozent. Es kann aber auch nicht sein, dass jede fünfte Rolle (doppellagig) so scheiße konfiguriert ist, dass sie nicht richtig abrollt.

CW. Wir sollten auf das Regierungsblatt Página/12 umsteigen. Ist erstens ein politisches Statement und zweitens billiger.

MC. Und drittens: sanfter.

CW. Mein Laptop macht mir auch gerade Sorgen. Der Akku funktioniert nicht mehr.

MC. Nicht gut! Vor allem, weil Stromausfälle ja nicht unbedingt selten sind in Argentinien.

CW. Ich hatte das Ding einem Bekannten in Buenos Aires gegeben, damit er es ein bisschen updatet und einige Programme installiert. Da hat er wohl meinen funktionierenden Akku gegen ein kaputten ausgetauscht. Ganz schön frech, oder?

MC. Dein Land! Deine Leute!

Zertifikat

 

 

CW. Dafür habe ich mein Portemonnaie nicht verloren.

MC. Bitte, was?

CW. Es war mir im Kiosk aus der Tasche gefallen, hab’s natürlich erst ’ne halbe Stunde später gemerkt.

MC. Für argentinische Verhältnisse also relativ schnell.

CW. Der Kioskbesitzer hatte inzwischen versucht, meine Adresse rauszukriegen.

MC. Echt?

CW. Wir Argentinier sind halt ehrliche Leute.

MC. Muahahahahaha. Der war gut!

CW. So hat der Kioskbesitzer auch auf den Satz reagiert.

MC. Guter Mann!

CW. Ich bin übrigens wieder Student. Diesmal an der Universität von Buenos Aires. Ein PR-Kurs.

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires (UBA)

MC. Aber Marketing kannst Du doch schon.

CW. Ich kann ja praktisch alles. Aber die Chefin will Zeugnisse und Zertifikate sehen.

MC. Das klingt nach Abschlusspflicht. Aber Intellektuelle Deines Kalibers haben nie ein Zeugnis. Nie! Das wäre rufschädigend.

CW. Und mein guter Ruf darf auf keinen Fall Schaden nehmen.

MC. Ich hatte immer nur die besten Zeugnisse, und was habe ich heute davon? Also, pass auf: Ich schreibe Dir etwas, und zwar endlich mal gegen Geld. Nämlich ein Zeugnis.

CW. Großartig!

MC. Dir sollte allerdings klar sein, dass Deine Frau alles rausbekommt und angemessen empört sein wird.

CW. Von mir erfährt sie nix.

MC. Natürlich nicht! Als guter Argentinier bist Du ja auch vollkommen uneinsichtig. Also um genau zu sein: Zunächst wirst Du alles abstreiten, und zwar über Tage, solange es geht. Damit alles noch schlimmer wird. Und dann erst bist Du uneinsichtig.

CW. Und am Ende sage ich: Das war seine Idee.

MC. Ich merke: Wir verstehen uns.

Die Königin aus dem Reich der überwachten Kondome

von CHRISTOPH WESEMANN

1. März 2014 (Foto: Casa Rosada)

1. März 2014 (Foto: Casa Rosada)

Cristina Kirchner kann sich auch kurz fassen. Für ihre Verhältnisse, versteht sich. Am Sonnabend hat Argentiniens Präsidentin die diesjährige Parlamentssaison eröffnet und bloß zwei Stunden und 45 Minuten geredet. Vor einem Jahr hatte sie sich eine Stunde länger Zeit genommen, um zu den Abgeordneten und Senatoren zu sprechen. Damals benahm sich der Congreso de la Nación allerdings wie ein Fußballstadion und sah auch so aus, was vor allem daran lag, dass auf den Zuschauerrängen die treuesten Anhänger der Präsidentin saßen: die Mitglieder von La Cámpora, der militanten Jugendbewegung, die von Cristina Kirchners Sohn Máximo angeführt wird. Die Cámporisten hatten ihre Fahnen mitgebracht, sie sangen und warfen Papierflieger auf die Politiker der Opposition.

1. März 2013 (Foto: Casa Rosada)

Diesmal war es deutlich ruhiger – wohl auch, weil sich die Opposition, Sieger der Parlamentswahlen im Oktober, ein ähnliches Spektakel nicht noch einmal hätte gefallen lassen. Es gab vorab allerdings ein paar Unstimmigkeiten. So übernahm die Casa Rosada, der Präsidentenpalast, die Vergabe der Eintrittskarten und bevorzugte dabei abermals Anhänger der Regierung. Und anders als in früheren Jahren durften nur die offiziellen Fotografen des Parlaments im Saal bleiben – die der Zeitungen mussten nach fünf Minuten hinaus. Die Opposition beklagte dies, entschied sich aber dagegen, ein Zeichen zu setzen, und behielt sich nur vor, im Falle von Provokationen hinauszugehen.

