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Don Julio, Coqui und die singenden Schränke: Wie in Argentinien mit Fußball Politik gemacht wird

von CHRISTOPH WESEMANN

Stellen wir uns vor, dass neulich, als Bundestrainer Joachim Löw seinen vorläufigen WM-Kader bekanntgab, Kanzleramtsminister Peter Altmaier dabeigesessen hätte, der Mann, der die Regierungsgeschäfte koordiniert. Stellen wir uns außerdem vor, dass vorher beim Deutschen Fußballbund ein Anruf aus dem Kanzleramt eingegangen wäre mit der dringenden Bitte an Löw, seinen Auftritt um ein paar Stunden zu verschieben – Herr Altmaier könne erst am späten Nachmittag beisitzen. Am Abend sprach dann zunächst Altmaier, er grüßte von Angela Merkel und blickte dabei unter anderem auf Sigmar Gabriel. Der Wirtschaftsminister war nämlich auch da. Und eine ganze Schar weiterer Prominenz aus dem Regierungslager.

Absurd?

Genau so war es in Argentinien. Am frühen Abend des 13. Mai, als Trainer Alejandro Sabella seine 30 Spieler benannte, saß neben ihm Jorge Capitanich, der Kabinettschef der Präsidentin, Spitzname: Coqui. Fast wäre er wegen anderer Termine nicht gekommen. Aber glücklicherweise hatte jemand aus dem Regierungspalast beim Fußballverband angerufen und gebeten, die Veranstaltung zu verschieben. Auch andere Minister und hochrangige Funktionäre hatten nichts Besseres zu tun, als dem Trainer der Nationalmannschaft Gesellschaft zu leisten. Der öffentliche Sender Canal 7 übertrug. Die privaten Sportkanäle wollten auch und durften nicht.

Kabinettschef Jorge Capitanich (l.), Nationaltrainer Alejandro Sabella (M.) und Verbandspräsident Julio Grondona                              Foto: Casa Rosada

»Während der WM wird in Argentinien nicht über andere Dinge geredet werden. Das beweist die Fußballleidenschaft des argentinischen Volkes«, sagte Capitanich und lachte. Er überbrachte »herzliche Grüße« der Präsidentin Cristina Kirchner und lobte die Politik der Regierung. »Es gibt 13 000 Dorfschulen mit Fernsehanschluss, um die WM zu gucken. Es wird möglich sein, die 64 Partien an öffentlichen und halböffentlichen Plätzen über Antenne zu schauen.«

Dann erst durfte Sabella den vorläufigen Kader verkünden.

 

Nun spielt die Politik auch anderswo gern mit dem Fußball (und dem Sport insgesamt). Fußball ist fast überall auf der Welt ein Massenauflauf, zumal in Deutschland, er ist vielleicht das letzte Lagerfeuer, um das sich das Fernsehvolk noch versammelt. Und wo es kuschelig und gemütlich ist, sind immer auch Politiker.

Die Regierung von Cristina Kirchner aber hat sich in den argentinischen Fußball eingekauft. Um die 500 Millionen Euro soll das Regierungsprogramm Fútbol para Todos (Fußball für Alle) seit seiner Einführung 2009 gekostet haben. Dafür werden alle Spiele der ersten Liga (und wichtige der zweiten) von freitag- bis montagabends live im staatlichen Fernsehen gezeigt. Vorher waren die Partien nur gegen Geld zu sehen – fútbol para pocos, Fußball für wenige, wie einer der kirchnertreuen Spielkommentatoren  sagt.

Dafür aber wird nun bis in die Anstoßzeiten hineinregiert. Das jeweilige Spitzenspiel am Sonntagabend beginnt mittlerweile nicht mehr um halb neun, sondern erst eine Stunde später – und endet damit kurz Mitternacht. Verfügt wurde das, um die Einschaltquoten von Periodismo para Todos (Journalismus für Alle) zu drücken. Die beliebte Sendung deckt politische Skandale im Kirchnerland auf, nimmt die Erfolgsmeldungen der Regierung auseinander – und schlägt oft obendrein noch in der Zuschauergunst die Großklubs Boca oder River, die gerade auf einem anderen Kanal zu sehen sind.

Der Superclásico 2014 zwischen den Boca Juniors und River Plate in der Bombonera

Vielleicht sind die wahren Ausgaben für den kostenlosen Blick auf den Kick auch noch höher, denn die Regierung verschleiert gern und packt dann ein paar Millionen in den Nachtragshaushalt. In diesem Jahr soll Fútbol para Todos pro Tag – wohlgemerkt: nicht pro Spieltag – 450 000 Euro verschlingen. Eine ordentliche Summe ist das für ein Land, das in weiten Teilen noch immer bettelarm ist.

Die Einnahmen, wenn der Ball im Fernsehen rollt, sind indes gering. Es gibt zwar einen TV-Hauptsponsor, dessen Lastwagen hin und wieder eingeblendet werden; die meiste Zeit wird jedoch die Regierung beworben – mit dicken Bauchbinden am Bildschirmrand während der Übertragung, mit Reklamefilmen in der Halbzeitpause und lobenden Worten der Reporter.

»Fútbol para Todes gibt es ja nicht, um Geld verdienen«, hat Hebe de Bonafini gesagt, die Anführerin der regierungstreuen Fraktion der Mütter der Plaza de Mayo. »Es ist dafür da, Politik zu machen.« Sie berief sich dabei auf Néstor Kirchner, den 2010 verstorbenen Ex-Präsidenten und Erfinder der kostenlosen Fernseh-Propaganda mit dem Ball.

Jorge Capitanich, der Chef des Kabinetts (l.), und Julio Grondona, der Präsident des argentinischen Fußballverbands                  Foto: Casa Rosada

Über allem und allen thront jedoch in Argentinien Julio Grondona, genannt Don Julio, Chef des Fußballverbandes (Afa) seit 1979 und auch erster Vizepräsident des Weltverbandes Fifa. Die Regierung kauft der Afa die Übertragungsrechte ab und finanziert so Grondonas Reich. Der wiederum verteilt die Beute an die Klubs, deren Präsidenten im Hauptberuf oft Politiker sind – Minister, Abgeordnete, Senatoren, Parlamentspräsidenten – oder es werden wollen, falls sie es nicht schon waren. Die Vereine verschaffen ihnen Prestige und eine halbkriminelle Fantruppe namens Barra Brava (Wilde Horde), eine exklusive Gemeinschaft singender Schränke. Sie sorgt für die Stimmung im Block, zieht aber auch mit in den Wahlkampf, trommelt Demonstranten zusammen oder blockiert ein Fabriktor – und wird reichlich entschädigt: mit Eintrittskarten für den Schwarzmarkt, der Kontrolle über Imbissstände und Parkplätze rund ums Stadion, mit Narrenfreiheit und politischem Schutz.

Am Ende haben alle profitiert, es gibt keine Verlierer in diesem System, keine Opfer – und nur die hätten Grund, sich gegen die Korruption zu wehren.

Die Barra Brava von Ferro Carril Oeste, einem Hauptstadtklub aus der zweiten Liga

Die Barra von Vélez Sarsfield im Estadio El Monumental

Julio Grondonas Markenzeichen war jahrzehntelang der goldene Ring am kleinen Finger der linken Hand mit dem eingravierten Spruch: »Todo pasa«, alles geht vorüber. Sein Lebensmotto. Nichts hat ihn zur Strecke gebracht. Journalisten veröffentlichten Auszüge seiner vollen Auslandskonten, die argentinische Justiz ermittelte, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, die Fehlerchen der Ehrenmänner dieser Welt, todo pasó, alles ging vorüber.

