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Vaters Tag

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Sonntag, 15. Juni 2014: Día del Padre, argentinischer Vatertag  — und die Mutter muss arbeiten.

Papa soll Frühstück machen.

Papa soll für die Marketingklausur am Dienstag lernen.

Papa darf nicht vergessen, dass er schon einmal durchgefallen ist.

Papa darf die Kinder nicht schon am Sonntagmorgen vor den Fernseher setzen.

Papa soll mit den Kindern auf den Spielplatz gehen.

Papa soll dem Jungen da die Schippe wegnehmen. Die gehört uns.

Papa muss anschubsen.

Papa kann dem Jungen da die Schippe nicht wegnehmen. Die gehört uns doch nicht.

Papa soll beim Pinkeln helfen.

Papa soll von der Wippe aufstehen.

Papa darf nach dem Mittagessen nicht einschlafen.

Papa soll für die Marketingklausur am Dienstag lernen.

Papa darf nicht noch mal durchfallen.

Papa soll nicht schon wieder »hijo de puta«, »la puta que te parió« und »la puta madre« sagen.

Papa will endlich die Aufstellung erfahren.

Papa soll mit den Kindern bestimmt schon wieder auf den Spielplatz gehen.

Papa darf sie immer noch nicht vor den Fernseher setzen.

Papa kann aber sehr gut lügen.

Papa kann natürlich auch sehr gut tanzen. Aber nicht jetzt.

Papa soll die Kinder baden.

Papa muss sie überreden.

Papa kann auch schreien, um zu überreden.

Papa soll aber nicht schreien.

Papa will Bier trinken. Oder Fernet mit Cola. Hauptsache, Alkohol.

Papa will nachher Argentinien gegen Bosnien und Herzegowina gucken.

Papa darf drei Gesichter blau und weiß anmalen.

Papa muss Abendessen machen.

Papa darf schon mal den Fernseher anschalten lassen.

Papa kann auch anders.

Papa muss Schulbrote schmieren.

Papa kann Argentinien gegen Bosnien und Herzegowina gucken (wenn jetzt endlich alle aufhören rumzuspinnen!).

Papa kann den Abwasch nicht länger stehen lassen.

Papa muss ungefähr 60 Zähne putzen.

Papa muss drei Kuscheltiere, diese verdammten Hurensöhne, finden.

Papa soll sich entschuldigen.

Papa soll mit einschlafen.

Jetzt wollte Papa Argentinien gegen Bosnien und Herzegowina gucken.

Elf Tage ohne

von CHRISTOPH WESEMANN

 

 

 

 

 

 

 

 

Pferderennen 3 Pferderennen 2 Pferderennen 1

 

 

Superclásico

  1. ((((((((((((((Und 140 verloren. []

Die Kinderquatschkomödie mit Katze, Spinne und Teos Papa

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, Tochter (vier Jahre), Sohn (sieben Jahre), Vater (jung wirkend)

Erste Szene

VATER. (singt Andrés Calamaro) »No sé si estoy despierto o tengo los ojos abiertoooooos.«1

SOHN. (zur Schwester) Welche Katze kann schwimmen?

TOCHTER. Fisch.

SOHN. Du bist so blöd.

VATER. He!

TOCHTER. Ich bin doch nicht blöd, ne, Papa?

VATER. Natürlich nicht, mein Schatz.

SOHN. Papi, welche Katze kann schwimmen?

VATER. Fisch.

 ≈ ≈ ≈ ≈ ≈≈

Zweite Szene

TOCHTER. Können wir was gucken?

VATER. Meinetwegen. (macht den Fernseher an) Uuuuh, Spider-Man. Den dürft ihr natürlich nicht gucken. Ich schalt mal …

TOCHTER. (aufgeregt) Nein, nein, nein, das ist nur Propaganda. Gleich kommt Violetta.

VATER. Wie nennst du das?

TOCHTER. (sehr aufgeregt) Das ist … das ist … das ist … äh … äh … Perbung.

≈ ≈ ≈ ≈ ≈≈

Dritte Szene

VATER. Hast du dich angeschnallt?

SOHN. Ja.

VATER. Wie war’s denn bei Teo? Erzähl mal.

SOHN. Gut.

VATER. Was habt ihr gemacht?

SOHN. Playstation.

VATER. Ach. (hupt und ruft) Fahr doch! (hupt abermals)

SOHN. Ich will auch eine Playstation, Papa.

VATER. Ich auch. Hat euch Teos Papa was zu essen gemacht?

SOHN. Wir hatten keinen Hunger.

