Archiv für 2014

Von einem Deutschen, der 1948 nach Argentinien auswanderte – die Weihnachtsgeschichte

von CHRISTOPH WESEMANN

Thomas Leonhardt ist froh, dass es noch geklappt hat mit dem Weihnachtsbaum. Verkaufsstände an der Straße gibt es am anderen Ende der Welt sowieso nicht, aber in diesem Jahr war es schwierig wie nie: keine Bäume in und um Buenos Aires. Standard ist in Argentinien die Plastik-Tanne, und selbst die nadelt dann, aber es gibt Schlimmeres: Deutsche wünschen sich eine weiße Weihnacht – Argentinier, dass nicht wieder stundenlang der Strom ausfällt, wenn alle auf einmal ihre Klimaanlage einschalten, um die Sommerhitze zu ertragen.

Ein Freund hat ihm schließlich eine Tanne besorgt – ausgegraben, nicht abgesägt, Entfernung zum Wohnzimmer in San Isidro, einem Vorort von Buenos Aires: fast 100 Kilometer. Ein hübscher Baum mit vielen Kugeln und einer Spitze.

Thomas Leonardt am Weihnachtsbaum

Wäre nur nicht diese neue Lichterkette.

Thomas Leonhardts Frau, eine Argentinierin, hat sie aus London mitgebracht, wo die Tochter lebt. Der Besucher wird vorab gewarnt. Stecker rein. Blau, rot, grün, gelb, die Birnchen wechseln sekündlich die Farbe. »Ist eher etwas für einen Schulhort, oder?«, fragt Leonhardt. Strecker raus. Das Fest wird trotzdem schön werden, und er hat ja in den vergangenen 65 Jahren gelernt, Abstriche zu machen. »Seit meinem fünften Lebensjahr feiere ich Weihnachten bei 35 Grad mit Heringssalat.«

1948 steigt Thomas Leonhardt, vier Jahre alt, mit seinen Eltern und dem älteren Bruder aufs Schiff. Der Vater, ein Marineoffizier, Soldat schon im Ersten Weltkrieg, ist aus der englischen Gefangenschaft entlassen. Nach Liegnitz aber führt kein Weg zurück, denn die niederschlesische Großstadt gehört nun zu Polen. Auch ihre Textilfirmen hat die Familie verloren. Wohin also? Es gibt einen Onkel, der seit den zwanziger Jahren in Buenos Aires lebt. Einen Unternehmer.

»Dem Onkel ging es gut«, sagt Thomas Leonhardt.

Argentinien war nach den Vereinigten Staaten von Amerika das Einwanderungsland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch wegen der 5,5 Millionen Menschen, die zwischen 1857 und 1924 kamen, wurde die einstige spanische Kolonie zum großen Getreidespeicher und einem der wohlhabendsten Länder der Welt. »Reich wie ein Argentinier«, dieses längst überholte Sprichwort, mehr noch ein Versprechen, lockte vor allem Italiener, aber auch Spanier, Niederländer und Deutsche, viele von ihnen aus dem Norden. Noch 1914 waren sechs von zehn Argentinier entweder im Ausland geboren oder Kinder von Immigranten der ersten Generation. Heute kommen die Glückssucher indes aus der Nachbarschaft, aus Bolivien, Paraguay und Peru. Für Europäer ist Argentinien, das seit 70 Jahren Krisen bewältigt, um bald darauf neue zu erschaffen, kaum noch attraktiv.

»Ich kann mich nicht erinnern, nicht Spanisch gesprochen zu haben«, sagt Thomas Leonhardt, geboren 1944. »Ich habe auch keine Erinnerungen an die schlechten deutschen Jahre. Wir haben gehungert, aber ich weiß es nicht mehr.« In seinem Gedächtnis beginnt die Kindheit erst auf den Straßen von Buenos Aires, wo er immer mit einem Jungen spielt, der noch heute sein bester Freund ist. Der Vater, mit 51 Jahren zum Argentinier geworden, macht aus einer Wachstuch- eine Kunststofffabrik. Der Sohn liest Karl May, um die Sprache der alten Heimat nicht zu vergessen, studiert Jura, fängt 1972 in einer deutschen Kanzlei an und gründet vier Jahre später eine eigene. Bis heute arbeitet er als Anwalt und berät vor allem argentinische Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen. Seine drei Söhne leben in Buenos Aires und Wien, die Tochter hat einen Engländer geheiratet und ist ihm gefolgt. Der Bruder lebt noch in Karlsruhe, plant aber schon die Rückkehr nach Argentinien.

Thomas Leonhardt im Arbeitszimmer

Seit zwölf Jahren ist Leonhardt, mit Pausen, Präsident des Deutschen Klubs von Buenos Aires, einem Treffpunkt für Unternehmer. Er hat das Bundesverdienstkreuz am Bande und das 1. Klasse verliehen bekommen. Die Urkunden, unterschrieben von den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Joachim Gauck, hängen in seinem Arbeitszimmer. Im Regal stehen Hölderlin, Marcel Reich-Ranickis »Mein Leben«, Herders Großer Bildatlas. Von der Wand schaut der Alte Fritz, es ist kein wertvolles Bild, aber Leonhardt hängt daran. Sein Vater brachte es aus der Gefangenschaft mit, es sollte wohl verbrannt werden.

»Ich bin in einer typisch deutschen Familie aufgewachsen und trotzdem sehr argentinisiert«, sagt Leonhardt. »Ich kann mich ohne Probleme jeder Disziplin unterwerfen, aber die Gesetzeshörigkeit der Deutschen habe ich nicht aufgenommen.« Die argentinische Gesellschaft schätzt »die Täuschung als Kunst«, wie der Fußballphilosoph Jorge Valdano, 1986 Weltmeister mit Diego Maradona, einmal sagte: »Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist.« Las leyes son para los tontos, heißt ein hiesiges Sprichwort, die Gesetze sind für die Idioten. Vergehen werden kaum bestraft, und falls doch, kauft man sich frei oder kennt einen, der einen kennt, und der kennt dann auch noch einen, der helfen könnte. Oder müsste. »Der Argentinier akzeptiert Spielregeln nur, wenn sie ihm passen«, sagt Leonhardt und lacht. »Ich habe versucht, meinen Kindern das nicht beizubringen.«

Deutschland kennen die meisten Argentinier nur aus den Nachrichten, vom Hörensagen oder ihrem Volkswagen, den sie allerdings »Wollwágen« nennen. Ordentlich, zuverlässig, ein bisschen langweilig, aber ehrlich, überpünktlich und überwiegend blond, so stellt man sich los alemanes vor. Einerseits wäre man gern wie sie, auch, damit es mal vorangeht. Andererseits wird schon Pünktlichkeit als unhöflich empfunden und deshalb vermieden. »Wenn du erzählst, dass du von einem Deutschen betrogen wurdest, schauen dich alle erstaunt an. Das ist etwas Besonderes«, sagt Leonhardt. »Passiert dir das mit einem Argentinier, hörst du nur: Tja, hättest du besser aufpassen müssen.«

Der argentinische Alltag ist »un quilombo«, ein Chaos, irgendeine Berufsgruppe streikt immer; wenn die Bankangestellten arbeiten, streiken die Busfahrer, wenn die Polizisten arbeiten, streiken die Ärzte, die Lehrer oder die Müllmänner, wobei der Müll auch sonst herumliegt. Generalstreiks gibt’s obendrauf. Es wird pausenlos geflucht, vor allem beim Autofahren. Jeder in diesem Land leidet ja, sobald er hinterm Steuer sitzt, unter akutem Bluthochdruck. Es sind aber auch unheimlich viele boludos, hijos de puta und pelotudos, Schwachköpfe, Hurensöhne und Vollidioten, unterwegs.