Doch dann starb am 12. Juni 2012 seine Frau Nélida Pariani, genannt Nelly, und der Witwer zog den Ring ab. »Die Probleme der Arbeit, des Fußballs, der privaten Angelegenheiten – alles geht vorüber«, erzählte Don Julio später. »Aber solche Dinge nicht.« Wobei auf aktuellen Bildern am Ringfinger etwas Goldenes funkelt, das dem abgelegten Stück zumindest ähnelt.

Zwölf Präsidenten hat Grondona (82) als Fußballboss überlebt, wobei man ihm zugute halten kann, dass Argentinien wegen des Komplettzusammenbruchs vor fast dreizehneinhalb Jahren zwischen dem 21. Dezember 2001 und dem 2. Januar 2002 von fünf Staatschefs regiert wurde.

Und weil Argentinier gerne übertreiben und obendrein noch am Abgrund stehend Weltklasse beanspruchen, spricht das Volk heute von cinco presidentes en una semana.

Fünf Präsidenten in einer Woche: Das hat ja wohl außer uns auch noch keiner geschafft, eh?

♦♦♦♦♦

Für Freunde der Statistik: die fünf Präsidenten

  • 21. Dezember 2001: Rücktritt von Fernando de la Rúa
  • 21. bis 22. Dezember 2001: Ramón Puerta
  • 23. bis 30. Dezember 2001: Adolfo Rodríguez Saá
  • 31. Dezember 2001 bis 1. Januar 2002: Eduardo Camaño
  • 2. Januar 2002: Amtsantritt von Eduardo Duhalde (bis 25. Mai 2003)

Die Königin aus dem Reich der überwachten Kondome

von CHRISTOPH WESEMANN

1. März 2014 (Foto: Casa Rosada)

1. März 2014 (Foto: Casa Rosada)

Cristina Kirchner kann sich auch kurz fassen. Für ihre Verhältnisse, versteht sich. Am Sonnabend hat Argentiniens Präsidentin die diesjährige Parlamentssaison eröffnet und bloß zwei Stunden und 45 Minuten geredet. Vor einem Jahr hatte sie sich eine Stunde länger Zeit genommen, um zu den Abgeordneten und Senatoren zu sprechen. Damals benahm sich der Congreso de la Nación allerdings wie ein Fußballstadion und sah auch so aus, was vor allem daran lag, dass auf den Zuschauerrängen die treuesten Anhänger der Präsidentin saßen: die Mitglieder von La Cámpora, der militanten Jugendbewegung, die von Cristina Kirchners Sohn Máximo angeführt wird. Die Cámporisten hatten ihre Fahnen mitgebracht, sie sangen und warfen Papierflieger auf die Politiker der Opposition.

1. März 2013 (Foto: Casa Rosada)

Diesmal war es deutlich ruhiger – wohl auch, weil sich die Opposition, Sieger der Parlamentswahlen im Oktober, ein ähnliches Spektakel nicht noch einmal hätte gefallen lassen. Es gab vorab allerdings ein paar Unstimmigkeiten. So übernahm die Casa Rosada, der Präsidentenpalast, die Vergabe der Eintrittskarten und bevorzugte dabei abermals Anhänger der Regierung. Und anders als in früheren Jahren durften nur die offiziellen Fotografen des Parlaments im Saal bleiben – die der Zeitungen mussten nach fünf Minuten hinaus. Die Opposition beklagte dies, entschied sich aber dagegen, ein Zeichen zu setzen, und behielt sich nur vor, im Falle von Provokationen hinauszugehen.

Ich habe mich zunächst vor dem Saal herumgetrieben und mich dann draußen umgeschaut, wo sich die Anhänger der Präsidentin versammelt hatten. Die Hauptstadtpolizei sprach von 100 000 Teilnehmern, was vielleicht übertrieben ist. Dennoch waren es mehr als am 1. März 2013. Im Vorfeld hatte die kirchneristische Bewegung ihre Bürgermeister, Gewerkschaften und sonstige Truppen aufgerufen, Präsenz zu zeigen – nach dem Motto: Alle mit Cristina. Politik wird in Argentinien seit ihrer Erfindung – also seit Juan Domingo Perón, dem Archetypus des Volkstribuns und Überpräsidenten – auch auf der Straße gemacht. Die Autorität, die ein Politiker genießt, hängt davon ab, wie er mobilisiert.

Die Zeiten für Cristina sind härter geworden. Im Oktober 2011 hatte sie die Präsidentschaftswahlen noch haushoch gewonnen – mit mehr als 53 Prozent. Mittlerweile aber schwächelt die Wirtschaft, steigt die Inflation, verliert der Peso gegenüber dem Dollar, verteuert sich der Alltag. Die Regierung schreibt den Supermärkten inzwischen die Preise für mehr als 200 Produkte vor: Kekse, Cola, Waschmittel, Zucker, Kugelschreiber, Paprika, Reis, Dosenerbsen, Bier, Milch und Shampoo. »Überwachte Preise« für Waren des täglichen Bedarfs, nennt sie das, und dazu zählen – ein bisschen Spaß muss sein – auch Kondome. Nur gibt es die günstigen Marken dann oft nicht im Regal, sondern nur die teureren Varianten, deren Preise nicht kontrolliert werden. Im Februar war ja selbst McDonald’s das Ketchup ausgegangen – peinlich für den Konzern, noch mehr aber für die Regierung. Deren Devisen- und Importkontrollen hatten offenbar die Einfuhr der Tomatensoße aus Chile verhindert.

Nach einer neuen Umfrage, gestern von der Zeitung Clarín veröffentlicht, sind 67,5 Prozent der Befragten gegen die Regierung von Cristina Kirchner. Im November waren es noch weniger als 50 Prozent.

Natürlich standen nicht nur Freiwillige auf dem Kongressplatz und blickten auf die Leinwände, die die Rede der Präsidentin übertrugen. Gewiss, der Kirchnerismus, der Argentinien seit 2003 regiert, hat nach wie vor genug Anhänger – auch, weil viele von einer Politik profitieren, die das Geld, das längst nicht mehr da ist, mit vollen Händen verteilt. Aber es wird bei der Mobilisierung auch nachgeholfen. Man darf sich das so vorstellen: Der Bürgermeister einer beliebigen Stadt bekommt einen Anruf von einem Funktionär der Regierung. Man erinnert ihn daran, dass die Präsidentin ja erst im vergangenen Jahr Geld gegeben hat, um – sagen wir – den etwas heruntergekommenen Bahnhof zu renovieren. Der ist doch auch wirklich schön geworden, oder? Jetzt erwartet Cristina ein kleines Zeichen des Dankes – vier Busladungen. Und dann werden Leute aufgetrieben. Die Angestellte der Stadtbibliothek hat eigentlich schon was anderes vor, auf jeden Fall keine Lust, am Sonnabendmorgen nach Buenos Aires zu fahren und dann stundenlang in der Sonne zu stehen, während die Präsidentin erzählt, wie viele Millionen die Regierung für so und so viele neue Kilometer Straße ausgegeben hat. (Cristina liebt Zahlen, manchmal. Über die Inflation, die aufs Jahr gesehen bei 20 bis 30 Prozent liegt, fünf Prozent allein im Januar, redet sie natürlich nicht so gern, ja eigentlich gar nicht.) Dass sich die Bibliothekarin nicht so richtig amüsiert, sieht man dann auch. Sie sitzt draußen vor dem Café oder irgendwo im Schatten, sie läuft herum und kauft sich an einem der Grillstände einen Hamburger oder eine chorí. Es gibt viele Leute, die zuhören und klatschen. Es gibt aber noch mehr Bibliothekarinnen.