VATER. Teo lebt aber eigentlich bei seiner Mama, ja?

SOHN. Aber am Wochenende ist er oft bei seinem Papa.

VATER. Und sag mal, Teos Mama hat doch einen neuen Freund, ne?

SOHN. Ja. Claudio.

VATER. Der ist ganz schön jung, oder?

SOHN. Der ist so groß wie du.

VATER. Ich meine, der ist noch nicht so alt wie Teos Mama.

SOHN. Kann sein. (überlegt) Warum wohnen die Mama und der Papa nicht mehr zusammen?

VATER. Pffffff. Männer, Junge. Der war zu anderen Frauen netter als zu ihr.

SOHN. (schweigt)

VATER. Und hat der auch eine Freundin?

SOHN. Wer?

VATER. Teos Papa.

SOHN. Nein.

VATER. Der wohnt ganz allein in dem großen Haus?

SOHN. Nee, die Oma …

VATER. Danke, reicht.

Vorhang

  1. Ich weiß nicht, ob ich wach bin oder die Augen offen habe. []

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

Die Herkunft der angeblichen Quilmes-Läuse (Richtigstellung)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich entschuldige mich in aller Form bei den Fans des Quilmes Atlético Club für die Unterstellung, meinen Sohn neulich im Fußballstadion mit Kopfläusen versorgt zu haben. Ich wurde unzureichend eingebunden. Leider erst heute, also viel spät, hat mich die Schuldirektorin des Siebenjährigen korrekt informiert.

Betreff: Zweite Antiläuse-Session

Liebe Familien,

wir haben beobachtet, dass die Läusefälle in der Schule zugenommen haben. Wir setzen auf unsere Alltagserfahrungen und darauf, dass wir von Ihnen wissen, dass es sehr produktiv war, den gemeinsamen Kampf zu fördern. Wir schaffen es gemeinsam, zumindest für eine Zeit, den Ansteckungsherd zurückzudrängen.

Nachdem ein paar Monate vergangen sind, ist es jetzt nötig, die Aktion zu wiederholen. Deshalb bitten wir Sie, an diesem Wochenende bei Ihren Kindern eine Antiläusebehandlung vorzunehmen, die dann – wieder einmal – einmal erfolgreich ist. Auf unsere Teamarbeit!

Herzlicher Gruß

(Übersetzung von mir)

Ich trete als Kolumnist dennoch nicht zurück. Ich bleibe im Amt.

Auf Spanisch klingt die Rundmail so:

Queridas Familias:

Hemos observado que se han incrementado los casos de pediculosis en el Colegio. Basados en nuestra experiencia cotidiana y en aquello que muchos de Uds. nos han transmitido evaluamos que fue muy productivo promover un combate en conjunto. Logramos entre todos, al menos por un tiempo, disminuir los focos de contagio.

Pasados unos meses se vuelve necesario repetir la acción. Los invitamos entonces a que este fin de semana del 8 y 9 de junio les realicen el tratamiento antipediculosis a sus hijos para que triunfe, una vez más, ¡nuestro trabajo en equipo!

Un afectuoso saludo

 

Papa allein zu Haus: Eine Prügelei, ein Schwein mit Trikotsponsor und das Winkebaby

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich bin erst zwei Tage allein mit den drei Kindern, das ist noch nicht einmal Halbzeit. Aber zum Glück habe ich alle im Griff.

◊◊◊◊◊

In der Küche, wo ich abwasche, erreichen mich Schreie aus dem Wohnzimmer. Ich klappere ein bisschen mehr mit dem Geschirr, vielleicht hilft das ja. Nein, die Schreie werden lauter, ich identifiziere: die Stimmbänder der fast Vierjährigen.

»He! Was ist da los?«

»Papa, er haut mich.«

Kurzes Nachdenken. Selbstgespräche ohne Ton. Ich sollte endlich etwas essen, oder? – Aber du wäschst doch gerade ab. – Trotzdem. Ich habe Hunger. – Ist sowieso nichts da. – Sag das doch gleich.

»Hau zurück.«

Der Kampf geht über mehrere Runden. Kein eindeutiger Sieger.

◊◊◊◊◊

Der Siebenjährige hat im Deutschunterricht am Internationalen Tag des Buches (23. April) ein Schwein basteln müssen. (Nein, was ein Schwein damit zu tun hat, kann ich nicht erklären. Ich wüsste es aber auch gern.) Ich lasse mir das Arbeitsheftchen zeigen.