Ich habe mich zunächst vor dem Saal herumgetrieben und mich dann draußen umgeschaut, wo sich die Anhänger der Präsidentin versammelt hatten. Die Hauptstadtpolizei sprach von 100 000 Teilnehmern, was vielleicht übertrieben ist. Dennoch waren es mehr als am 1. März 2013. Im Vorfeld hatte die kirchneristische Bewegung ihre Bürgermeister, Gewerkschaften und sonstige Truppen aufgerufen, Präsenz zu zeigen – nach dem Motto: Alle mit Cristina. Politik wird in Argentinien seit ihrer Erfindung – also seit Juan Domingo Perón, dem Archetypus des Volkstribuns und Überpräsidenten – auch auf der Straße gemacht. Die Autorität, die ein Politiker genießt, hängt davon ab, wie er mobilisiert.

Die Zeiten für Cristina sind härter geworden. Im Oktober 2011 hatte sie die Präsidentschaftswahlen noch haushoch gewonnen – mit mehr als 53 Prozent. Mittlerweile aber schwächelt die Wirtschaft, steigt die Inflation, verliert der Peso gegenüber dem Dollar, verteuert sich der Alltag. Die Regierung schreibt den Supermärkten inzwischen die Preise für mehr als 200 Produkte vor: Kekse, Cola, Waschmittel, Zucker, Kugelschreiber, Paprika, Reis, Dosenerbsen, Bier, Milch und Shampoo. »Überwachte Preise« für Waren des täglichen Bedarfs, nennt sie das, und dazu zählen – ein bisschen Spaß muss sein – auch Kondome. Nur gibt es die günstigen Marken dann oft nicht im Regal, sondern nur die teureren Varianten, deren Preise nicht kontrolliert werden. Im Februar war ja selbst McDonald’s das Ketchup ausgegangen – peinlich für den Konzern, noch mehr aber für die Regierung. Deren Devisen- und Importkontrollen hatten offenbar die Einfuhr der Tomatensoße aus Chile verhindert.

Nach einer neuen Umfrage, gestern von der Zeitung Clarín veröffentlicht, sind 67,5 Prozent der Befragten gegen die Regierung von Cristina Kirchner. Im November waren es noch weniger als 50 Prozent.

Natürlich standen nicht nur Freiwillige auf dem Kongressplatz und blickten auf die Leinwände, die die Rede der Präsidentin übertrugen. Gewiss, der Kirchnerismus, der Argentinien seit 2003 regiert, hat nach wie vor genug Anhänger – auch, weil viele von einer Politik profitieren, die das Geld, das längst nicht mehr da ist, mit vollen Händen verteilt. Aber es wird bei der Mobilisierung auch nachgeholfen. Man darf sich das so vorstellen: Der Bürgermeister einer beliebigen Stadt bekommt einen Anruf von einem Funktionär der Regierung. Man erinnert ihn daran, dass die Präsidentin ja erst im vergangenen Jahr Geld gegeben hat, um – sagen wir – den etwas heruntergekommenen Bahnhof zu renovieren. Der ist doch auch wirklich schön geworden, oder? Jetzt erwartet Cristina ein kleines Zeichen des Dankes – vier Busladungen. Und dann werden Leute aufgetrieben. Die Angestellte der Stadtbibliothek hat eigentlich schon was anderes vor, auf jeden Fall keine Lust, am Sonnabendmorgen nach Buenos Aires zu fahren und dann stundenlang in der Sonne zu stehen, während die Präsidentin erzählt, wie viele Millionen die Regierung für so und so viele neue Kilometer Straße ausgegeben hat. (Cristina liebt Zahlen, manchmal. Über die Inflation, die aufs Jahr gesehen bei 20 bis 30 Prozent liegt, fünf Prozent allein im Januar, redet sie natürlich nicht so gern, ja eigentlich gar nicht.) Dass sich die Bibliothekarin nicht so richtig amüsiert, sieht man dann auch. Sie sitzt draußen vor dem Café oder irgendwo im Schatten, sie läuft herum und kauft sich an einem der Grillstände einen Hamburger oder eine chorí. Es gibt viele Leute, die zuhören und klatschen. Es gibt aber noch mehr Bibliothekarinnen.