Ich erinnere mich bis heute ungern an die 1. Maie meiner Grundschulzeit. Wir versammelten uns auf dem zentralen Schotterplatz der Stadt und lauschten den ollen Genossen auf der Tribüne. Und es war immer heiß am Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus. Die armen Füße! Was mussten die im Schotter pulen, weil dem Kopf sonst nichts mehr einfiel gegen die Langeweile. Und so gucke ich heute, ein halbes Jahrhundert später, auch mit anderen Augen auf die junge Leute, die der Kirchnerismus aufmarschieren lässt. Sie kommen – man kann’s den Plakaten entnehmen – von weit her, aus entfernten Provinzen. Sie zählen – man sieht’s der Kleidung an – nicht zu Begüterten in diesem Land. Darunter dürften viele sein, die vom Versprechen geködert werden, ein Wochenende in der Hauptstadt zu erleben.

Die Präsidentin ist übrigens durchaus eine sehr gute Rednerin. Sie hat Witz und formuliert scharf (oft zu scharf). Für Zitate ist sie immer gut.

Die Wirtschaft wächst wieder, und wir vollenden die Periode des wirtschaftlichen Wachstums mit der virtuosesten sozialen Inklusion in unserer 200-jährigen Geschichte.

Wachstum (crecimiento) ist eines der kirchneristischen Schlüsselwörter. Man sieht sich als Bewegung, die das Land nach dem Totalzusammenbruch von 2001/02 wieder aufgebaut hat (was nur teilweise stimmt, weil der Aufschwung schon unter dem Übergangspräsidenten Eduardo Duhalde begann).

Wir müssen mehr zusammenstehen als je zuvor, um weiter voranzukommen.

Der Kirchnerismus versteht sich als Bewegung des Nac&Popnacional (für das ganze Land) und popular (für alle Schichten)

Es kann nicht sein, dass zehn Leute die Straße sperren, aus welchen Gründen auch immer. Und dass nichts passiert.

Hier hat mich Cristina überrascht. Es vergeht seit Wochen kaum ein Tag in Buenos Aires ohne Straßensperrung. Die so genannten piquetes sind eine beliebte Protestform in Argentinien, eine Art Erpressung. Man stellt sich auf die Straße, zündet ein paar Reifen an und fordert. Wer sich ungerecht behandelt fühlt oder schlecht bezahlt oder eine neue Wohnung will oder gerade keinen Strom hat – hält den Verkehr auf und sorgt für Staus und dann für Wut bei den Gestauten. Die Polizei steht meist daneben und guckt zu. Die piqueteros waren und sind allerdings eine Säule der Bewegung. Néstor Kirchner, der Präsident von 2003 bis 2007, hatte sie genauso aufgenommen wie andere soziale Gruppen, um sich als volksnaher Regent zu inszenieren.

Wo bist du, Axel? Ich sehe dich gerade nicht. Mein Kleiner, aber Pflichtbewusster. Er hat wie ein Löwe für YPF gekämpft.

YPF ist die 2012 wiederverstaatlichte Ölgesellschaft, bis dahin eine Tochter des spanischen Konzerns Repsol. Und Axel ist der Vorname des neuen Wirtschaftsministers Kicillof. Argentinien zahlt Repsol eine Entschädigung von fünf Milliarden Dollar, die wohl Kicillof ausgehandelt hat. Ich vermute, das meint Cristina mit dem Löwen-Vergleich. Ich habe ihn durchaus gesehen, den Axel. Er schaute auf dem Weg zur Rede seiner Chef allerdings ein bisschen finster.

Axel Kicillof

Die Zeitung La Nación hat die am häufigsten benutzten Wörter der Rede ermittelt.

  • Argentinien: 54-mal.
  • Millionen: 48
  • Dollar: 31
  • Investition: 26
  • Gas: 24
  • Bank: 23
  • Nation: 22
  • YPF: 20
  • Wachstum: 18

Über die Themen, die den Argentiniern am meisten Sorgen machen, sprach Cristina wiederum nicht. Die vier großen Probleme sind, wie Umfragen belegen: Kriminalität, Inflation, Arbeitslosigkeit und Korruption.

In einem Jahr wird Cristina Kirchner zum letzten Mal die Parlamentssaison eröffnen. Im Oktober 2015 wählt Argentinien ein neues Staatsoberhaupt – und die Präsidentin darf nach zwei Amtszeiten nicht noch einmal antreten.

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

Die Sieben-Minuten-Narkose für die Blumengießer der Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Die SMS kam um 5.22 Uhr. »¿Kicillof Ministro de Economia? ¿A qué hora es el próximo vuelo?«, schrieb der argentinische Freund. »Kicillof Wirtschaftsminister? Wann geht der nächste Flug?«

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Sechs Wochen nach ihrer Kopfoperation und einer von Ärzten verordneten Bettruhe war Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner am Montagabend dem Volk zum ersten Mal wieder leibhaftig erschienen. Über Twitter verschickte sie einen Link zu einem sieben Minuten langen Homevideo, das ihre Tochter Florencia aufgenommen hatte. Das Filmchen zeigt Cristina auf einem weißen Ledersofa, mit Hund (echt) und Pinguin (unecht).

»Florencia, können wir anfangen?«

»Ja.«

»Soll ich in diese Kamera dort gucken oder in deine?«

Ach, schau mal, was die Präsidentin trägt – oder besser: was nicht. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes und Amtsvorgängers Néstor vor drei Jahren hat Cristina Kirchner darauf verzichtet, sich ganz schwarz anzuziehen. Ihre zur Schau gestellte Dauertrauer, das Wegwischen von Tränen, sobald sie von ihm sprach – es war vielen längst auf die Nerven gegangen. Nun eine weiße Bluse, immerhin.

»Man fährt zu einer Routinekontrolle des Herzens, und plötzlich sagen sie dir, du musst dich am Kopf operieren lassen…weißte, was weiß ich…jeder hat Operationen, aber weißte…der Kopf ist etwas wie…die Sache ist…das Köpfchen ist das Köpfchen, wie mein Opa sagte.« Cristina spricht, als säße ihr der Nachbar gegenüber, der in ihrer Abwesenheit die Blumen gegossen hat. Wie so oft wirkt sie vollkommen überdreht.

Es wird noch absurder. Cristina steht auf, macht eine Karategeste, um zu unterbrechen, geht aus dem Bild, bittet darum, durchgelassen zu werden, kehrt zurück, präsentiert der Kamera ihr Gesäß und setzt auf ihren Schoß den Hund, den ihr der Bruder des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez geschenkt hat. Es ist ein Mucuchies, der Nationalhund des Ölreiches im Norden. Cristina hat ihn Simón genannt und damit den Vornamen des großen lateinamerikanischen Freiheitskämpfers Bolívar gewählt. Als er an ihrem Haar kaut, wird er verwarnt und bekommt zu hören, er gefährde das Verhältnis zu Venezuela. Die Szene – ungeschnitten – ist großes Kino.

Allerlei Gerüchte hatte es zuletzt um den Gesundheits- und Geisteszustand der Präsidentin gegeben. Das Entfernen eines Blutgerinnsels im Schädel war wohl tatsächlich kompliziert – dafür spricht zumindest die strenge Ruhe, die die Ärzte der berühmten Patientin danach empfohlen hatten. Angeblich hat Cristina weder Zeitungen gelesen noch Fernsehen geschaut – gewissermaßen eineinhalb Monate lang isoliert gelebt, fernab vom Geschehen im Land und in der Welt. Was hat sie überhaupt mitbekommen? Was wäre im Fall eines besonderen Ereignisses gewesen? Unter welchen Umständen hätte man sie stören dürfen?

Nein, sie ist nicht mit einer großen Volksrede auferstanden, das hätte zu gut zu ihr gepasst. Sie wollte offenkundig alle überraschen, und eine Präsidentin, die eine Stunde und übertragen von allen staatlichen Radio- und Fernsehsendern auf die Leute einredet, obwohl sie wenig zu sagen hat, das ist in Argentinien mittlerweile Standard. Also lädt sie uns zu sich ein, nach Olivos, ins Wohnzimmer der offiziellen Residenz argentinischer Präsidenten.