Titelblatt: »Wir malen ein Schwein.«

Seite 2: »Wir malen drei Kreise auf das Blatt.«

Seite 3: »Dann malen wir vier Punkte.«

Die Aufgaben mögen für Zweitklässler etwas sehr leicht wirken, aber es sind ja argentinische Zweitklässler, die Deutsch lernen. Ich nehme zum Beispiel an, dass bei mir – wären das spanische Sätze – am Ende eine Giraffe herauskäme. Oder ein Nashorn.

Seite 4: »Wir malen zwei Dreiecke.«

Seite 5: »Und nun malen wir zwei Vierecke.«

Seite 6: »Am Ende malen wir einen Kringel.«

Rückseite: »Jetzt basteln wir zusammen ein buntes Schwein!«

Das Sohnschwein heißt Lloyd und sieht so aus:

Boca Schwein

Lloyd trägt das Trikot der Boca Juniors, ganz eindeutig. Sein Verein. Mein Verein. Unser Verein. Sogar an den Trikotsponsor hat mein Sohn gedacht. Aber Schwein bleibt Schwein. Ich weiß nicht, ob das bei dem Burschen was Harmloses ist – vielleicht Unterbelichtung im Oberstübchen – oder eher was Dramatisches: Vereinswechsel.

 

◊◊◊◊◊

Die Rothaarige ist fasziniert von den chinesischen Winkekatzen, die in vielen Schaufenstern stehen, es gibt ja auch viele Chinesen. Manchmal schauen wir minutenlang zu, wie die kleinen Goldviecher hinter der Scheibe den Arm auf und ab bewegen. Man trifft in Buenos Aires eigentlich keine Katzen, vielleicht wegen der vielen Chinesen. Hunde gibt es allerdings genug.

Wenn wir weitergehen, frage ich: »Macht die Katze miau

Die Rothaarige schüttelt den Kopf, sagt »no«, ballt die Faust und winkt mit dem Arm.

Schlechter Riecher vs. kleines Hirn

von CHRISTOPH WESEMANN

Vor dem Estadio José Amalfitani im Stadtviertel Liniers, noch dreißig Minuten bis zum Anpfiff des Ligaspiels Vélez Sársfield gegen Estudiantes

»Christoph?«

»Sí?«

Fehlpässe, Stockfehler (ohne Stock), Flanken hinters Tor, Fernschüsse zur Eckfahne: Vélez Sársfield und Estudiantes werden nichts auslassen. Ein übles 1:1 in einem nur halb gefüllten Stadion. Mein Sohn, sein bester Freund und ich werden uns langweilen. Aber das wissen wir noch nicht.

»Tengo ňœƏƋ◊ ǥǚȫ ȯȹ ɧˁʢʤ ʥʘʙ.«

»Qué?«

Meine beiden siebenjährigen Begleiter werden in der ersten Halbzeit neue Schimpfwörter lernen. Aber das wissen sie noch nicht.

»Tengo ňœƏƋ◊ ǥǚȫ ȯȹ ɧˁʢʤ ʥʘʙ.«

In der zweiten Halbzeit werden sie die Schimpfwörter anwenden auf Stürmer und Stürmerschwester, Torwart und Torwartmutter, Innenverteidiger und Innenverteidigerfreundin, Schriri und Schirigattin. Aber das weiß ich noch nicht.

»Du, was sagt er?«

»Er hat Popel in der Nase.«

Cancha 1

Cancha 2

Cancha 3

Cancha 4

 

Meine Tochter seine Kolumne

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn meine Tochter diese Kolumne geschreibt hätte, was sie mit ihren dreieinhalb Jahren noch nicht kann, heißte der erste Satz bestimmt so. Natürlich frage ich mich, warum sie Verben falsch beugt, mir und mich verwechselt und bei allen vier Fällen patzt. Wäre ihr Spanisch miserabel, könnte ich die Schuld auf mich nehmen. Ihr Spanisch ist aber sehr gut. Und schon in Berlin klang ihr Deutsch ja, als würde sie zu oft mit den harten Jungs abhängen. Dabei war sie nur im russischen Kindergarten.

Es könnte sein, dass wir zu chaotisch gelebt haben. Meine Tochter war als Embryo vor allem in der Ukraine unterwegs. Geboren ist sie in Deutschland, aber drei Wochen nach der Geburt waren wir schon wieder in Odessa. Als sie acht Wochen alt war, ist sie mit uns im Nachtzug 14 Stunden lang auf die Krim gefahren. Kein Ukrainer hat das verstehen können.