Ich erinnere mich bis heute ungern an die 1. Maie meiner Grundschulzeit. Wir versammelten uns auf dem zentralen Schotterplatz der Stadt und lauschten den ollen Genossen auf der Tribüne. Und es war immer heiß am Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus. Die armen Füße! Was mussten die im Schotter pulen, weil dem Kopf sonst nichts mehr einfiel gegen die Langeweile. Und so gucke ich heute, ein halbes Jahrhundert später, auch mit anderen Augen auf die junge Leute, die der Kirchnerismus aufmarschieren lässt. Sie kommen – man kann’s den Plakaten entnehmen – von weit her, aus entfernten Provinzen. Sie zählen – man sieht’s der Kleidung an – nicht zu Begüterten in diesem Land. Darunter dürften viele sein, die vom Versprechen geködert werden, ein Wochenende in der Hauptstadt zu erleben.

Die Präsidentin ist übrigens durchaus eine sehr gute Rednerin. Sie hat Witz und formuliert scharf (oft zu scharf). Für Zitate ist sie immer gut.

Die Wirtschaft wächst wieder, und wir vollenden die Periode des wirtschaftlichen Wachstums mit der virtuosesten sozialen Inklusion in unserer 200-jährigen Geschichte.

Wachstum (crecimiento) ist eines der kirchneristischen Schlüsselwörter. Man sieht sich als Bewegung, die das Land nach dem Totalzusammenbruch von 2001/02 wieder aufgebaut hat (was nur teilweise stimmt, weil der Aufschwung schon unter dem Übergangspräsidenten Eduardo Duhalde begann).

Wir müssen mehr zusammenstehen als je zuvor, um weiter voranzukommen.

Der Kirchnerismus versteht sich als Bewegung des Nac&Popnacional (für das ganze Land) und popular (für alle Schichten)

Es kann nicht sein, dass zehn Leute die Straße sperren, aus welchen Gründen auch immer. Und dass nichts passiert.

Hier hat mich Cristina überrascht. Es vergeht seit Wochen kaum ein Tag in Buenos Aires ohne Straßensperrung. Die so genannten piquetes sind eine beliebte Protestform in Argentinien, eine Art Erpressung. Man stellt sich auf die Straße, zündet ein paar Reifen an und fordert. Wer sich ungerecht behandelt fühlt oder schlecht bezahlt oder eine neue Wohnung will oder gerade keinen Strom hat – hält den Verkehr auf und sorgt für Staus und dann für Wut bei den Gestauten. Die Polizei steht meist daneben und guckt zu. Die piqueteros waren und sind allerdings eine Säule der Bewegung. Néstor Kirchner, der Präsident von 2003 bis 2007, hatte sie genauso aufgenommen wie andere soziale Gruppen, um sich als volksnaher Regent zu inszenieren.

Wo bist du, Axel? Ich sehe dich gerade nicht. Mein Kleiner, aber Pflichtbewusster. Er hat wie ein Löwe für YPF gekämpft.

YPF ist die 2012 wiederverstaatlichte Ölgesellschaft, bis dahin eine Tochter des spanischen Konzerns Repsol. Und Axel ist der Vorname des neuen Wirtschaftsministers Kicillof. Argentinien zahlt Repsol eine Entschädigung von fünf Milliarden Dollar, die wohl Kicillof ausgehandelt hat. Ich vermute, das meint Cristina mit dem Löwen-Vergleich. Ich habe ihn durchaus gesehen, den Axel. Er schaute auf dem Weg zur Rede seiner Chef allerdings ein bisschen finster.

Axel Kicillof

Die Zeitung La Nación hat die am häufigsten benutzten Wörter der Rede ermittelt.

  • Argentinien: 54-mal.
  • Millionen: 48
  • Dollar: 31
  • Investition: 26
  • Gas: 24
  • Bank: 23
  • Nation: 22
  • YPF: 20
  • Wachstum: 18

Über die Themen, die den Argentiniern am meisten Sorgen machen, sprach Cristina wiederum nicht. Die vier großen Probleme sind, wie Umfragen belegen: Kriminalität, Inflation, Arbeitslosigkeit und Korruption.

In einem Jahr wird Cristina Kirchner zum letzten Mal die Parlamentssaison eröffnen. Im Oktober 2015 wählt Argentinien ein neues Staatsoberhaupt – und die Präsidentin darf nach zwei Amtszeiten nicht noch einmal antreten.