Sie erzählt von ihrer Angst vor der Operation (»es waren schwierige Momente«), von Genesungswünschen und Geschenken (Rosenkränze, Püppchen, der Ledersofapinguin), die sie aus dem ganzen Land und auch von Anhängern der Opposition erreicht hätten; das Volk sorgt sich um die Landesmutter – da nickt selbst Evita im Himmel anerkennend. »Wir wachsen und überwinden Unterschiede«, sagt Cristina, die Alleinherrscherin, die stets nur eine Meinung akzeptiert: die eigene.

Man kann in dem Filmchen wunderbar entdecken, wie die Staatschefin über ihr Volk denkt und wie wenig sie von ihm hält. Denn das, was wirklich wichtig ist, braucht es nicht zu wissen. Über die Schlappe bei den Parlamentswahlen am 27. Oktober, als zwei von drei Argentiniern für die Opposition stimmten, redet sie nicht. Über Politik redet sie nicht. Und über das, was kommen wird nach ihrer Genesung, redet sie auch nicht. Sechs Wochen haben die Argentinier nichts von ihr gehört und nichts von ihr gesehen außer verschwommenen Fotos, die die Präsidentin im Auto, unterwegs zur Nachkontrolle, zeigen. Nun wird das Volk sieben Minuten lang narkotisiert mit Lappalien. Die Präsidentin als Anästhesistin.

Keine Stunde nach der Veröffentlichung des Videos verkündete dann ihr Sprecher, dass die Regierung umgebildet werde. Es hat den Wirtschaftsminister erwischt und den Landwirtschaftsminister, den Kabinettschef und die Präsidentin der Zentralbank. Cristina hatte die Pläne natürlich mit keinem Wort erwähnt oder gar erklärt.

Es war gerätselt worden, wie sie nach ihrer Rückkehr auf die Wahlniederlage reagieren würde. Mit Demut? Mit Trotz? Würde sie ihre Politik der staatlich gelenkten Wirtschaft lockern – oder sie noch verstärken? Wie es aussieht, hat sich die Präsidentin entschieden – für ein radikalisiertes Weiter-so. Zwei Jahre vor dem Ende ihrer zweiten (und letzten) Amtszeit denkt sie offenbar nicht daran, dem Markt mehr Freiraum zu geben und etwa die Importbeschränkungen zu lockern, unter denen die einheimische Produktion mittlerweile beträchtlich leidet. Cristina habe das Kabinett so umgebildet, als sei die Regierung Sieger der Wahlen gewesen, wunderte sich die Zeitung La Nación. »Sie hat sie aber verloren.« Was wiederum heißen könnte: Die Präsidentin ist auf einem Feldzug, und es gibt kein Zurück. Sie und ihre Mitstreiter fühlen sich als Avantgarde, die sich nicht aufhalten lässt – ganz gleich, ob die Wirtschaft wankt, die Wähler weglaufen oder Argentinien international fast isoliert ist.

Das Wirtschaftsministerium, das wichtigste Ressort im Land, übernimmt ein 42 Jahre alter Mann mit Hang zu Koteletten und Karl Marx. Axel Kicillof, studierter Ökonom und bisher Vizeminister, wird als intelligent und ehrlich beschrieben – eine in der argentinischen Politik selten auftretende Kombination. Er ist aber auch ein Hardliner mit guten Kontakten zur regierungstreuen und linksradikalen Nachwuchsorganisation Cámpora, deren Funktionäre seit Jahren dabei sind, das Land und seine Posten in Behörden und Staatsbetrieben unter sich aufzuteilen. Mit Kicillof ist La Cámpora zum ersten Mal direkt an der Macht.

Der bisherige Wirtschaftsminister Hernán Lorenzino wird EU-Botschafter in Brüssel. Er hatte ohnehin wenig zu sagen und wurde von der Präsidentin kaum ernstgenommen. Überliefert ist, wie er einmal nach einem Gespräch verabschiedet wurde. Man stand gemeinsam vor der Tür, draußen warteten schon Vizeminister Axel Kicillof und Guillermo Moreno, der Binnenhandelssekretär. »Also gut, Hernán«, sagte die Präsidentin. »Mach weiter deine Arbeit, damit ich jetzt mit Axel und Guillermo über die Wirtschaft reden kann.«

Den entlassenen Kabinettschef Juan Abal Medina zieht es vermutlich als Botschafter nach Chile. Großen Einfluss hatte auch er nicht; sein Wirken wurde gern mit dem eines besseren Privatsekretärs der Präsidentin verglichen. Sein Nachfolger ist Jorge Capitanich, bislang Gouverneur von Chaco, einer der rückständigsten Provinzen Argentiniens. Einer aktuellen Studie zufolge sind dort 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen arm. Aber Capitanich ist kein Bürokrat wie sein Vorgänger, sondern ein Macher, und er hat Cristina öffentlich stets verteidigt. Nun soll er mitführen und sie entlasten, weil klar ist, dass sie ihr altes Arbeitspensum vorerst nicht schaffen wird. Zum ersten Mal gibt sie Macht ab. Und der Mann, mit dem sie sie teilt, könnte 2015 als Präsident kandidieren, um die kirchneristische Politik fortzusetzen.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde Guillermo Moreno das Schlachtfest überleben. Doch am Tag danach ging auch der Binnenhandelssekretär, der in Wahrheit viel mehr war. Er war der heimliche Herrscher, gefürchtet von Unternehmern, die bei ihm um Importgenehmigungen betteln mussten, verachtet von weiten Teilen des Volkes für die Fälschung der Inflationshöhe. Die inoffizielle Inflation liegt bei 25 Prozent – die Regierung spricht von weniger als zehn. Moreno hatte unabhängigen Forschungsinstituten verboten, eigene Zahlen zu veröffentlichen.

Seine Verschickung an die Botschaft in Italien wertet La Nación als Eingeständnis der Präsidentin, mit ihrer Wirtschaftspolitik verloren zu haben, warnt aber vor Jubel. »Moreno ist weg, aber niemand kann sicher sein, dass auch die Morenisation der Regierung zu Ende ist.« Der neue Wirtschaftsminister verspricht doch eher Kontinuität. Kollege Moreno hat ihm einst einen Spitznamen verpasst: Kicillof war für ihn el sovietico. Der Sowjet.

Der Freund hat sich übrigens nach seiner SMS von 5.22 Uhr gleich noch einmal gemeldet. Eine Minute schrieb er: »He Argentinier, schläfst du etwa noch? Steh endlich auf, damit du später eine Siesta machen kannst!«

Argentinien wird auch diese Präsidentin überleben.

(Fotos: Presidencia de la Nación)

Der Depp, der den Bürgermeister nicht grüßt, und eine Präsidentin am Abgrund

von CHRISTOPH WESEMANN

Argentinien hat gestern gewählt, und weil ich aus unerfindlichen Gründen offiziell immer noch nicht Argentinier bin, habe ich nur zuschauen dürfen, wie ein Freund im Viertel Villa Devoto am Nachmittag seine Stimme abgab. Da hatte Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri in Palermo bereits erfolglos versucht, einem jungen Wahlhelfer die Hand zu schütteln. Der verweigerte den Handschlag, weil er Anhänger der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner ist, und drehte bald als Hashtag #ElBoludoQueNoSaluda (Der Depp, der nicht grüßt) auf Twitter seine Runden. Man legte ihm allerlei in den Mund.

Sin Chori no hay saludo

»Ohne Chori gibt’s keine Begrüßung«, sagt er auf diesem Bild – eine Anspielung darauf, dass Cristinas Anhänger auf Stimmenfang gern die argentinische Variante der Rostbratwurst verteilen.