Weil ihre Eltern berufstätig waren, hat sie in den ersten fünf Lebensmonaten die Dienstage, Mittwoche und Donnerstage mit Oksana verbracht. Oksana war ihre Tagesmutter und sprach gar kein Deutsch. Dann sind wir nach Berlin umgezogen, und weil in den Kindergärten der Weststadt das Mindestaufnahmealter ein Jahr ist, landete sie wieder bei einer Tagesmutter. Diese Tagesmutter war als junges Mädchen in den siebziger Jahren aus Valencia nach Berlin gekommen und sprach auch nicht sonderlich gut Deutsch. Sie berlinerte, wa.

Dass das negativen Einfluss auf ihre Sprachentwicklung gehabt hat, kann ich ausschließen, weil meine Tochter kaum Zeit mit ihrer Tagesmutter verbrachte. Meist saß sie nämlich auf dem Schoß der Tagesmuttermutter, die logischerweise auch in den siebziger Jahren, aber schon nicht mehr als junges Mädchen aus Valencia nach Berlin gekommen war. Sie sprach Spanisch – jedenfalls mit Spaniern. Mit allen anderen redete sie in einer schwer verständlichen Fantasiesprache, die vor allem aus Babylauten bestand.

Diese Frau, heute 73, hat nie richtig Deutsch gelernt, aber sie vergötterte meine Tochter und weinte hemmungslos, als wir einen Platz im russischen Kindergarten gefunden hatten. Dort verbrachte meine Tochter zwei Jahre. Sie lernte Russisch. Dann kam Buenos Aires.

Jetzt beginnt ihr Tag damit, dass sie sich auf dem iPad eine zu knapp bekleidete Russin anguckt, die sich als Sprachlehrerin ausgibt und die kyrillischen Buchstaben vorstellt. Wenn ich nach zehn Minuten (und noch schnell das russische Fahrgestell inspizierend) einschreite, motzt sie zunächst auf Spanisch und dann, damit ich’s auch verstehe, auf Deutsch.
»Oh Mann, Papa! Du hast mich gestern versprecht, dass ich ganz lange gucken darf.«
»Papa versprecht hier gar nix, damit das mal klar ist.«
»Das sag ich meine Mama. Dann schimpft sie dich.«

Dann bringe ich sie in den Kindergarten, wo ausschließlich Spanisch gesprochen wird – oder eben das, was Argentinier daraus machen. Meine Tochter hatte zunächst eine Liaison mit Juani, der ihre Leidenschaft für Karate teilt; Väter tun sich ja angeblich schwer, den ersten Freund zu akzeptieren. Ich aber mochte Juani sehr und war sogar ein bisschen traurig, als meine Tochter dann was mit Vicente angefangen hat. Juani ist freilich selbst schuld, und ich hab ihm das auch gesagt: Er kommt immer erst gegen zwölf in den Kindergarten – tja, vormittags hatte Vicente freie Bahn. Seine Neue sagt dazu übrigens: »Ich hab mich mit ihn heute gut gehaut. Juani hat mich manchmal auch gebeißt. Das willte ich nicht mehr.«

Meine Tochter und ich haben wohl noch Mühe, unsere Rolle in Argentinien zu finden. Bei mir ist absehbar, dass ich sie nie finden werde, weil mir Brusthaare fehlen. Ich meine das durchaus auch im übertragenen Sinne: Mit welcher Verachtung mich die Bauarbeiter von gegenüber anschauen, wenn ich auf der Terrasse die Wäsche aufhänge!

Meine Tochter wiederum kann mit Puppen nicht so viel anfangen. Sie hat vier, alle namenlos. Ab und an legt sie einer eine Windel um, vergisst aber das Wechseln, weil sie längst mit ihrem Bruder Fußball spielt oder ihm beim Legobauen die Steine reicht. Sie trägt auch keinen Ohrschmuck, was hier ein Problem ist. Argentinischen Mädchen werden nämlich, kaum, dass sie den Kreißsaal verlassen haben, die Ohrläppchen durchstochen und mit meist erbsengroßem Gold gefüllt. Am Anfang habe ich gedacht, man mache das, weil nach dem Geburtsstress das Lochen nicht als Schmerz empfinden wird. Nach allem, was ich jetzt weiß, ist es so, dass die Babys doch eher nicht so gelassen reagieren.

Ihr mieses Deutsch macht mir wirklich Sorgen. Frank Schweizer, ein Philosoph und Autor von Fantasyromanen, schreibt in seinem Buch Seltsame Sprache(n): Oder wie man am Amazonas bis drei zählt:

Eine Untersuchung hat gezeigt, dass im Alltag 250 bis 500 Wörter ausreichen, damit sich ein normaler Mensch über alles unterhalten kann.