Andererseits: Kinderlärm ist ausdrücklich erwünscht, und zwar überall. Lateinamerikaner empfinden ja nicht nur Europa als kühl, sondern auch die, die den Kontinent bevölkern. Deshalb sind sie, die Argentinier, Brasilianer und Kolumbianer, obwohl katholisch, mit Papst Benedikt XVI., dem Intellektuellen, nie warm geworden. Der Priester ist hier zuallererst Seelsorger, und die Kirche ein Zufluchtsort, wo es warmes Essen gibt, Nachhilfe und Bücher. Gerade in den Armenvierteln fällt die Schule ja regelmäßig aus, es muss nur stark genug regnen. Dann nämlich wollen oder können die Lehrer nicht kommen. Franziskus, der Argentinier in Rom, umarmt und lacht, er guckt nicht nur Fußball, sondern hat auch eine Lieblingsmannschaft (die seit seinem Amtsantritt wie durch ein Wunder wieder erfolgreich ist).

 

Thomas Leonhardt wird am Heiligen Abend mit seiner Familie den Gottesdienst besuchen. Die Straße vor der Kirche ist gesperrt, jeder trägt einen Stuhl bei sich, und 2000 Argentinier singen »Noche de paz, noche de amor«, die spanische Variante von »Stille Nacht, heilige Nacht«. Danach kommt die Familie zusammen, die Schwestern seiner Frau bringen ihre Familien mit, Freunde schauen vorbei. »Und ein paar einsame Deutsche, die in der Stadt sind, sammeln wir auch immer noch ein, damit sie nicht alleine feiern müssen.« Leonhardt rechnet mit 20 bis 30 Gästen. Jeder bringt etwas fürs kalte Buffet mit, seine Söhne grillen ein Spanferkel, nur beim Heringssalat vertraut man dem Feinkosthändler. »Es weiß ja keiner mehr, wie der gemacht wird.« Beschert wird auch, aber es gibt nur ein Geschenk für jeden. Vorher wurde ausgelost, wer wen überrascht. »El amigo invisible« heißt das Spiel, der unsichtbare Freund.

Thomas Leonhardt stößt beim Erzählen auf alte Bilder, die das Gedächtnis aufbewahrt hat: der Vater, der die Weihnachtsgeschichte vorliest, der Bruder und er im Anzug mit Krawatte, wie es sich in den fünfziger Jahren noch gehörte an Heiligabend, die Mutter, der beim Singen einfällt, wie schön Deutschland ist, ihre Tränen.

Wie früher werden sie leise den Schnee rieseln lassen, obwohl alles, ja wirklich alles dagegen spricht. Und jeder, der kein Deutsch kann, wird leise mitsummen.

Gespräche und Selbstgespräche am Rande des Nervenzusammenbruchs, la la la la

von CHRISTOPH WESEMANN

Steckt ein geheimer Plan dahinter, ist es Absicht? Dass meine Frau immer dann verdienstreist, wenn die Kinder Feste feiern. Schon vor einer Woche war sie weg und unsere Mittlere dran: Abschied vom Kindergarten. Die Mädchen und Jungen von der »sala cinco«, der Gruppe der Fünfjährigen, die im Februar eingeschult werden, tanzten und sangen uns südamerikanische Länder vor. Die Tochter war Brasilien, soweit ich sehen konnte, ich saß ja in Reihe 30, in Worten: vorletzte.

Kinderfestkolumne 4

Ihre kleine Schwester, unsere Dreijährige, lief barfuß kreuz und quer durchs Festzelt und hätte fast vor die Bühne gepinkelt, die Hose hatte sie schon unten. Der Achteinhalbjährige spielte draußen mit den anderen großen Brüdern Fußball. Er kam nur am Ende vorbei, um uns Eltern bei der Polonaise zu begutachten und den Kopf zu schütteln. Aus den Boxen dröhnte »Vivir mi vida«, der hiesige Vorjahreshit von Marc Anthony.

Manchmal kommt der Regen, / Um die Wunden zu säubern. / Manchmal kann nur ein Tropfen / die Dürre besiegen.

Refrain:

Ich werde lachen, ich werde tanzen, / Mein Leben leben, la la la la. / Ich werde lachen, ich werde genießen, / Mein Leben leben, la la la la.

 

Heute nun feiert die Kleine Jahresabschluss mit ihrem Kindergarten. Kindergarten ist heute natürlich nicht gewesen. Die Wohnung bestätigt das.

Um kurz vor Fünf kommt der Achteinhalbjährige von der Schule, jetzt aber los, rein ins Auto, Mensch, macht hinne, schnallt euch an. Wir haben zehn Minuten für zwei Kilometer. Unmöglich. ¡Vamos!

Und nachher wird aufgeräumt, Freunde.

Nein, nein, nein, ich habe nichts zu trinken eingepackt, ich kann ja auch mal was vergessen. Doch, Mama wäre das auch passiert. Sie vermisst euch übrigens ganz doll. Hupe an. Es ist grün, fahr doch, hijo de puta1. Hupe aus. Blick in den Rückspiegel. Kostümprobe. Rotes Unterhemd. Schwarze Leggins. Zwei Zöpfe, links und rechts. Gut gemacht, Alter. Hemd und Hose hat die Mama von Mili besorgt, muss ich gleich noch bezahlen, darf ich nicht vergessen. Die zwei Zöpfe habe ich geflochten.

Was hatte eigentlich die Fünfjährige vor einer Woche an? Brasilien, klar, ein gelbes Kleid. Hatte die Mama von Dings besorgt.

Guck mal, Schätzchen, deine Freundinnen Mili, Laila und Valen sind auch schon da. Alle drei mit zwei Zöpfen wie du. Hübsch. Und mit roten Schleifen. Die Dreijährige hat zwei beige Gummis im Haar, die ich im letzten Augenblick aus dem Besteckkasten gefummelt hatte. Wieso haben die rote Schleifen im Haar und du nicht? Die Hure, die mich geboren hat!2

Ich weiß, Liebling, das sagt man nicht.

Äh, was sagt man nicht?

Hihi.

Äh, was sagt man nicht?

Hihihi.

Äh, was sagt man nicht?

Krrrrrrr. Verzeih mir.

Ach, wie die Zeit vergeht. Vor zwei Jahren, beim ersten Kindergartenfest, war die Kleine noch in der Kükengruppe und saß auf dem Boden, eine Rassel in jeder Hand. Im vergangenen Jahr tanzte sie schon mit den anderen Affen. Jetzt ist sie Elefant und hat einen beeindruckenden Hüftschwung. Muy latina. Bald steigt sie zu den Giraffen auf.

Das mit den roten Schleifen hatte Laura, die Erzieherin, angeblich extrem idiotensicher im Mitteilungsheft vermerkt.

Kinderfestkolumne 1

Laura, du weißt doch, dass ich da nie reingucke.

Ja, weiß sie. Deswegen hatte sie mich gestern noch mal daran erinnert.

Vielleicht war ich ja in Gedanken schon beim Fest des Achteinhalbjährigen am Donnerstag.

Im nächsten Jahr wird meine Frau die Polonaise machen, dafür sorge ich. Und ich spiele mit den Brüdern Fußball, während die Kleine vor die Bühne pinkelt.

Kinderfestkolumne 2

  1. »Hurensohn«. In Argentinien übliche Anrede für andere Fahrzeugführer []
  2. Beliebter Fluch in Argentinien: »¡La puta que me parió!« []

Pablo, Taxis auf der Galopprennbahn und die Feuerwehr von Buenos Aires

von CHRISTOPH WESEMANN

Argentinier lieben es, »estoy llegando« zu sagen. Wörtlich übersetzt heißt das: »Ich bin am Ankommen.« Und etwas freier: »Gleich da.« Die wahre Bedeutung des Satzes ist jedoch eine andere. Was der Argentinier dir eigentlich sagen will, wenn er »estoy llegando« sagt, ist: »Cheee boludo1, ich habe keine Ahnung, wann wir uns sehen, ich weiß, wir sind verabredet, allerdings ich bin gerade am Arsch der Welt, ich gehe zur U-Bahn, sobald ich genug Mate getrunken habe, kann aber nicht versprechen, dass auch eine kommt, und falls sie kommt, ob ich‘s schaffe, mich reinzuquetschen. Mach dir keine Sorgen, mein geliebter Freund, ich umarme dich. Bin gleich da.«

Jemand, der »estoy llegando« in sein Handy ruft und Sekunden darauf tatsächlich um die Ecke biegt und dir winkt, ist entweder ein Argentinier, der zu lange in Deutschland gelebt hat, oder ein Deutscher, der noch nicht lange genug in Argentinien lebt.