Zum zweiten Mal nach 2011 gab es wieder Vorwahlen, die im Prinzip bedeutungslos sind, weil erst im Oktober Entscheidendes geschieht. Dann werden die Hälfte der 257 Abgeordneten im Nationalparlament und ein Drittel der 72 Senatorensitze neu vergeben. Die Abstimmung gestern freilich wird als Stimmungstest für die umstrittene Präsidentin betrachtet, die in den vergangenen Monaten und Jahren vor allem die Mittelschicht gegen sich aufgebracht hat. Kollege Jorge, der auch nicht wählen durfte, obwohl er schon genauso versaut politisch denkt wie ein Argentinier, lästert nebenan, die Vorwahlen »bieten der Königin Gelegenheit, in den nächsten drei Monaten noch ein bisschen Geld unters Volk zu streuen, falls die ›Umfrage‹ nicht so toll ausfallen sollte«.

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So toll ist sie dann tatsächlich nicht ausgefallen. Cristinas Regierungsbündnis Frente para la Victoria (Front für den Sieg) bleibt zwar auf nationaler Ebene die stärkste Kraft, hat aber deutlich verloren. Keine der fünf bevölkerungsreichsten Provinzen – Buenos Aires, Córdoba, Mendoza, Santa Fe  und die Hauptstadt – hat es gewonnen. Selbst Santa Cruz, die Heimatprovinz der Präsidentin, holte sich die Opposition. Cristina erreicht nach jetzigem Stand – noch wird ausgezählt, wir sind ja in Argentinien, das dauert also – nur knapp 26 Prozent. Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2011 hatte sie noch 54 Prozent geholt – umgerechnet 11,8 Millionen Stimmen. Jetzt sind es gerade um die sechs Millionen.

Das Ergebnis ist auch deshalb eine Katastrophe, weil zum ersten Mal 16-Jährige haben wählen dürfen – eine umstrittene Reform, die Cristinas Regierung durchgesetzt hatte, in der nicht ganz falschen Annahme: je jünger, umso kirchneristischer. Tatsächlich ist La Cámpora, der Jugendverband der Kirchners, der im Stil mitunter an die FDJ der Deutschen Demokratischen Republik erinnert, eine der großen Stimmungsmacher und -fänger, vor allem in den armen Nordprovinzen, wo man mit T-Shirts und einer kostenlosen Busreise zur Demo nach Buenos Aires minderjährige Argentinier glücklich machen kann.

In Zeitungen werden nun die ersten Abgesänge angestimmt. Das, was gestern geschah, nennt Clarín heute eine »gewaltige Abstrafung für den Kirchnerimus im ganzen Land«. Abwarten. Jorge hat ja dem unzufriedenen Volk im Namen der Präsidentin schon Wahlgeschenke versprochen.

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Bisschen demografische Geografie oder geografische Demografie gefällig? 37,3 Prozent der wahlberechtigten Argentinier leben in der Provinz Buenos Aires, die von der Fläche (307 000 Quadratkilometer) fast so groß ist wie Deutschland (357 000 km²). Allein 15 der 40 Millionen Einwohner leben hier. Dort siegte Sergio Massa, Bürgermeister der Stadt Tigre und einst Kabinettschef von Cristina Kirchner1. Doch aus dem Verbündeten ist ein Abtrünniger geworden, der der Präsidentin und ihrem Kandidaten eine schlimme Niederlage zufügte.

Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba, Mendoza und die Hauptstadt, die großen fünf der 24 Provinzen, repräsentieren 67 Prozent aller 30 530 323 Wahlberechtigten, die in Wahrheit Wahlgezwungene sind – denn in Argentinien muss man. Wer es nicht tut, riskiert eine Geldstrafe und darf, so erzählte es eine der Stimmauszählerinnen, drei Monate lang keinerlei Anträge bei Behörden stellen. Gewählt wird übrigens in Schulen – 13 500 im ganzen Land hatten gestern von 8 bis 18 Uhr geöffnet.

Aus Angst vor Betrug und Fälschung der Ergebnisse, berichtete Clarín, hätten sich 38 033 parteiunabhängige Bürger als Wahlbeobachter gemeldet – sieben Mal so viele wie vor zwei Jahren. Auch das zeigt, wie aufgeladen die politische Stimmung im Lande augenblicklich ist. Denn bei der Wahl im Oktober könnte sich einiges entscheiden: Wenn Cristina 2015 ein drittes Mal als Präsidentin kandidieren will, muss sie vorher die Verfassung ändern, die nur zwei Amtszeiten am Stück erlaubt. Cristina könnte auch das Regierungssystem umbauen – weg von der präsidentiellen hin zur parlamentarischen Demokratie. Sie wäre dann eine Art Bundeskanzlerin. Aber auch dafür müsste ihr Bündnis nach dem Oktober eine Zweidrittelmehrheit im Parlament haben.

Ob sie überhaupt noch einmal antreten will, weiß man nicht, vielleicht weiß sie es selbst nicht. Man darf aber zumindest annehmen, dass der Kirchnerismus, jene linkspopulistische Bewegung, die Argentinien seit 2003 regiert, weiter an der Macht bleiben will. Es gibt jedenfalls genug Kirchneristen, die ungern andere von den Fleischtöpfen fressen lassen würden. Man hat sich schließlich in den vergangenen zehn Jahren an diese Kost gewöhnt.

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(Ach ja, Alkohol durfte übrigens am Vorabend und am Tag der Wahl wieder nicht verkauft werden. Das Gesetz soll unter anderem verhindern, dass sich die Leute die Köpfe einschlagen.)

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  1. Ich hatte Massa irrtümlich zum Kabinettschef von Néstor Kirchner gemacht []

Fußball, Gewalt und Sauerkraut

von CHRISTOPH WESEMANN

Meine Kinder mögen mir bitte verzeihen. Aber natürlich ist heute mein größter Tag gewesen. Gewiss, drei Geburten mitzuerleben war auch super. Aber was hatte ich damit zu tun? Um Missverständnissen und Vaterschaftstests vorzubeugen: Ich meine, mit dem Gebären an sich? Eben. Die Hebamme, 60 Jahre alt, 5000 Babys, hatte damals im Vorgespräch die Erwartungen an mich im Kreißsaal so formuliert: »Halt einfach die Klappe und lass uns machen.«

Das klingt leichter, als es ist – wenn man quasi zu allem eine Meinung hat.

Bild 1

Und heute bin ich in Olé. Olé ist das größte Sportblatt Argentiniens, also in einem nach Fußball überverrückten Land die wichtigste Tageszeitung. Was? Clarín? Pffff, schreibt Namen bedeutender Persönlichkeiten falsch.

Ich bin natürlich nicht so der Bühnenprofi. Einem Bühnenprofi passiert nämlich nicht, was mir zwei Stunden vor dem Auftritt am Dienstagabend passiert ist: Da kaufte ich mir eine Cola am Kiosk und ließ sie mir, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte, an der nächsten Ecke abnehmen. Ein Mann war mir entgegen gekommen. Ich kann mich an die Worte nicht mehr erinnern, aber er fragte ungefähr: »Krieg ich deine Cola?« Es klang nicht fordernd, eher leise und unsicher, und wir hielten auch gar nicht an, sondern ich übergab meine Flasche im Vorbeigehen. »Gracias«, sagte er noch. Ich war sprachlos. Auch über mich selbst.

Und dann meine Rede. La violencia en el fútbol alemán. Die Gewalt im deutschen Fußball. Hooligans und Affenlaute gegen schwarze Spieler, Daniel Nivel und neue Stadien. Mehr Polizei und die Frage: Kann der argentinische Fußball mit seinem viel größeren Gewaltproblem etwas von Deutschland lernen? Antwort: eher nicht. In Argentinien sind Politik und Polizei Teil des Problems.

Ich fand mich nicht gut, und das kommt ja selten vor. Da mich aber von den Zuhörern nur Lob erreicht hat und ich leichtgläubig bin, halten wir fest: Eine große Rede war das.