Der Test: Haben Sie das Zeug zum argentinischen Wirtschaftsminister?

von CHRISTOPH WESEMANN

Stellen Sie sich vor, Sie sollen einer griechischen Journalistin ein Fernsehinterview geben. Es ist klar, worum es geht: Wirtschaft. Argentinien stand 2001/2002 dort, wo Griechenland heute steht: kurz vor der Pleite. Argentinien hat sich wieder aufgerappelt und könnte vielleicht ein Vorbild für Griechenland sein. Die Journalistin ist nicht blöd. Sie sagt, sie habe eine »einfache Frage«, die aber in Ihrem Land momentan »ziemlich kompliziert« sei. Sie fragt: »Wie hoch ist die Inflation gerade?«

Natürlich wissen Sie, dass die Inflation in Argentinien ein Thema ist, das die Leute besonders aufregt und sogar zum Protestieren auf die Straße treibt. Sie wissen auch, dass die offiziellen Angaben der Regierungsbehörde Indec nicht stimmen und die Inflationsrate in Wahrheit bei 20 bis 30 Prozent liegt. Genauer weiß man es nicht, weil die unabhängigen Institute ihre Statistiken ja nicht mehr veröffentlichen dürfen.

Wie reagieren Sie auf die Frage nach der Inflationshöhe?

a) Sie haben diese Frage natürlich lange vorher gerochen. Also sind Sie vorbereitet, bleiben locker und labern gekonnt am Thema vorbei. Sie jonglieren mit eigenen Zahlen, die vielleicht nicht stimmen, aber schön verwirren, ablenken und sich auf die Schnelle nicht überprüfen lassen. Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner macht das in ihren Volksreden auch so. Sie wissen: Wer nicht verstanden werden will, kann gar nicht genug Zahlen präsentieren. Sie wechseln so schnell vom Agrar- zum Automarkt und wieder zurück, dass jedem Zuhörer schwindelig wird. Außerdem flirten Sie noch ein bisschen mit der Journalistin. Die ist nicht ganz Ihr Typ, aber was macht man nicht alles fürs Vaterland.

b) Mit dieser Frage haben Sie nun gar nicht gerechnet. Wie kommt die Tante nur darauf? Aber Sie versuchen trotzdem zu antworten und sagen, dass die Inflation von der Behörde Indec monatlich gemessen werde. Von ihr stamme »die einzig mögliche Inflation«. Als Sie jedoch nach der Höhe der offiziellen Inflationsrate gefragt werden, geraten Sie ins Schwimmen: »Äh, das hängt davon ab«, sagen Sie. »Ich glaube, 10,2 Prozent jährlich akkumuliert, bei den Dezimalstellen kann ich mich irren.«

Die Journalistin will jetzt auch noch über den Internationalen Währungsfonds sprechen, der Argentinien wegen der Inflationsschummelei mit Strafen gedroht hat. Sie merken natürlich, dass Ihnen das Gespräch gerade entglitten ist, schütteln sich aber und nehmen einen neuen Anlauf. Es lässt sich sicher alles klären. Oder? »Schauen Sie, ich wiederhole, ich glaube, äh, das ist ein … ich weiß nicht … können wir kurz abbrechen?« Sekunden später, als die Kamera wie gewünscht von Ihnen weggeschwenkt ist, sagen Sie: »Ich möchte gehen, ja, ich möchte gehen. Und außerdem, ehrlich, über die Inflationsstatistik in Argentinien zu reden ist ein komplexes Thema, okay?«

Aber Sie haben ja eine Referentin dabei, die Ihre peinliche Vorstellung mitbekommen hat und versuchen wird, noch etwas zu retten. Nicht, dass Sie am Ende noch zur Witzfigur bei Youtube werden. Man kann ja so ein Gestammel auch wunderbar mit Musik unterlegen, da wirken Sie dann gleich doppelt lächerlich. Sicher wird Ihre Referentin wissen, dass das Mikrofon noch angeschaltet ist. Hören wir mal zu, was sie der griechischen Journalistin nun sagt: »Im Ernst, über Inflation reden, wo wir doch nicht einmal mit den argentinischen Medien über die Inflation reden …«

Auswertung

a) Sie haben das Zeug zum Politiker.

b) Sie sind Hérnan Lorenzino, Argentiniens Wirtschaftsminister

 

 

 

 

 

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)