Ich bin in Buenos Aires schon oft zu spät gekommen, unter anderem zu einer Trauung (das Brautpaar allerdings auch) und zu einem Elternabend (aber früher als die Lehrerin). Ich hole die Dreijährige regelmäßig zu spät vom Kindergarten ab und werde dann – was oft schade ist – beim Ausredenerfinden von der Erzieherin unterbrochen: »No pasa nada.«

Gar nicht schlimm also.

Ein Fest im argentinischen Kindergarten

»Pünktlich zu sein ist erstens unüblich und zweitens unhöflich«, sagt mein Freund Pablo.

Pünktlichkeit trägt vor allem Stress mit sich. Man kommt unerwartet und trifft deshalb auf unvorbereitete Gastgeber: Sie ist noch ungeschminkt, er hat noch die Lockenwickler im Haar.

Noch vor ein paar Jahren kam es vor, dass selbst Fußballspiele der ersten argentinischen Liga verspätet begannen. Die Zeitungen vermeldeten den Anstoß um 17 Uhr, angestoßen wurde aber erst, als die Zuschauer im Stadion eingetroffen waren. Und die Schiedsrichter. Und die Spieler. Seitdem alle Partien im staatlichen Fernsehen übertragen werden, ist das vorbei.

Man hat gelernt, damit zu leben. Die Stimmung ist − trotz aller Gewalt − nach wie vor sensationell, das Spiel nach wie vor eher mau. Es heißt, der Fußball sei das, was Argentinien – diesen Haufen von Individualisten, dieses Land von Nachfahren europäischer Einwanderer und indigener Völker, zu denen sich heute die armen Glückssucher aus Bolivien, Paraguay und Peru gesellen – tatsächlich miteinander verbinde. Nur diese eine Liebe, und vielleicht noch der Anspruch auf die Malwinen.

 

Selbst ein gewöhnlicher Ausländer kann mit jedem Argentinier − ob Taxifahrer oder Kneipenbekanntschaft, Freund oder Tribünenkumpel − über alles reden. Aber in der Regel nicht − zumindest nicht objektiv − über:

1. Argentinien,

2. argentinischen Fußball,

3. den Papst,

4. die Malwinen,

5. die Tatsache, dass Argentinier, nun ja, ein spezieller Menschenschlag sind.

Jorge Valdano, 1986 Weltmeister an der Seite von Diego Maradona, erzählte in einem Interview mit dem »Spiegel« einmal:

Als Fußballer besaß ich eher so eine deutsche Geschicklichkeit. Argentinischer Fußball ist sehr wendig, Sie kennen diesen romantischen Mythos, sehr phantasievoll, sehr kreativ, Maradona eben.

Mauermalerei in der Nähe des Friedhofes von Chacarita in Buenos Aires

Und weil der Fußball am Río de la Plata das Leben ist, ist das Leben wie der Fußball. »In der argentinischen Gesellschaft gilt die Täuschung als Kunst. Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist«, sagte Valdano und lieferte gleich die passende Anekdote:Jorge Valdano

Bei meinem ersten Verein als Profi, damals noch in Argentinien bei den Newell’s Old Boys, gab es jeden Dienstag ein Lauftraining. Neben unserem Platz lag die Galopprennbahn, da mussten wir dreimal rum, das ist eine ziemlich lange Strecke. Bei meinem ersten Training bei den Old Boys geschah Folgendes: Ich lief vorneweg, ich war jung und schnell, ein athletischer Typ. Aber nach einer viertel Runde überholten mich zu meiner großen Überraschung die drei Stars des Teams − in einem Taxi. Sie hatten an der Strecke einen Freund mit seinem Auto postiert, der sie dann wieder absetzte, kurz bevor es auf die Zielgerade ging. Der Trainer hat das nicht mitbekommen. Um ein Star zu sein in Argentinien muss man nicht hart trainieren, sondern Taxi fahren.2

Und darf auf keinen Fall pünktlich sein.

»Wir wissen ja, dass wir nicht immer perfekt sind«, sagt Pablo. »Aber wir wollen es nicht von einem verdammten Ausländer hören. Verstehst du?«

»Nein.«

»Du solltest wissen: Wenn du morgen bei uns im Radio über unser Land lästerst, könnte eure Botschaft brennen.«

»Willst du mich einschüchtern, Pablo?«

»Nö, ist ja nicht meine Botschaft.«

Ich werde nicht über Argentinien lästern.

Ich habe Angst, dass die Feuerwehr von Buenos Aires zu spät anrückt.

  1. »He Schwachkopf« − eine sehr beliebte Anrede in Argentinien, auch unter Freunden []
  2. Marc Koch, der frühere Chefreporter und jetzige Erste-Welt-Korrespondent des Argentinischen Tagebuchs, hat das Zitat dankenswerterweise archiviert und dem Autor spendiert. []

Frisches Angeberwissen (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

Erster Teil: Löhne, Armut, Arbeitslosigkeit und Kino

Zweiter Teil: Politik, Protest, Straßensperren, Unfälle und Taxi fahren

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Bildung

Hauptstadt Buenos Aires: 55,4

Feuerland: 44,7

La Rioja: 41,4

La Pampa: 40,3

Córdoba: 39,8

Provinz Buenos Aires, außerhalb des Hauptstadtspeckgürtels: 38,2

Jujuy: 37,1

Neuquén: 36,7

Tucumán: 36,4

Catamarca: 36,2

Chubut: 34,6

Santa Cruz: 34,2

Salta: 33,2

Río Negro: 31,6

Provinz Buenos Aires, innerhalb des Hauptstadtspeckgürtels: 31,1

Mendoza: 30,7

Santa Fe: 30,7

Entre Ríos: 30,0

Formosa: 28,8

San Juan: 28,4

San Luis: 27,8

Chaco: 26,7

Corrientes: 24,5

Santiago del Estero: 22,2

Misiones: 20,6

  • Auffällig ist vor allem der Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Schulen: So schafften 64,3 Prozent der 2001 eingeschulten Privatschüler 2012 den Abschluss − an den öffentlichen Schulen waren es nur 25,4.

UBA

  • Die Universität von Buenos Aires, kurz La UBA, ist mit mehr als 300 000 Studenten die größte Hochschule des Landes. Es folgen die Universitäten von Córdoba und La Plata mit jeweils mehr als 100 000. Gegründet wurde die UBA 1821. Sie hat 7000 Forscher und Wissenschaftler. Außerdem gehören zu ihr vier Krankenhäuser und 14 Museen.

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 Fußball

  • Carlos Bianchi, genannt El Virrey (der Vizekönig), ist der erfolgreichste Vereinstrainer des Landes. Er holte insgesamt 15 nationale und internationale Titel − sechs mit Vélez Sarsfield, neun mit den Boca Juniors. Von seinen 352 Spielen als Boca-Trainer gewann er 181. 99-mal spielte die Mannschaft unentschieden; 71 Partien gingen verloren. Insgesamt kommt Bianchi auf 497 Spiele als Trainer.
  • Der Superclásico, das Duell zwischen den beiden Großklubs Boca Juniors und River Plate: Es gab bislang 193 Erstligaspiele. Boca gewann 70-mal (265 Tore), River 63-mal (252 Tore); 60 Unentschieden.
  • Aktueller Schuldenstand der fünf großen Vereine im argentinischen Fußball: Racing Club: 133 Millionen Pesos; San Lorenzo: 168; Boca Juniors: 180; Independiente und River Plate: zusammen fast 1 Milliarde. Nimmt man die übrigen Klubs hinzu, beträgt der Schuldenstand fast zwei Milliarden Pesos und ist damit doppelt so hoch wie 2009, als die Regierung zum ersten Mal dem Fußballverband Afa die TV-Übertragungsrechte abkaufte − angeblich, damit sich die Klubs sanieren können.