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Mein Umfeld und ich rätseln jetzt noch, wie die Überschrift von Olé – »Y éste le puso chucrut« – zu verstehen ist. Ich habe fünf Argentinier gefragt und keine klare Übersetzung bekommen. Klar, chucrut ist Sauerkraut, und Sauerkraut ist für Argentinier typisch deutsch. Noch deutscher als Sauerkraut sind übrigens nur die Toten Hosen, wie eine andere argentinische Zeitung mal schrieb.

Die Überschrift könnte bedeuten: Er brachte das Sauerkraut, also die deutsche Perspektive, mit in die Konferenz.

Oder ich selbst bin das Sauerkraut.

Was Opa mal erzählen wird

von CHRISTOPH WESEMANN

Liebe Porteños,

ich werde heute Abend in Eurer Stadt, die längst auch meine geworden ist, einen Vortrag halten. Die argentinische Abgeordnete Cornelia Schmidt-Liermann will, dass ich erzähle, wie in Deutschland mit Gewalt im Fußball umgegangen wurde und umgegangen wird. Und was glaubt Ihr, habe ich auf die Frage, ob ich auf Deutsch oder auf Spanisch sprechen wolle, wohl geantwortet?

Genau.

Wisst Ihr, ich werde meinen Enkel noch davon erzählen, dass ich in Eurem Congreso de la Nación einen Auftritt hatte. Bueno, es ist der Fraktionssaal, in dem ich spreche, vielleicht auch nur ein angrenzendes Hotel, aber Ihr, Ihr wisst doch genau, wie das mit dem Übertreiben ist, oder?

Man erzählt’s nachher so oft, bis man direkt die Präsidentin unterrichtet hat – und es auch noch glaubt.

Übrigens: Als ich neulich in Córdoba war, ist mir aufgefallen, dass es Argentinier gibt, die man auf Anhieb versteht, weil sie nicht so ein Hauptstadthektiknuschelkuddelmuddelspanisch reden wie Ihr. Wenn Ihr also nachher etwas von mir wissen wollt, sprecht bitte deutlich und langsam. Benutzt nach Möglichkeit Wörter, die ich kenne, ich weiß, so viele sind das nicht. Lenkt mich bitte auch nicht mit übertriebenen Gesten vom Verstehen ab. Männer, knöpft Euer Hemd zu, damit ich nicht neidisch Brustfell gucken muss. Frauen, schmeißt Eure Mähne nicht so wild, ich bin verheiratet.

Ach, am besten fragt Ihr gar nichts, liebe Porteños.

Ich muss sowieso schnell weg. Die Kinder sind bei Freunden und Freundinnen, weil ich wieder ein paar Tage alleinerziehend bin. Auf mich wird gewartet!

Ach ja, lacht bitte über meine zwei Scherze, die ich eingebaut habe. Die sind wirklich gut. Ich habe jeweils dreißig Sekunden wildestes Gelächter eingeplant und werde mir auch noch zwei, drei Beruhigungsfloskeln auf die Handinnenseite schreiben. Lasst mich nicht hängen; ich habe zwar jemandem im Saal, der die Witze anlacht, aber nur er und ich, das wäre doch ein bisschen dürftig. Der erste Scherz kommt gleich am Anfang und geht auf Deutsch so: »Oh, Verzeihung. Entschuldigt bitte meinen starken Akzent. Es ist der Traum meines Lebens, zu sprechen wie ein Argentinier. Oder noch besser: wie ein Porteño.«

Brüller. Sag ich doch. Wie die größte Tageszeitung des Landes meinen Namen schreibt, ist aber auch einer: Herrjeh, da schaffst du’s einmal in Clarín, und dann heißt du Cristhoph Wesermann.

Gänsehaut unterm Brustfell

von CHRISTOPH WESEMANN

Ist das nun ein gutes Zeichen? Der Protest gegen die Politik der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird professioneller und organisierter – ein bisschen jedenfalls. Gewiss, es gibt noch immer keine Tribüne, auf der sich ein Gewerkschafter heiser schreien oder ein Kirchenmann predigen könnte. Wieder wehen keine Parteifahnen. Die Suche nach einem charismatischen Gegenspieler zur Amtsinhaberin ist bislang erfolglos geblieben, so wie die Opposition insgesamt nicht genug glänzt, als dass der Volkszorn sie unbedingt dabeihaben müsste. Und die Plakate, die sind nach wie vor handgemalt. Manche Tafel wird noch bekritzelt, als am Donnerstagabend der 8N-Protest längst begonnen hat. Vieles ist noch immer wie am 13. September, als das Land den größten Wutausbruch seit vier Jahren erlebte.

Aber die fliegenden Händler sind da. Sie verkaufen die argentinische Fahne, andere blauweißblaue Winkelemente und Getränke. Und irgendwo auf der Avenida 9 de Julio, der angeblich breitesten Straße der Welt, steht auch ein Grill. Es gibt Choripán, also grobe Wurst im Brot.

Eine halbe Million soll es sein, die sich um den Obelisken zum kollektiven Topfschlagen versammelt hat. Nach Angaben der Stadt, die freilich von Mauricio Macri regiert wird, einem Gegner der Präsidentin, sind 700 000 Porteños auf der Straße, um mit Kochtöpfen und Pfannen gegen Korruption, Inflation, Kriminalität und eine dritte Amtszeit Kirchners Lärm zu machen. Auch vor der Haustür der Präsidentin ist es nicht ruhig. Im noblen Stadtviertel Olivos, wo Cristina Kirchner wohnt, haben sich 30 000 Menschen versammelt. Und in den Provinzen? Auch dort ist was los, mal mehr, mal weniger. Córdoba, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, meldet 40 000 Teilnehmer, Río Grande, die größte Stadt von Feuerland, »bis 100«.

Der Hauptstadtbürgermeister Macri behauptet, es seien landesweit zwei Millionen gewesen. Diese Zahl mag übertrieben sein. Wer weiß das schon? Aber die Wut auf Cristina und ihre Leute ist längst Massenware. Die Zeitung La Nación spricht heute von einem »historischen Protest«. Clarín, die meistgelesene Zeitung des Landes, titelt: »Gigantischer Protest gegen die Regierung«. Auf 17 Seiten widmet sich das Blatt dem Thema des Tages. Und ein bisschen Poesie gibt’s auch. Clarín schwärmt von der »Nacht der kurzen Hosen«.

Oh ja, es ist warm, fast heiß am späten Donnerstag. Und viel Haut liegt bloß. Mancher aber hat es wohl nach Feierabend nicht mehr nach Hause geschafft, um sich umzuziehen. Ärzte und Krankenschwestern sind noch in Dienstkleidung unterwegs.

Apropos viel Haut: Vor der Fußball-WM 2010 verkündete der pummelige Nationaltrainer Diego Maradona, er werde nackt den Obelisken umrunden, wenn er mit seiner Mannschaft den Titel hole. Die Welt sollte noch heute dankbar sein, dass es anders gekommen ist und ihr dieser Anblick erspart blieb. Aber der 1936 errichtete Obelisk, der die wichtigsten Daten der Stadt auf seinen Seiten trägt, ist ein mythischer Ort. Die Triumphe der Nationalmannschaft wurden hier gefeiert. Und Evita Perón ließ sich von Millionen bejubeln, als sie 1951 Vizepräsidentin werden sollte und vielleicht auch wollte, aber nicht durfte. Die Massen feierten die Nationalheilige am 67 Meter hohen Wahrzeichen – und Juan Perón, der Präsident, war nur ein Statist und schaute deshalb finster. Er hatte doch Evita erschaffen! Er hatte doch diese unbedeutende Schauspielerin aus Los Toldos geheiratet und zur Primera Dama gemacht.