Das hat mich zunächst ein bisschen beruhigt. Dann aber habe ich im Auto festgestellt, dass sich die Grammatikschwäche ausbreitet und auch andere, bislang intakte Bereiche der Sprache befällt. Es ist wie ein Geschwür.
»Papa, können wir die CD hören?«
»Klar.«
»Das dreihe ist mein Lieblingslied.«
»Das Dritte, Schatz.«
»Nee, Papa, drei!«
»Dritte gleich drei.«
»Okay.«
»Ja?«
»Hab ich verstanden, Papa.«
»Toll. Wo ist denn die CD, Mäuschen?«
»Gestern liegte sie noch auf dem Sitz.«
»Jetzt aber nicht.«

Und dann sagt sie ihren Lieblingssatz:  »Wenn nicht, dann nicht.«

Ach, was soll’s, sie ist ein wunderbares Mädchen. Sie zickt niemals rum, nicht mal bei Pedro. Pedro arbeitet in dem Kinderfrisörladen bei uns im Viertel und hat Arme, Beine und vermutlich noch andere Stellen seines Körpers tätowiert: Schlangen, Totenköpfe, Drachen, Feuer, Diego Maradona, das ganze Programm. Ich hätte mir mit dreieinhalb Jahren von so einem nicht die Haare schneiden lassen. Aber ich wurde ja auch, damals in den Achtzigern, von meiner Oma dauernd vor »Punkern« gewarnt. Ich hatte absolutes Punkeranguckverbot. Das muss man sich vorstellen: Da steht ein Kerl mit rot-grünem Hahnenkamm und Nasenring neben einem Fünfjährigen mit DDR-Kinderstandardrundschnitt an der Ampel, und Oma zischt: »Nicht hingucken!«

Meine Tochter ist viel weiter als ich damals, so weltoffen und furchtlos, wie ich es nie sein werde. Vor meinem ersten Flug zum Beispiel war ich schon älter als sie bei ihrer Luftpremiere und wahnsinnig aufgeregt. Die Stewardess hat mir helfen müssen, den Anschnallgurt zu schließen. Ich hatte eine Handvoll Bonbons gegen den Ohrendruck dabei.

Ich war 26 und flog von Berlin nach Wien.

Deutsch-argentinischer Größenwahn

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein sechseinhalbjähriger Sohn hält sich für Lionel Messi, den besten Fußballer der Welt, geboren in der argentinischen Millionenstadt Rosario.1 Und ich bin sehr weit von irgendeiner Karriere entfernt und glaube deshalb gern, dass er bald von allen großen Klubs dieses Planeten gejagt wird. Dann werde ich sein Manager, zumindest so lange, bis er dahinterkommt, dass ich sowohl faul als auch überfordert bin, und mich abfinden muss. Jedenfalls sagt mein Sohn: »In der Schule spielen mich immer alle an. Genau wie Messi. Der kriegt auch immer den Ball, weil er der Beste ist.«

Größenwahn im sehr frühen Stadium? Nein! Mein Sohn ist nach nur vier Monaten in Buenos Aires schon argentinisiert. Fragen Sie mal einen Kolumbianer, Uruguayer, Peruaner oder Chilenen, was er vom Argentinier als solchen hält. Ja, die Argentinier sind in Südamerika nicht unbedingt beliebt. Man hält sie für arrogant. Es ist auch der Stolz, die einzigen Weißen des Kontinents zu sein, obendrein Nachfahren europäischer Einwanderer, der sie manchmal herabschauen lässt auf all die Nachbarn. Und unter den hochnäsigen Argentiniern ist der Porteño, der Bürger der Hauptstadt Buenos Aires, der hochnäsigste. Andererseits lebt er auch in der wichtigsten Metropole der Welt. »Gott ist überall«, sagt der Porteño, »aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mein Sohn integriert sich also bloß. Als Familienoberhaupt ist es mir wichtig, dass sich meine drei Kinder integrieren. Es klappt. Wenn die Einjährige fiebert, trinkt sie Mate, das teeähnliche Nationalgetränk. Sie spricht außer »hola« und »Mama« kein Wort, zieht aber an der bombilla, dem Halm aus Weißblech, als hätte ich sie im Kinderwagen und ohne Nuckelflasche eine Woche durch die Pampa geschoben. Die Dreieinhalbjährige verdrückt die Riesensteaks mit Speckrand, was nicht ohne Folgen für ihre Figur bleibt. Wenn sie im
Park mit uns Fußball spielt und natürlich auch Messi sein will, sagt ihr Bruder: »Du bist zu dick für Messi, du bist Maradona.«

Mein Sohn und ich tendieren zu Real Madrid. Aber unter Bayern München, Manchester United oder Juventus Turin machen wir es nicht. Hansa Rostock kann gern meine Tochter unter Vertrag nehmen.