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Konsum, Handel, Tourismus

Parque Rivadavia

  • 30 000 panaderías (Bäckereien) gibt es in Argentinien.
  • Die Miete für ein Geschäft in der Calle Florida, der Fußgängerzone von Buenos Aires, kostet im Durchschnitt 2000 Pesos pro Quadratmeter. Damit ist Florida die teuerste Straße der Hauptstadt. Die zweitteuerste ist die Avenida Cabildo mit 485 Pesos
  • Es blüht das Geschäft der »manteros«, der illegalen Straßenverkäufer. An vielen Ecken der Hauptstadt wird auf dem Bürgersteig gehandelt. Der größte Markt dieser Art befindet sich auf der Avenida Avellaneda mit heute 661 Ständen (2013: 353). 19 Prozent aller manteros in der Hauptstadt arbeiten hier; geschätzt wird, dass jeder von ihnen pro Arbeitstag Waren im Wert von mehr als 1000 Pesos verkauft − natürlich schwarz.

[visualizer id=“6176″] Quelle: Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires, veröffentlicht 2013.

[visualizer id=“6392″] Quelle: Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires, veröffentlicht 2013.

»Telos« ist ein Wort aus dem Lunfardo, einer besonderen Spanischvariante in Buenos Aires. Dabei werden Buchstaben verdreht: aus »cafe« wird »feca«, aus »muchachos« »chochamus« und aus »hotel« »telo«. Telos sind Stundenhotels, die Paare − auch verheiratete − gemeinsam aufsuchen, wenn sie ungestört sein wollen.

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Noch einmal Buenos Aires − das große Zahlenfinale

  • 112 463 private und 2778 kommerzielle Garagen und Parkhäuser; 370 Tankstellen
  • 126 905 Geschäfte, davon 11356 in Galerien und Shoppingcentern
  • 5365 Kioske, 2115 Supermärkte, 1939 Gemüse- und Obstgeschäfte, 764 Fleischereien, 413 Diätläden, 117 Fischgeschäfte, 10 Spezialläden für Bienenhonig
  • 1050 Möbelgeschäfte, 228 Matratzengeschäfte
  • 3626 Friseursalons, 244 Schönheits- und Kosmetiksalons, 242 Salons für Pediküre und Enthaarung, 24 Massagesalons
  • 1811 Wäschereien und Reinigungen (in Argentinien lässt man waschen), 168 Bestattungsinstitute
  • Die meisten Apothekte gibt es im − reicheren − Norden der Hauptstadt: 110 im Stadtteil Recoleta, 107 in Palermo.

Quelle: Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires, veröffentlicht 2013.

Buenos Aires, verfärbt

von CHRISTOPH WESEMANN

Wahrscheinlich ist Buenos Aires nie hübscher als im Frühling, wenn die Jaracanda-Bäume blühen.

Buenos Aires im Frühling 2

Buenos Aires im Frühling 3

Buenos Aires im Frühling 4

Buenos Aires im Frühling 5

Buenos Aires im Frühling 6

Buenos Aires im Frühling 1

Buenos Aires im Frühling 7

Buenos Aires im Frühling 8

Buenos Aires im Frühling 10

Buenos Aires im Frühling 11

Sonntagabend in Buenos Aires

von CHRISTOPH WESEMANN

Vor zwei Stunden hat ein strubbliger, unrasierter, verschlafener (und geschiedener) Argentinier seinen Sohn Ignacio zum Legospielen und Übernachten bei uns abgeliefert. Ignacio ist einer der besten Freunde unseres Achtjährigen – aber irgendetwas stimmt heute nicht mit ihm.

Nach einer Weile komme ich drauf: nackte Füße in ollen Turnschuhen.

»Cheeeee, warum hast du keine Socken an?«

»Was?«

»Ist dir nicht kalt?«

»Doch. Aber die waren schmutzig, und mein Papa hat gesagt, dann soll ich besser gar keine anziehen.«

Muss ich betonen, dass mir Ignacios Vater von allen Vätern der Freunde des Sohnes der liebste ist?

Don Salvador, der Abrunder mit dem Bürostuhl am Bordstein

von CHRISTOPH WESEMANN

Salvador Marchese ist der einzige Mensch in Argentinien, den ich nicht duze. Natürlich nenne ich ihn auch »Don Salvador«, wie es all die Nachbarn tun. Sogar die Frau lässt nichts auf ihn kommen, obwohl sie auf die anderen alten Männer hier im Viertel, mit denen ich mich gut verstehe, alles kommen lässt. Meinen Zeitungsverkäufer Alfredo zum Beispiel mag sie nicht mehr, seit er ihr gesagt hat, sie solle zu Hause bei den Kindern bleiben und mir das Geldverdienen überlassen. Und zu Carlos, meinem Friseur, darf ich nur noch allein. Als nämlich mein Sohn das letzte Mal bei ihm war, musste der Schulfotograf zwei Tage später aus dem Vorjahresbild Haare herausschneiden, um die Löcher auf dem Kopf nachträglich zu verdecken.

Don Salvador aber verkauft Erdbeeren, die nach Erdbeeren schmecken. Sagt die Frau. Und wenn mal wieder das Wechselgeld fehlt – »du hast auch keine Münzen, chico?« –, rundet er den Preis großzügig ab.

Don Salvador

Salvador Marchese ist der bekannteste Obst- und Gemüsehändler in Las Cañitas, unserem Viertel im Norden von Buenos Aires. Sein Laden heißt – wie könnte es anders sein – »Salvador«. Marchese hat ihn 1950 eröffnet, eine Querstraße weiter allerdings, auf dem Markt, den es damals noch gab. Ein Vierteljahrhundert später zog das Geschäft dorthin, wo es heute noch ist, Ecke Arévalo und Báez. Keiner arbeitet länger als er in Las Cañitas. Friseur Carlos kommt auf fast 41 Jahre und liegt damit ein paar Monate vor dem Zeitungsmann Alfredo.

Don Salvador 2

Schon Salvadors Vater hatte Obst und Gemüse in Buenos Aires verkauft. Der Sohn begleitete ihn mit sechs Jahren nach Abasto, auf den legendären Großmarkt der Hauptstadt (1893 bis 1984). Abasto ist heute ein Shoppingcenter, aber Salvador Marchese sitzt immer noch an seinem Tisch vor dem Geschäft, direkt am Bordstein, lässt sich vom Kunden den Schnipsel reichen, auf den einer seiner Jungs den Preis gekritzelt hat, kassiert, sucht Wechselgeld und rundet ab.

Heute feiert er seinen 88. Geburtstag.

»Ach, ist nur ein weiterer Tag auf Erden, gracias a Dios«, hat er gestern gesagt.

¡Feliz cumple, don Salvador!

Frisches Angeberwissen (2)

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an der Landeskunde geschraubt. Das hole ich jetzt nach, indem ich eine Reihe beim Lesen entdeckter Statistiken über Argentinien präsentiere. Zum Verständnis vorab: Alle Preise und Löhne sind in Peso angegeben. Der offizielle Peso-Euro-Wechselkurs steht derzeit bei etwa 10,8 : 1. Außerdem ist Argentinien fast achtmal so groß wie Deutschland, hat aber nur halb so viele Einwohner.