Ich habe in den vergangenen Wochen zwei Romane des großen argentinischen Erzählers Tomás Eloy Martínez gelesen, erst seinen Welterfolg »Santa Evita«, dann »Der General findet keine Ruhe«. Martínez berichtet wieder und wieder von großen Aufmärschen. Seitdem frage ich mich, ob Argentinier leichter zu mobilisieren sind als etwa Europäer, Deutsche sowieso. Natürlich steht hier auch mehr auf dem Spiel, ist der eigene Wohlstand gefährdeter, sind die Kontinuitäten schwächer. Argentinien hat in 53 Jahren – zwischen 1930 und 1983 – sechs Staatsstreiche erlebt, auch das prägt und macht aufmerksamer, wenn sich jemand mal wieder am Land vergreift und es wie einen Familienbetrieb zu führen versucht.

Damit die Präsidentin es auch versteht, erklingt am Donnerstag wieder und wieder die argentinische Version vom 89er »Wir sind das Volk!« – natürlich nicht gerufen, sondern gesungen: »Oleeleeee, olala! Si este no es el pueblo/El pueblo dónde está?« – »Wenn das hier nicht das Volk ist, wo ist das Volk denn dann?«

 

Und dann die Nationalhymne, vorgetragen vom Großen Gemischten Chor Buenos Aires: Männer haben Tränen in den Augen und bekommen eine Gänsehaut. Die besten Männer der Welt! Argentinische Männer! Männer mit so viel Brustfell, dass es sich vom Hemd nicht einsperren lässt und immer auf einen offenen Knopf besteht.

Wie ist das nun mit dem professioneller gewordenen Protest? Gemach. Noch um halb neun – 30 Minuten nach Beginn des Protestes – haben sich Autos über die Avenida Corrientes in Richtung Obelisk gequält. Sie fuhren mitten durch den Aufmarsch, obwohl der schon seit Wochen angekündigt war. Erst dann sperrten zwei Polizisten die Zufahrt. Rund um den Obelisken war indes gar keine Polizei zu sehen. Es blieb, wie der Argentinier sagt, »bien tranquilo«, angenehm ruhig. Besondere Vorkommnisse: keine.

(Ich habe gerade ein paar Probleme mit dem Computer und bastele deshalb nach und nach Bilder und ein Gesangsstück rein. Dauert ein bisschen.)

 

Topfschlagen der Tausenden

von CHRISTOPH WESEMANN

(Ich komme gerade vom Topfschlagen, also vom Cacerolazo-Protest gegen die Regierung und die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner auf der Plaza de Mayo. Das wird jetzt ein Schnellschuss. Ich wollte es multimedial aufhübschen, aber es ist spät geworden, und die Technik macht mir Probleme und ich mache der Technik Probleme.)

Cacerolazo

Es sind nicht die Armen, die Abgehängten, die sich am Donnerstagabend auf der Plaza de Mayo zu Tausenden versammelt haben. Wer in Argentinien wenig hat, besitzt doch immerhin etwas: die Gunst der Präsidentin. Cristina Fernández de Kirchner sorgt für sie. Erst gestern hat sie versprochen, dass die staatliche Unterstützung pro Kind um mehr als 25,9 Prozent erhöht wird – von derzeit 270 Peso im Monat auf 340. Verkündet hat sie’s natürlich per Ansprache ans Volk – es war Nummer zwei in diesem Monat und Nummer 18 in diesem Jahr. In den vergangenen drei Jahren hat sie mehr als 50 Reden gehalten, die die staatlichen Radio- und Fernsehsender live übertragen mussten. Ihr Mann Nestor hatte das in vier Jahren übrigens nur zweimal getan. Cristina Kirchner meldet sich spontan zu Wort und lässt das laufende Programm unangekündigt unterbrechen. Darf sie das? Der argentinische Regierungschef, ob männlich oder weiblich, hat dieses Recht. Er soll es aber  behutsam nutzen – für Krisen, Katastrophen und Ereignisse, die das Volk verunsichern oder erschüttern.

Es sind auch nicht die Reichen gekommen. Dass die Reichen am meisten zu verlieren hätten, ist ein weitverbreiteter Irrtum. Reiche gewinnen, deshalb sind sie reich. Gekommen sind die, die etwas besitzen, aber nicht so viel, dass es zu schwer wäre, es ihnen zu nehmen. Es sind die Gutfrisierten und die Gutgekleideten da, viele elegante Männer, noch im Büroanzug mit Krawatte, die Gebildeten, viele Studenten und Schüler, manch vornehme Dame, auch Kinder. Mittelschicht? Man sollte mit dem Begriff vorsichtig sein, weil er zu Vergleichen mit Deutschland verführt, die zwangsläufig hinken, auch, weil Wohlstand hier etwas anderes ist. Aber mir fällt auch gerade kein besserer Begriff ein.

Was eint diese Menschen? Es ist ein Allerlei, eine Art Mischung aus Angst vor dem eigenen Abstieg und der Sorge um das Land. Glaube ich. Ich bin erst zwei Monate hier und taste mich langsam heran an das politische Geschehen. Vieles ist noch angelesen statt schon erlebt. Deshalb halte ich mich auch zurück, in diesem Protest vor dem Präsidentenpalast den Beginn von etwas Größerem zu erkennen. Ja, es waren so viele Leute da, dass die Plaza de Mayo nicht genug Platz für alle bot und die Menge noch die anliegenden Straßen blockierte. Ja, es hat sich etwas entladen. Aber wie viel davon war über Facebook angeleiertes Ich-muss-dabei-sein-Happening? Wie viel Eventprotest? Ich weiß es nicht. Aber dieser große Platz ist ein kleiner Fleck in dieser Stadt und damit auch nur ein winziger Ausschnitt der politischen Wirklichkeit in einem Land, das fast achtmal so groß ist wie Deutschland. Und ihre Anhänger, ja Verehrer hat diese Präsidentin nach wie vor.

Es geht natürlich um die Inflation, die irgendwo zwischen 20 und 30 Prozent galoppiert und die Löhne auffrisst, es geht um steigende Steuern, aus denen die Präsidentin ihre Wohltaten für die ärmeren Schichten bezahlt, es geht immer auch um Kriminalität. In jedem Wahlkampf der jüngeren Zeit ist innere Sicherheit ein wichtiges Thema gewesen. Die Leute verbarrikadieren sich zu Hause und leben in einer Art Gefängnis. Terrassen und Fenster sind vergittert, die Türen alarmgesichert, Eingänge von Kameras überwacht. Wer es sich leisten kann, zieht gleich in eine »gated community«. Unabhängig davon, wie sicher und unsicher das Leben hier ist – Angst lässt sich nicht einzäunen, nicht wegsperren. Vielleicht wächst das Gefühl der Unsicherheit eher, wenn man in einem Hochsicherheitstrakt lebt.

Der stärkste Kleber, der den Protest der Mittelschicht zusammenhält, scheinen mir aber die Präsidentin selbst und ihre Regierung zu sein. Es ist das Gefühl, dass Politiker regieren, als wäre der Staat ein Familienbetrieb und ihr Privateigentum. Mitglieder der Nachwuchsorganisation »La Cámpora«, angeführt vom Präsidentensohn Máximo, sollen, so hört man, reihenweise in Ministerien einziehen und Schaltstellen besetzen. Jung sind sie, gut ausgebildet und machthungrig.