(Diese Kolumne ist erstmalig in der Schweriner Volkszeitung erschienen.)

  1. Der andere berühmte Rosarino ist übrigens Che Guevara. []

Manuel und der Detektiv

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich kenne mich, und ein Mensch, der mir sehr nahesteht, behauptet sogar, das täte ich überaus gern. Ich kann ausschließen, dass ich eines Tages im Bad mein Spiegelbild anschreien werde. Ja, vielleicht schreie ich dann auf der Straße Wildfremde an, einfach so, das wiederum schließe ich nicht aus. Um ehrlich zu sein: Ich gehe davon aus, dass das hin und wieder passiert, so ein-, zweimal pro Woche. Seit heute Morgen weiß ich, dass ich ein bisschen auf mich achtgeben muss.

Gestern war noch alles in Ordnung.

Ich hatte im Supermarkt neben dem Kindergarten ein Baguette gekauft, so ein Ding, das sich der Nichtfranzose in die Achselhöhle des Franzosen denkt. Dann ließ ich mir von Fernanda, der Erzieherin, die Kinder aushändigen, zählte auf der Straße nach, kam auf drei und war zufrieden. Das Baguette klemmte ich am Dach des Kinderwagens fest. Der hatte nun ein bisschen Überbreite, aber mit drei Kindern hat die ja jeder Spaziergang.

Ich wollte nach Hause gehen. Die Kinder wollten das auch, im Prinzip, also nicht gleich, lieber in zwei Stunden und unbedingt erst nach einem Ausflug auf den Spielplatz. Vielleicht bin ich auf der ganzen Welt der einzige Vater, der nicht gern Spielplätze besucht. Vielleicht liegt es daran, dass meiner Tochter immer eine halbe Sahara in den Nacken gekippt wird und ich meinen Sohn überreden muss, sich dafür zu entschuldigen. Und eine große Gemeinheit, zu der Kinder fähig sind, ist die, dass sie zwar überall allein hinaufkommen, aber nicht wieder hinunter, weshalb mir ständig irgendein rostiges Klettergerüst beweist, dass ich alt und ängstlich und schwach geworden bin. Wir verhandelten mehrere Minuten und einigten uns auf: erst ein Eis, dann eine Limonade und dann nur eineinhalb Stunden Spielplatz. Ich habe schon schlechter verhandelt.

Ein Weilchen später, nachdem ich ein paar Mal bemerkt hatte, wie alt und ängstlich und schwach ich geworden bin, entdeckte ich, dass der Kinderwagen keine Überbreite mehr hatte. Das Baguette war angebissen.

Meine Kinder behaupteten gleich, nichts gegessen zu haben. Ich ließ sie nebeneinander antreten und durchsuchte ihre Münder nach Brotresten. Bestimmt gibt es elegantere Methoden, ein Verhör vielleicht, aber bei meinen Kindern klappt das nicht. Die beschuldigen sich entweder gegenseitig oder geben einander ein Alibi. Und ich bin nun einmal nicht halb so schlau wie Inspektor Columbo.

Nichts. Keine Brotreste.

Mein Sohn hatte gleich einen Verdächtigen gefunden: den Jungen im Trikot von River Plate.

Es ist in Buenos Aires sehr verrückt mit dem Fußball. In keiner anderen Metropole, vielleicht mit Ausnahme Londons, gibt es so viele Erstliga-Fußballklubs. Die beiden wichtigsten Vereine der Stadt und damit auch des Landes sind die Boca Juniors und River Plate. 40 Prozent der argentinischen Fußballfans, vor allem viele Arbeiter, fiebern angeblich mit Boca, 32 Prozent, vor allem die Mittelschicht und die Wohlhabenden, halten zu River. Der Rest ist für Quilmes oder San Lorenzo oder Rosario, weiß der Teufel, warum. Und wenn die beiden Großen gegeneinander spielen, ist das natürlich kein »Clásico«, sondern ein »Superclásico«, der das Land tagelang lahmlegt.

Es gibt angeblich sogar Fans, die testamentarisch verfügen, dass sie im Trikot des Feindes beerdigt werden – damit wenigstens einer von denen geht. Verglichen mit diesem Duell, bestreiten Schalke und Dortmund zweimal im Jahr ein Kaffeekränzchen.