Erster Teil

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Politiker und Geld

  • 830 000 Pesos bezahlte der Gouverneur der Provinz Misiones, Mauricio Closs, für 200 000 »Gefällt mir«-Klicks bei Facebook und 200 000 weitere Klicks über Google. Jeder Facebook-Fan kostete somit umgerechnet 1,93 Pesos. Das Geld dafür bewilligte sich der Politiker aus dem Haushalt über das Dekret 766/14.

Kicillof

  • Seit 2013 hat La Cámpora, die Nachwuchsorganisation des Kirchnerismus, fünf neue Peso-Millionäre, darunter ist der Wirtschaftsminister Axel Kicillof. Der mutmaßlich wohlhabendste Camporist ist Mariano Recalde, Präsident der staatlichen Fluglinie Aerolíneas Argentinas. Sein Privatvermögen gibt er mit 6,2 Millionen Pesos an. Er besitzt unter anderem zwei Wohnungen, ein Auto und Aktien einer Immobiliengesellschaft. Sein durchschnittlicher Monatsverdienst beträgt nach eigenen Angaben 150 000 Pesos. Nationalabgeordnete, Senatoren, Minister und andere Funktionäre des Staates müssen der Antikorruptionsbehörde, die zum Justizministerium gehört, alljährlich ihre Vermögensverhältnisse unter eidesstaatlicher Versicherung offenlegen. (Was nicht bedeutet, dass die Angaben tatsächlich stimmen.) Einsicht in die Dokumente kann − unter anderem von Journalisten − beantragt werden.

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Schuld und Sühne

Die Macht von La Cámpora

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Protest: Straßenblockaden und -sperrungen (piquetes) in Argentinien

Straßensperren sind in Argentinien eine beliebte Protestform, um Politik und Gesellschaft auf Missstände − Kriminalität, häufige Stromausfälle im Viertel, Armut − aufmerksam zu machen. Die Zahl der Blockaden ist damit auch ein Hinweis auf die wirtschaftlichen und politischen Zustände im Land.

[visualizer id=“6117″] Quelle: Perfil, Ausgabe vom 30. August 2014, S. 2-3.

[visualizer id=“6152″] Quelle: Perfil, Ausgabe vom 30. August 2014, S. 2-3.

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Verkehr

  • Eine Million Fahrzeuge sind in Buenos Aires nach Angaben des Verkehrssekretariats angemeldet. An einem Werktag kommen durchschnittlich weitere 1,3 Millionen Fahrzeuge von außerhalb in die Hauptstadt. Es gibt jedoch nur 1,5 Millionen Parkmöglichkeiten.
  • Alle drei Minuten wird in Buenos Aires ein falsch geparktes Auto abgeschleppt. Macht im Monat 14 000 Fahrzeuge. 2013 wurden  laut dem Unterstaatssekretaritat für Transport an 298 Tagen 108 772 Autos abgeschleppt.
  • Zuständig sind dafür seit 2001 zwei Firmen: Dakota SA im Norden der Hauptstadt, BDR Saicfi im Süden. Für das Abschleppen berechnen sie 450 Pesos. (Hinzu kommt eine Strafe von 640 Pesos.) Sie selbst zahlen an die Stadt Buenos Aires monatlich jeweils nur 30 000 Pesos − einen Betrag, den sie nach weniger als einem Tag − oder umgerechnet 66,66 Fahrzeugen − bereits wieder eingenommen haben. Monat für Monat sollen 30 Millionen Pesos zusammenkommen.
  • Dass die beiden Firmen auch für das Kennzeichnen der Parkverbote − Schilder und gelb angepinselte Bordsteine − zuständig sind, sorgt für Unmut. Es heißt, die Markierungen seien schlecht zu erkennen oder würden sogar erst angemalt, wenn das Auto bereits parkt. Überdies seien Beschwerden − auch über Beschädigungen − zwecklos. Im Film »Relatos Salvajes« ärgert sich ein Mann (gespielt von Ricardo Darín) sosehr über das aus seiner Sicht ungerechtfertigte Entfernen seines Autos, dass er es noch einmal falsch parkt − diesmal aber mit einer Bombe im Kofferraum, die später auf dem Parkplatz der Abschleppfirma explodiert. Weil der Mann Sprengstoffexperte ist, gibt es keine Verletzten. Das Volk hat einen Helden: »Bombita«, das Bömbchen.

 

  • Taxifahren in Buenos Aires: Der Startpreis beträgt 14,30 Pesos, alle 200 Meter (oder nach jeder Minute Stillstand) werden 1,43 Pesos berechnet. Zwischen 22 und 6 Uhr betragen die Preise 17,10 Pesos und 1,71. (Stand: September 2014) In den vergangenen fünf Jahren hat sich das Taxifahren um 200 Prozent verteuert. Im Oktober 2010 etwa standen zu Beginn 5,20 Pesos auf dem Taxameter, und 200 Meter kosteten 0,52 Pesos. Acht von zehn Taxis sind offiziellen Angaben zufolge klimatisiert.

Taxis

  • Jährlich werden in Argentinien 700 000 Motorräder hergestellt; 2003 waren es noch 35 000 − eine für viele Länder Lateinamerikas typische Entwicklung. Pro Tag werden allein in Buenos Aires 500 Motorräder angemeldet. 5,8 Millionen Motorräder sind in Argentinien registriert − 1,7 Millionen davon in der Provinz Buenos Aires. Argentinier fürchten derzeit kaum etwas mehr als die »motochorros« − überwiegend junge und oft bewaffnete Männer, die vom Motorrad aus Überfälle verüben.

Unfall

  • 86 Menschen starben im Jahr 2013 im Straßenverkehr der Hauptstadt − neun mehr als 2012. Statistisch gesehen kam damit jeden vierten Tag ein Verkehrsteilnehmer ums Leben. Insgesamt gab es 10 124 (registrierte) Unfälle − pro Tag 27,7 − mit 10 621 Verletzten. 63 Prozent der Toten und 70 Prozent der Verletzten waren Männer. Fast die Hälfte der Totenopfer und ein Drittel der Verletzten waren zwischen 20 und 34 Jahre alt. Von den 86 Menschen, die 2013 im Verkehr starben, waren 39 zu Fuß unterwegs (45 Prozent), 23 mit dem Motorrad (29 Prozent) und 16 mit dem Auto (19 Prozent). Verletzt wurden am häufigsten Motorradfahrer (4199; 40 Prozent).
  • Die meisten Toten auf den Straßen Buenos Aires‘ gab es 2007: 138.
  • Landesweit starben 2013 5187 Menschen, im Schnitt 14 pro Tag. In Deutschland, das doppelt so viele Einwohner hat und einen viermal so hohen Kraftfahrzeugbestand, waren es 3340.

[visualizer id=“6163″] Quelle: Ifa; zitiert nach Clarín.

Piranhas am Straßenrand, mein tapferer Zeh und ein schwerhöriger Priester: Die Wallfahrt nach Luján

von CHRISTOPH WESEMANN

Drei Pilger: der Autor mit Cristian (M.) und Nedy

Drei Pilger: der Autor mit Cristian (M.) und Nedy

Wallfahrt 20

Route: Liniers > Morón (8,467 km) – Morón > Merlo (10,024 km) – Merlo > La Reja (9,695 km) – La Reja > Las Malvinas (9,007 km) – Las Malvinas > General Rodríguez (3,054 km) – General Rodríguez > Basílica de Luján (16,163 km)

♦♦♦♦♦

 

10.30 Uhr – Stadtteil Liniers (Buenos Aires).

Erste Schritte. Mit meinen Marathonlaufschuhen, mit denen ich selbstverständlich noch nie Marathon gelaufen bin, läuft es sich wie auf Federn. Vielleicht pilgere ich heute nicht nur die 60 Kilometer vom Bahnhof Liniers nach Luján (sprich: Lu-chahn), sondern morgen auch gleich noch zurück.

11 Uhr.

Kern des Pilgerns ist: Bescheidenheit. Demut.