Man darf nicht vergessen, dass die Kirchners das Land schon fast zehn Jahre regieren: erst Nestor (2003 bis 2007), dann Cristina. Ihre zweite und letzte Amtszeit endet im Herbst 2015. Doch schon jetzt wird diskutiert, ob an der Verfassung geschraubt werden soll, die keine dritte Amtszeit zulässt. Würde die Verfassung geändert, was nicht auszuschließen ist, könnte Kirchner bis 2019 regieren. Argentinien stünde dann 16 Jahre am Stück unter Herrschaft einer Familie. Auch gegen diese Aussicht richtete sich der Protest am Donnerstag. »Cristina, geben Sie das Land zurück«, stand auf einem Plakat. Auf einem anderen: »Finger weg von der Verfassung.«

Der Eindruck ist, dass es die Präsidentin übertreibt – und nicht mehr merkt. Die Kritik an ihren vielen Ansprachen hat sie in einer Ansprache (Nr. 18) am Mittwoch mit Witzchen zu kontern versucht. Auch das ist kein gutes Zeichen. Mit »Clarín« und »La Nación«,  zwei der wichtigsten Zeitungen im Land, befindet sie sich im Krieg. Warum? »Clarín miente.« – »Clarín lügt.«. Eine ältere Dame hatte ein Schild dabei, auf dem stand: »Clarín lügt vielleicht – Cristina ganz sicher.« Es schaukelt sich allmählich hoch. Diese unsäglichen Hitler-Bart-Karrikaturen gibt es inzwischen auch von der argentinischen Präsidentin. Und selbst mit Hugo Chavez, der Venezuela mehr und mehr autoritär regiert, wird sie schon verglichen – auch auf der Plaza de Mayo: »Wir wollen kein Argenzuela, wir wollen Argentinien.«

Ich habe gestaunt, womit man Cacerolazo-Krach machen kann. Es muss gar kein Kochtopf sein. Es reichen Münzen in Plastikflaschen. Es reicht ein Verkehrsschild. Oder der Sperrzaun vor dem Präsidentenpalast. Es wurde viel gesungen und getanzt, gehüpft und geklatscht und gelacht. Es war nie aggressiv. Viele hatten ein Trikot der Nationalmannschaft angezogen, viele auch eine argentinische Fahne mitgebracht. Immer wieder erklang der Ruf: »Argentina! Argentina!«

Im Präsidentenpalast brannte übrigens noch Licht.

Nachtrag: »Clarin« spricht von Tausenden, die im ganzen Land gegen die Regierung protestiert hätten, und zeigt ein paar schöne Cacerolazo-Bilder aus der Luft. Ich hatte ja auch meinen Hubschrauber dabei – aber die Technik.

Mit Gene Hackman in Escobar

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Abschleppwagenfahrer Claudio ist Ende dreißig und noch nie im Urlaub gewesen. Im Sommer 2013, wenn er nach 17 Jahren endlich sein Haus fertiggebaut hat, soll es so weit sein. Vielleicht Mar del Plata. Die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mag er nicht. Von seinem Lohn, erzählt er, bleibe zu wenig übrig, weil die Steuern stiegen und stiegen. Ganze Familien lebten in Argentinien seit Generationen von Staatshilfe – also auch auf Kosten des Abschleppwagenfahrers. Wie einst Evita Perón verteilt Kirchner das Geld an die Armen und Bedürftigen. Die Präsidentengattin Evita hat so seinerzeit den Staatshaushalt ruiniert. Und die Präsidentengattin Cristina, die Präsidentin geworden ist? »Alle Leute, die arbeiten, hassen sie«, sagt Claudio. Er hat eine 17 Jahre alte Tochter.

Man lernt diesen Abschleppwagenfahrer übrigens kennen, indem man nach Escobar fährt, weil die Kinder den »Bioparque Temaiken« besuchen wollen.  Escobar ist ein Städtchen in der Provinz Buenos Aires, 60 Kilometer weit weg von der Haustür, also eineinhalb Stunden entfernt. (Wenn Sie auf Staus stehen, fahren Sie bitte spätestens um zwölf Uhr los. Zu früh natürlich auch nicht.) Wenn Sie glauben, noch ein bisschen Zeit zu haben, weil zwei der drei Kinder mit dem Bus ihrer Russisch-Sprachschule unterwegs sind und sicher länger brauchen, halten Sie doch bei diesem amerikanischen Schnellrestaurant am Ortseingang von Escobar.

Ja, es ist ein bisschen kompliziert, einen Parkplatz zu finden, aber nehmen Sie einfach den mit dem Verbotszeichen auf dem Asphalt, der ist ja frei. Jetzt schnell rein, Stau macht hungrig, puuuh, ist das voll und laut und eng. Und als man endlich bestellen will, kommt der Sicherheitsmann. Schwarze Uniform. Man hat ihn schon beobachtet, wie er ums Auto herumgeschlichen ist, um zu gucken, ob jemand drin sitzt. Jetzt sucht er drinnen, und natürlich findet er den Fahrer.

Sein Blick sagt: Netter Versuch, Fremder. Er sieht aus wie der gr0ßartige Schauspieler Gene Hackman. »Nächste Straße rechts rein«, sagt er. »Dort gibt’s genug Parkplätze.«

Doch das Auto will nicht weg. Die Lenkung ist blockiert. Gene Hackman ist gleich zur Stelle, hält sich aber mit Ratschlägen zurück. Ah, auf der anderen Straßenseite poliert ein junger Escobarer seinen Renault. Tachchen. VW-Autohaus, VW-Vertragswerkstatt, irgendeine Mechanikerbude mit einem Kerl im Blaumann – noch was geöffnet im hübschen Escobar am Sonnabendnachmittag? Glaubnicht-Kopfschütteln. Anruf bei Papa. Weiter den Renault polieren. Schulterzucken. Ein Papa ohne Idee. Die Schwester telefoniert. Gelbe Seiten? Gibt’s doch nur für Buenos Aires!

Aber unser junger Freund kommt mit zum Parkplatz, will mal gucken und wartet geduldig, bis man – nee, das ist der Tank – den Motorhaubenvoröffnerhebel im Wageninneren gefunden hat. Er zupft an ein paar Kabeln und murmelt was mit »agua hidráulica« – man versteht also schon mal mehr als bei deutschen Mechatronikern. Man selbst könnte jetzt schon wieder was essen. Außerdem ist es wirklich eine Affenhitze auf diesem Parkplatz. Tja, aber wenn man sich als Mann jetzt absetzt und die Frau samt Baby am Auto zurücklässt – nein, das wäre nicht so gut. Argentinien, das ist – auch mit einer Präsidentin – noch immer ein Land des machismo.

Gene Hackman flirtet mit dem Baby und schleppt dann seinen Kollegen ran. Ein Paar gesellt sich auch dazu. Die junge Frau hat eine Freundin in Frankfurt und präsentiert ihre Deutschkenntnisse: »Wie geht es dir? Ich heiße Isabella. Wie heißt du? Ich habe Langeweile. Herzlich willkommen!« Ein Abschleppwagen muss her, der das Auto zurück nach Buenos Aires bringt. Isabellas Freund telefoniert mit seiner Schwester. Sie findet – die Welt ist eine Google – im Internet eine Firma und gibt die Telefonnummer durch. Der Bruder verhandelt minutenlang und drückt am Ende den Preis.

Gene Hackman hat Feierabend, ist umgezogen und geht trotzdem nicht nach Hause. Er holt vom Kiosk gegenüber noch ein paar Telefonnummern von Abschleppdiensten. Zu spät. Aber das Baby liebt ihn längst.

»Der Abschleppwagen kommt in 20 Minuten«, sagt Isabellas Freund. Das Paar aus Escobar verabschiedet sich. Gene Hackman bleibt, bis der Wagen aufgeladen ist, steckt für alle Fälle Claudios Visitenkarte ein und bringt den Deutschen – sicher ist sicher – noch zum Taxistand. Ach, man muss ja jetzt zum »Bioparque Temaiken«, wo zwei Kinder mit 30 argentinisierten Russen wilde Tiere gucken.

Dreimal ruft er »17!«, was so viel bedeutet wie: Das ist der Fahrpreis. Lass dich nicht abzocken.

Zum Abschied nach zweieinhalb Stunden ein Kuss auf die Wange.

Danke.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)