Mein Sohn steht auf Boca, obwohl sein Vater kein Arbeiter ist, und er hat seine Gründe. Der eine ist: Diego Maradona. Argentiniens »Goldjunge« hat zweimal für Boca gespielt, von 1981 bis 1982 und von 1995 bis 1997. Der andere Grund ist: Rivers Trikot hat einen roten Diagonalstreifen.
»Vorsicht, mit falschen Beschuldigungen, mein Sohn«, sagte ich.
»Nein, Papa, die von River sind wirklich böse.«

Nun weiß man von Fjodor Dostojewskis Rodion Romanowitsch Raskolnikow, dass der Täter ein Gewissen hat und sich selbst überführen kann. Ich stellte dem Brot-Dieb also eine Falle. Ich zog das verbliebene Baguette ein Stück aus der Tüte und legte es zurück auf den Kinderwagen, entfernte mich und schaukelte wie ein Irrer. Mein Brot ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Schon bald sah ich, wie sich ein Junge meinem Baguette näherte. Ehe er zugreifen konnte, stellte ich ihn.

Über die Verschlagenheit der Porteños braucht mir keiner mehr etwas zu erzählen. Die haben’s wirklich drauf, und ich bin von ihren Künsten jeden Tag aufs Neue überfordert. Ich kaufe in der U-Bahn oder an der Straßenecke immerfort Dinge, die ich schon besitze, nicht brauche oder nicht brauche und trotzdem besitze: Ich habe für umgerechnet acht Euro eine Armbanduhr gekauft, die nach drei Wochen eine Ex-Armbanduhr ist und ihren vorzeitigen Ruhestand in einer Schublade verbringt. Eine Ex-Umhängetasche habe ich auch. Ohne Schultergurt hängt sie jetzt irgendwo ab. Und wenn ich nachschaue, welches unfähige Volk auf Erden etwas herstellt, das sich selbst zerstört, steht irgendwo stolz und groß: »Industria Argentina«.

Ich lese gerade die neue Ausgabe der Straßenzeitung »Hecho«, die der Verkäufer als argentinisches »Hinz&Kunzt« bewarb, nachdem er erfahren hatte, dass ich aus Deutschland komme. Erst vorgestern habe ich einem übel zugerichteten Mann so viele Pflaster abgekauft, dass ich jede Nacht auf einem Kaktus schlafen könnte und trotzdem noch genug hätte für die ersten Schnittwunden im Jenseits. Andererseits, vielleicht kleben die Pflaster auch gar nicht.

Wenn ich in der U-Bahn ausnahmsweise einmal nichts kaufe, liegt das daran, dass der Waggon so voll ist und ich nicht an mein Geld komme, weil ich affenähnlich an der Stange hänge, um jemandem Platz zum Aussteigen zu machen. Die »Subte« ist eigentlich immer voll, also jedenfalls morgens, mittags, nachmittags und abends. Ich bin mittlerweile fünfzigmal gefahren und hab einmal gesessen: an einem Sonntagmorgen um halb zehn. Aber da benimmt sich die Hauptstadt auch, als hätte sie einen Kater. Zu allen anderen Zeiten sind die Züge so voll, dass immer Hände am Gesäß sind – entweder die eigenen an einem anderen oder die anderen am eigenen. Ich habe auch den zweiten Fall zu schätzen gelernt.

Im Augenblick ist die »Subte« leer. Sie fährt nämlich gar nicht, weil die Angestellten seit Freitag für höhere Löhne streiken. Die Stadt liegt lahm, als würden fünf »Superclásicos« am Stück gespielt; an den Haltestellen stehen 200 Menschen und warten auf den Bus; der kommt und fährt weiter, weil er schon voll ist. Ein Taxi zu finden ist fast unmöglich. Und auf den breitesten Straßen der Welt stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Es gibt im Fernsehen Sondersendungen, aber die Leute bleiben fröhlich. Niemand rempelt. Niemand flippt aus. Geflucht wird, als führe die »Subte«. Also pausenlos.