Geh nicht zu schnell! Lass sie rennen! Halt deine Schrittfrequenz! Raste sparsam!

11.30 Uhr – Haedo

Erster Stopp. Unplanmäßig. Schmerzen. Ich ziehe den Schuh aus und versuche, den Fuß aus der Marathonläufersocke zu bekommen, ohne dass der kleine Zeh, den ich mir vor zwei Wochen gebrochen habe, etwas davon merkt.

Wo sind wir überhaupt? Ah, Haedo, 41 509 Einwohner. Die Vororte von Buenos Aires sehen ja alle gleich aus. Hoch über dem Bürgersteig hängen die − in der Hauptstadt verbotenen − Werbetafeln der Taxizentralen, Anwälte, Banken, Matratzenmacher und Schlüpferverkäufer, und irgendwann kommt eine Plaza, die aussieht wie die davor und die danach: ein Befreier auf dem Pferd, Brunnen, Palmen, ringsherum Rathaus, Kirche, Gericht, Museum, Café, Kiosk, Café, Kiosk, Café.

Ich hole die Pflaster hervor und klebe wild an Zehen und Hacken herum. Ein Mann beugt sich herunter und fragt, ob ich Creme wolle, er habe welche dabei. »Anaflex« heißt sie. Danke.

»Falta mucho?«, frage ich Cristian. Frei übersetzt: Ist es noch weit? Nein, die Frage kommt nicht zu früh. Im vorigen Jahr hatte ich schon nach 300 Metern das erste Mal gefragt.

»Falta muy poco.«

Wir sind also fast da.

Cristian fragt, ob ich eine der grünen Tabletten schlucken wolle. Nein, Doping lehne ich ab.

12 Uhr.

»Anaflex« ist sensationell. Die Schmerzen sind weg. Könnte aber auch an »Actron 600« liegen, den grünen Pillen, von denen ich dann doch eine … ist ja nur Ibuprofen. Also kein Doping.

12.15 Uhr.

Es ist übrigens die 40. Wallfahrt der Jugend nach Luján. Und meine zweite.

Mit Cristian am 5. Oktober 2013 vor der Basilika von Luján

Mit Cristian am Morgen des 6. Oktober 2013 vor der Basilika

12.45 Uhr.

In der Apotheke gibt es keine Salbe von »Anaflex«. Nur »Diclofenac«. Soll aber genauso wirken. Probiere ich gleich aus. Neue Pflaster von »Band-Aid« haben wir auch. »Diclofenac«. »Actron 600«. »Band-Aid«. Ich fühle mich, als hätte ich die argentinische Ausgabe der »Apotheken-Umschau« gefrühstückt.

13 Uhr.

An der Straße werden Regencapes verkauft, weil Regen angekündigt ist. Man staunt ja immer wieder, wie flink argentinische Straßenhändler ihren Warenbestand umstellen können. Schiene wie im vorigen Jahr die Sonne, würden sie jetzt Sonnencreme verkaufen. Und Sonnenbrillen. Und Sonnenschirme. Und Handventilatoren. Und die passenden Batterien. Halbleer allerdings.

Wir kaufen natürlich keine Regencapes. Es regnet ja nicht. Sonnenmilch und alles andere würden wir auch nicht kaufen. Gegen die Sonne, die nicht da ist, trage ich meinen Hut vom Fußballverein Quilmes Atlético Club. Vor einem Jahr hatte ich schon am frühen Nachmittag ein knallrotes Gesicht. Weil wir keine Sonnenmilch gekauft hatten.

Vorübergehende Sperrung für den Autoverkehr

Vorübergehende Sperrung für den Autoverkehr

13.20 Uhr.

Cristian, mein argentinischer Freund, dessen Eltern aus Bolivien stammen, pilgert schon zum siebten Mal. Ich hatte ihm irgendwann erzählt, dass ich mit dem Auto nach Luján gefahren sei. Was für eine Riesenstrapaze das war! Üble Straße, unlesbare Wegweiser und so weiter. Ich erfuhr, dass Hunderttausende offenbar vollkommen Verrückte am ersten Sonnabend im Oktober zu Fuß nach Luján gehen. »Ich bin einer von ihnen«, hatte Cristian gesagt. »Willst du mitkommen?«

Pilger 1

Als wir dann am 5. Oktober 2013 unterwegs waren, zwei von zwei Millionen, erzählte er von der Tradition: Die Gläubigen pilgern zur Basilika und tragen der Jungfrau ihre Sorgen vor. Zeigt sich im Laufe des Jahres dann, dass sich die Jungfrau der Probleme angenommen hat, muss man die nächsten drei Jahre wieder zu ihr pilgern. Aus Dankbarkeit. Von mir hat sie nichts erfahren. Ich wollte in dieser Nacht nichts riskieren.

13.30 Uhr.

Cristians alter Schulfreund Nedy begleitet uns, auch er hat bolivianische Wurzeln. Ach, wie beneide ich ihn: Er weiß noch gar nicht, was ihm bevorsteht, es ist sein erstes Mal. Mein Hausmeister hat heute Morgen, als er mich davongehen sah, übrigens geschworen, es seien mehr als 60 Kilometer von Liniers nach Luján. Eher 70. Sein Kollege nebenan sagte: 80. Die beiden sind die Strecke vor vielen Jahren angeblich mal mit Fahrrädern abgefahren. Nedy wird aber auch zum ersten Mal die Frauen sehen, die vor dem Altar weinen und dabei Fotos ihrer Kinder und Enkel hochhalten.

Chrorípankauf (2013)

Chrorípankauf (2013)

Mittagessen. Wir holen uns Chorípan, eine grobe Wurst vom Grill im Baguette, und essen sie auf dem Bordstein sitzend. Köstlich. Ich könnte jetzt ein Bier nicht vertragen; würde dank der grünen Pille herrlich rumsen. Aber Alkohol darf ja heute nicht verkauft werden. (Und wird trotzdem heimlich verkauft.)

Wir sind in Morón angekommen, 122 642 Einwohner, Heimat eines Drittligisten mit dem Spitznamen »El Gallo«, der Hahn. Ich habe die Mannschaft mal an einem Winterabend gegen Platense gesehen, den »Tintenfisch«. Mieses Spiel.

Wallfahrt nach Luján (2014)

Wallfahrt nach Luján (2013)

Wallfahrt nach Luján (2013)

14.30 Uhr.Wallfahrt 18

Gleich beim ersten Souvenirstand halte ich an. Diese weiß-himmelblauen Bändchen mit dem Bild der Jungfrau und der Aufschrift »Protegé mi …« gefallen mir. Eins kostet umgerechnet 70 Cent.

»Was soll beschützt werden, chico?«, fragt der Händler. »Ich habe, warte, lass mich gucken: Beschütz meine Familie, Beschütz mein Auto oder Beschütz mein Moped

»Mein Auto.«

»Macht zehn Pesos.«

»Dein Auto? Du bist ein solcher Schwachkopf!«, sagt Cristian.

»Ähm Señor, meine Familie natürlich. Aber das Auto-Bändchen kaufe ich auch.«

15 Uhr.

»Wie willst du eigentlich mit diesem Zeh und dieser Frisur nach Luján kommen?«, hatte die Frau gestern gefragt. Eine Frechheit. Mein Zeh ist so tapfer.

15.05 Uhr.

Ich habe mich gerade in einem Schaufenster gespiegelt. Meine Frisur, das räume ich ein, ist gewagt. Carlos kann halt nur kurz, vorne jedenfalls. Er schneidet seit 40 Jahren Haare. (Die Frau meint: wie vor 40 Jahren.) Den Friseursalon bei uns im Viertel hat er im Winter 1974 aufgemacht. Er fragt mich immer nach Franz Beckenbauer und Karl-Heinz Rummenigge. Und zum Abschied zeigt er mir das Schwarzweißfoto von seiner Hochzeitsreise nach Dortmund. Ja, Dortmund. Die Ehe hat trotzdem gehalten.

Wallfahrt 2

Wallfahrt 1

Wallfahrt 3

16 Uhr − Castelar.

In Castelar denke ich an Alejandro, Fernando, Mauricio und Daniel, wobei Alejandro, genannt »der Affe«, schon tot ist. Sie sind die Helden aus dem großartigen Buch »Vier Jungs auf einem Foto« des Schriftstellers Eduardo Sacheri und stammen wie er aus Castelar.

Als Alejandro »Mono« stirbt, hinterlässt er nicht nur eine schmerzliche Lücke im Leben von Fernando, Mauricio und Daniel, sondern auch ein Riesenproblem: Das Erbe seiner kleinen Tochter droht sich in nichts aufzulösen. Monos gesamtes Vermögen steckt in einem jungen Fußballspieler, der einst eine glorreiche Karriere vor sich hatte, mittlerweile aber in einem drittklassigen Club kickt. In ein paar Monaten ist er keinen Peso mehr wert. Den Freunden bleibt nur eine Chance: Sie müssen den Spieler verkaufen, und zwar schnell. Doch wie sollen sie, die keine Ahnung vom Fußballgeschäft haben, einen Stürmer an den Mann bringen, der keine Tore schießt? Der Kampf um Monos Erbe wird zur Herausforderung ihres Lebens – und zur Zerreißprobe ihrer Freundschaft.

Inhaltsangabe des Verlags

Wir kaufen uns an einem Stand Bondiola, also fettiges Nackensteak vom Schwein im Baguette. Hat noch nirgends besser geschmeckt als in Castelar.

Wallfahrt 5

18 Uhr.

Wir haben vorhin mit vollem Bondiolamund ausgemacht, mindestens zwei Stunden ohne Pause zu gehen. Das machen wir. Wir halten weder in Ituzaingó noch in Merlo oder Moreno. Ich glaube, in Moreno hatten wir im vorigen Jahr unsere Rucksäcke öffnen müssen. Alkoholkontrolle der Polizei. Diesmal wird nicht kontrolliert.

18.30 Uhr.

Wir befinden uns auf dem unangenehmen, weil sehr langweiligen Teil des Pilgerwegs. Es geht nur noch geradeaus, immer den Gleisen entlang. Die nächste Sehenswürdigkeit: die Ampel, dort ganz hinten, also ganz vorn am Horizont. Vier Kilometer. Alles ist jetzt Luftlinie.

Wallfahrt nach Luján

18.50 Uhr.

Regen! Blitze! Donner! Die vor Stunden gekauften Umhänge kommen zum Einsatz. Bei den anderen. Und Regenschirme, die größtenteils Gerippe sind. Weil ich keinen eingepackt habe, reicht mir Cristian eine dunkelgraue Mülltüte. Die Löcher für Kopf und Arme hat er schon herausgeschnitten. Ein Pilgerprofi.

19 Uhr.

Guck mal, Diego geht direkt hinter uns. Ich habe ja an der Universidad Kennedy »Politische Kommunikation« belegt oder »Politische Strategie« oder »Strategische Politik« oder »Kommunikative Politik«. Und Diego leitet den Kurs: jeden zweiten Freitag im Monat von 9 bis 21 Uhr, Zertifikat im Oktober 2015. Ja, nur einmal im Monat. Aber das Erholen von zwölf Stunden Spanisch dauert bei mir auch zwei Wochen.

Diego hat noch gearbeitet und ist deshalb von Merlo losmarschiert. Pfffffff, fast die Hälfte ausgelassen. ¡No vale! Zählt nicht!

19.30 Uhr.

Die Shell-Tankstelle. Auf die warte ich schon seit Stunden. Noch 300 Meter, dann kommt rechts »La Quinta«, das Landhaus. Großer Garten. Großer Pool. Ein Geheimtipp. Die Besitzer grillen jedes Jahr Hamburger und Würste. Essen und Trinken sind kostenlos. Viele Pilger, die wenig Geld haben, stärken sich hier. Man kann sich sogar im Haus eine Weile aufs Bett legen. Aber das ist jetzt voller Mädchen.

Cristian mit Padre Adolfo (2013)

Cristian mit Padre Adolfo (2013)

Wir treffen Padre Adolfo, einen der vielen Priester, die mit der Masse pilgern. Viele von ihnen arbeiten und leben in Villas Miserias, den Elendsvierteln. Ihnen braucht man nichts übers Leben zu erzählen. Sie wissen alles. Sie kennen die Jungs, die Drogen verkaufen, und die, die an ihnen hängen. Oft sind’s ja dieselben. Wenn man verstehen will, warum die Katholiken in Südamerika mit Papst Benedikt XVI. nie ganz warm geworden sind – das ist die Erklärung. Er wirkte auf die Leute hier intellektuell und kühl, den Alltagssorgen entrückt. Der Priester ist für Katholiken auf dem Kontinent zuallererst ein Seelsorger, und die Kirche ein Zufluchtsort, wo es warmes Essen gibt und das Kind Nachhilfe bekommt oder ein Buch lesen kann. Der Unterricht fällt in den Armenvierteln ja regelmäßig aus − wenn es stark regnet zum Beispiel. Dann wollen oder können die Lehrer nicht kommen.

Benedikts Nachfolger hat Heldenstatus. Papst Franziskus‘ Ansehen liegt meilenweit vor allen anderen, ähm, Autoritäten im Land. In einer aktuellen Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts haben 88,6 Prozent der Befragten ein positives Bild vom Papa argentino. Zum Vergleich: Präsidentin Cristina Kirchner schafft gerade 27,7 Prozent; Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri, der im Oktober 2015 ihr Nachfolger werden will, kommt auf 42,2 Prozent.

Wallfahrt nach Luján (2013)

Die Zeitschrift »Noticias« hat übrigens jüngst berichtet, der Papst sei sehr sauer auf all die Regierungsleute, die ihn jetzt besuchen. Als er noch Jorge Mario Bergoglio hieß und Erzbischof von Buenos Aires war, haben sie ihn nämlich beschimpft, ja gehasst, weil er eine ihrer lautesten Kritiker war. Franziskus wundert sich auch, dass er einige seiner Landsleute bei der Generalaudienz treffe und hinterher höre, er habe ihnen ein privates Gespräch gewährt. »Wird das eine deformación argentina werden?«, fragt er. Der Text endet mit einem Zitat, das wohl nur ein argentinischer Papst bringen kann: »Sie halten mich für eine französische Prostituierte.«

»Padre Adolfo, wie geht’s?« Kuss auf die Wange. Im vorigen Jahr hatte er mir als einziger die Wahrheit gesagt: dass es noch sehr weit sei nach Luján. Als er das hört, lacht er. »Und ist es noch weit?«, frage ich. »Aber sag mir bloß nicht die Wahrheit!«

»Es ist nicht mehr weit. Das ist die Wahrheit.«

21.30 Uhr.

Ich brauche einen Wanderstock. Dringend.

21.35 Uhr.

Es werden Besenstiele verkauft.

Wallfahrt nach Luján (2014)

21.40 Uhr.

Ich kaufe doch keinen Besenstiel.

21.45 Uhr.

BESENSTIEL!

22 Uhr.

Plötzlich steht ein Mann neben mir, deutet auf meinen Hut und krempelt dann seine Hose ein Stück hoch, um sein Tattoo vom Quilmes Atlético Club zu zeigen. Fette Umarmung. Dos Cerveceros. Zwei Bierbrauer. So nennen wir uns, weil aus Quilmes Argentiniens bekanntestes Bier kommt. Er ruft gleich seine Freunde herbei: »Hey, wir haben sogar Fans in Deutschland.«

Wallfahrt 9

22.15 Uhr – General Rodríguez.

Das letzte Drecksnest vor Luján. Noch 16 Kilometer. Vor einem Jahr lagen Pilger links und rechts der Straße im Gras. Viele schliefen. Jetzt ist alles aufgeweicht vom Regen. Dafür werden wir, auf den letzten Metern sozusagen, gut versorgt. Helfer reichen Wasser, Kekse, Kakao und Mate cocido, also Teebeutel-Mate, der nur halb so gut schmeckt wie der echte. Die Versorgung ist überhaupt sehr gut. Es gibt auf der ganzen Strecke 57 medizinische Stützpunkte; ob Massage oder Blasenaufstechen: Die Hilfe ist kostenlos.