Ich fahre auch Auto in Buenos Aires. Ich hatte ein bisschen Angst vor der ersten Tour, auch vor der zweiten und dritten, das hört wohl nie ganz auf. Mag sein, dass es anderen egal ist, wenn sie etwas falsch machen und deshalb von vorne, von der Seite und von hinten beleidigt werden. Ich werde nie ganz loswerden, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Ich denke noch immer, das spricht sich rum unter den drei Millionen Argentiniern in Buenos Aires, ungefähr so: »Da ist ein Deutscher in der Stadt, hombre, wie der fährt, das glaubst du nicht. Eine Navi im Cockpit, die mehr wert ist als mein Auto, aber null Orientierung. Ohne Bordsteinkante stünde der mit seiner Kutsche schon in deinem Schlafzimmer.«

Aber Pablo hat mich beruhigt. Er wohnt über mir. Ich weiß nicht, was er beruflich macht, ich würde es wahrscheinlich ohnehin nicht verstehen. Er hingegen weiß schon allerhand über mich, ich habe mich als neuer Nachbar jedenfalls gleich ordentlich vorgestellt.
»Ich nenne dich Cristóbal oder jefe, vielleicht auch Deutscher oder Brille oder Nase, so machen wir das hier nämlich«, sagte er. »Und damit das klar ist: Deinen grässlichen Nachnamen merke ich mir gar nicht erst.« Ich sieze Pablo, aber auch nur, weil ich das »voseo«, die südamerikanische Form des Duzens, noch nicht richtig beherrsche.
»Eines solltest du wissen«, sagte Pablo. »Porteños sind schlechte Autofahrer. Porteños behaupten immer, alles zu können, ich weiß das, weil ich selbst einer bin.«
»Und was bedeutet das für mich?«
Pablo überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Weiß nicht.«
»Muss ich anders fahren?«
»Ich denk drüber nach«, sagte er und verabschiedete sich. »Ich kann übrigens sehr gut Auto fahren.«

Am nächsten Tag klebte an meiner Tür ein Zettel von Pablo. Darauf stand: »Habe noch mal nachgedacht, Schumi. An vielen Ecken stehen Jugendliche und bieten Dir etwas an, wollen die Autoscheibe putzen oder machen Kunststücke, wenn die Ampel rot ist. Sei höflich und zeig ihnen mit Deinen Händen ein no! Und für nichts auf der Welt öffnest Du das Fenster, für nichts auf der Welt, selbst wenn jemand auf dem Asphalt einen Kopfstand macht, der olympiareif ist, für nichts auf der Welt. Ist das klar?«

Mir ist gleich aufgefallen, dass Argentinier anders fahren. In Deutschland benutzt man gern die Lichthupe, hier lässt man das Licht weg. Zebrastreifen sind nur Zierde und darüber hinaus ohne jede Bedeutung. Ich habe noch keine Ahnung, wie das an einer Kreuzung ohne Ampel ist. Es ist alles sehr industria Argentina. Manchmal kommt es mir vor, als würde rechts vor links praktiziert. Aber diese Regel scheint nicht immer und nicht überall zu gelten. Manchmal fährt auch links vor rechts. Ich schließe nicht aus, dass es auf die Schönheit ankommt – nur: auf die Schönheit des Autos (gut für mich) oder die des Fahrers (gut für die anderen)?

Der argentinische Rodion Raskolnikow hat sich mir übrigens als Manuel vorgestellt, doch wahrscheinlich ist das nicht sein echter Name. In einem hundsgemeinen Dialekt, den ich kaum verstand, bestritt er alles. Ich ließ ihn erst mal ausreden und fragte dann nach seiner Mutter. Manuel sagte, er sei mit seinem Vater auf den Spielplatz gekommen, und zeigte auf einen in der Sonne dösenden Riesen.

»Na ja, wir können das ja auch alleine klären«, sagte ich. Mit einem hundsgemeinen Akzent, den er kaum verstand, redete ich auf ihn ein. Ich machte ihm erst ein schlechtes Gewissen und gab dann der Welt, dem lieben Gott und der Präsidentin eine Teilschuld. Irgendwo, zwischen zwei eher wirren Gedanken, verlor ich auch meine Grammatik. Um Manuel zu zeigen, dass er nicht stehlen müsse, sondern auf die Gutherzigkeit von lieben Menschen vertrauen solle, schenkte ich ihm zum Abschied noch ein Stück vom Baguette und bestand darauf, dass er es vor meinen Augen isst. Noch mit vollem Mund behauptete er, Weißbrot gar nicht zu mögen.

Ich fühlte mich gut. Ich hatte einem Kleinkriminellen den Weg aus dem Milieu gewiesen. Von meinen Kindern ließ ich mich feiern.

Das fehlende Baguettestück habe ich am nächsten Morgen auf dem Weg zum Kindergarten gefunden, an einer Stelle des Bürgersteigs, die für Kinderwagen mit Überbreite sehr eng ist.

Ich nehme die Beschuldigungen hiermit zurück. Tut mir Leid, Manuel.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)