General Rodríguez am 5. Oktober 2013

General Rodríguez am 5. Oktober 2013

Am 5. Oktober 2013 wurde mir in General Rodríguez mein Quilmes-Hut geklaut. Okay, in Wahrheit habe ich ihn verschenkt, an einen Würstchengriller, der behauptete, aus Quilmes zu sein. Aber der angebliche Diebstahl ist mir weniger peinlich.

Angeblicher Mützendieb (2. v. l.)

Angeblicher Mützendieb (2. v. l.)

»He, du hast ja deinen Hut noch auf«, sagt Cristian, als wir die Stadt verlassen haben.

23 Uhr.

Noch zwei Stunden. Schätze ich. Niemandsland. Nur noch wenige Stände. Am Straßenstrand stehen Autos mit einer Pappe an der Frontscheibe: »Remís 50 Peso«. Die Besitzer würden einen also für umgerechnet drei Euro (Schwarzmarktkurs) zur Jungfrau bringen.

So kurz vorm Ziel.

Das ist gemein.

Und ungemein verlockend.

»Piranhas!«, sagt Cristian. »Nicht hingucken!«

23.45 Uhr.

Dort hinten bei den Lichtern ist die Brücke, die vorletzte. Ich kann sie nicht sehen, aber ich glaube Cristian jetzt alles. Von dort sind es nur noch acht Kilometer nach Luján. 90 Prozent haben wir geschafft. Sagt Cristian. Er hält das offenbar für eine motivierende Nachricht.

Zwanzig Minuten später, unter der Brücke, sticht er mir mit seinem Haustürschlüssel eine kirschgroße Blase auf. Sollten wir noch mit den Priestern sprechen, die dort aufgereiht sind? Schnelle Beichte? Ach nee, habe ich im vorigen Jahr gemacht, und es war nicht so ergiebig. Der Priester fragte, woher ich käme, und überlegte dann, welche deutschen Wörter er kenne. Und? Tja, »und«.

Wallfahrt nach Luján (2014)

Unter der vorletzten Brücke: noch acht Kilometer bis nach Luján (2014)

Cristian kann »Guten Tag« sagen, »Arsch« und seit General Rodríguez »Ich heiße Cristian«.

Nedy und ich cremen noch mal die Füße mit »Diclofenac« ein. Ich nehme meine dritte grüne Pille.

»Ist für dich die letzte heute, mein Freund«, sagt Cristian.

Sonntag, 0.15 Uhr.

Bei jedem Motorrad, das vorbeifährt, bei jedem Auto, das hupt, damit wir den Weg freimachen, selbst bei dem Jungen auf dem Fahrrad rufen wir: »¡Trampa!« Das bedeutet: Mogelei! Ein Baby im Kinderwagen ist auch trampa.

Nur auf eigenen Füßen zählt.

0.30 Uhr.

Ein Rollstuhl überholt uns. Trampa! Ja, auch unser Humor kriegt langsam Blasen.

0.40 Uhr.

Cristian erzählt, es gebe auch eine viertägige Wallfahrt, die von Buenos Aires nach San Nicolás de los Arroyos führe und 240 Kilometer lang sei. Könnten wir ja im nächsten Jahr machen.

Mal sehen.

0.55 Uhr.

Wir reden kaum noch. Es ist alles gesagt. Wir sind gleich da. Gewiss.

Jeder Schritt tut weh. Ich kann die Schmerzen nicht mehr orten. Es brennt unten und oben, vom großen Zeh bis zur Hüfte.

Ringsum allgemeines Humpeln. Mit krummem Rücken. Vornübergebeugt. So geh’n die Gauchos.

1 Uhr – Luján.

Luján! Luján! Luján! Luuuuuujaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan. Also: der Ortseingang. »Brauchst du wieder eine Massage?«, fragt Cristian.

»Weiter!«

1.02 Uhr.

Kurze Pause. Mehr »Diclofenac«. Warum bloß habe ich mich diesmal nicht massieren lassen?

Massage in Luján am 5. Oktober 2013

Massage in Luján am 5. Oktober 2013

1.04 Uhr.

»No falta nada«, sagt Cristian. Es fehlt nun wirklich nichts mehr, wir sind im Grunde angekommen. Zum wievielten Male eigentlich? Ein Wagen mit Lautsprecher überholt uns. »Menos que 40 cuadras«, spricht ein Junge ins Mikrofon. »Weniger als 40 Blocks.«

Ein Häuserblock, das sind in Argentinien, wo die Städte von oben wie Schachbretter aussehen, 110 Meter. Noch 4,4 Kilometer? Viertausendvierhundert Meter? La puta que me parió.1 Dreizehntausendzweihundert Schritte. Dreizehntausendzweihundertmal dieses Gefühl, dass der Fuß auf Glut geht. Nedy, der dritte Mann, hat’s auch gehört und guckt noch niedergeschlagener als ich.

»Er hat gesagt: weniger als 40!«, sagt Cristian. »¡Vamos muchachos, no falta nada!«

1.47 Uhr.

Wir sind da. Vor der Basilika steht ein Priester mit Mikrofon, begrüßt die Pilger und fragt, woher sie kämen.

»Chaco

»Herzlich willkommen.«

»Formosa

»Willkommen. Alles gut?«

»Córdoba.«

»Ihr habt’s geschafft!«

»Alemania.«

»Woher?«

»Alemania!«

»Ich verstehe nicht. Komm mal näher.«

»Aaaaa-leeee-maaaaa-niiiiiii-aaaaaa!«

Schweigen.

Wallfahrt 12

Wallfahrt 11

Schlafende Pilger in der Basilika von Luján (2013)

Schlafende Pilger in der Basilika von Luján (2013)

 

  1. »Die Hure, die mich geboren hat.« Argentinischer Fluch []

Pilgern mit neuneinhalb Zehen

von CHRISTOPH WESEMANN

Morgen um 11 Uhr werde ich mit meinem Sherpa Cristian Caballero, den meine Töchter respektvoll »el Señor« nennen, zum zweiten Mal zur Jungfrau von Luján pilgern. 70 Kilometer lang ist die »Peregrinación juvenil«, die Wallfahrt der Jugend. (Manche behaupten auch: 80 Kilometer.)

Im vergangenen Jahr, bei der 39. Auflage, als zwei Millionen Leute gepilgert sind, waren wir fast 15 Stunden unterwegs, was wohl vor allem daran lag, dass ich ein bisschen zu oft die Stände mit den choris, den argentinischen Bratwürsten, angesteuert habe.

 

Morgen wollte ich eigentlich schneller sein. Vor zwei Wochen habe ich mir allerdings beim panischen Wiederherstellen der Wohnung nach neuntägiger Abwesenheit der Frau am Badtürrahmen den rechten kleinen Zeh gebrochen. Es wird also eher später.

Ich werde Cristian, wie im vergangenen Jahr, nach ungefähr einer halben Stunde zum ersten (und nicht zum letzten) Mal fragen, ob es noch weit sei, und er wird antworten: »Falta poco, Griesdof.« Frei übersetzt: Wir sind praktisch schon da. »Falta muy poquito«, wird er später sagen, es fehlt jetzt also nur noch ein bisschen, bis irgendwann bei Einbruch der Dunkelheit das Straßenschild kommt, auf dem »Luján 28 km« steht, und ich vorschlage, ein Taxi zu nehmen.

»Falta nada, Griesdof. ¡Vamos!«


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)