Archiv für das Thema ‘Alltag’

Gesetz zum Ausrasten: Wie Berlin die WM-Stimmung und den letzten Iraner sucht

von NICO ESCH (Gastbeitrag)

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Nico Esch (32) ist Journalist, lebt in Berlin und hat mit mir bei der Schweriner Volkszeitung volontiert.

Die Nummer 457 heißt Ehsan Hajsafi. Ein Kollege hat herumgefragt, ob den jemand doppelt hat, denn der iranische Verteidiger ziert das letzte Panini-Sammelbildchen, das seinem Sohn noch fehlt. Ich konnte leider nicht helfen. Ich hab die Nummer 457 nicht und ich hab auch die anderen 639 Bilder nicht. Ich hatte neulich Andy Köpke in einem geschenkten Duplo, hab ihn aber weggeworfen. Duplo- und Hanuta-Bilder passen nicht ins Panini-Album, das weiß ich noch von früher. Ich habe mir keinen Beamer gekauft, obwohl Saturn und Media-Markt es ständig von mir verlangen, kein Trikot, keinen Hut, kein Kicker-Sonderheft und keine Fähnchen fürs Auto – kurz: Ich bin zu meinem eigenen Entsetzen überhaupt nicht in WM-Stimmung.

Ich bin damit aber nicht allein, hab ich festgestellt – und das in Berlin, was ja bekanntlich die Hauptstadt des Sommermärchens von 2006 ist. Man sieht zwar häufiger mal grölende Leute mit nacktem Oberkörper fahnenschwenkend im Auto über den Ku’damm fahren, und es wird auch ohne Ende gehupt, aber dafür braucht in Berlin ja niemand einen Anlass. Und ansonsten halten sich viele, die man so trifft, noch vornehm zurück und haben Mühe, sich den Termin des Eröffnungsspiels zu merken.  Irgendwie so…Donnerstag? Begeisterung sieht anders aus. Was soll das überhaupt mit dem Donnerstag? Und dann noch um 22 Uhr. Wer soll denn das gucken?

In Argentinien ist das völlig anders und alle rasten schon jetzt völlig aus, nehme ich an. Das ganze Land wird vier Wochen lang nicht arbeiten, jedes Spiel anschauen und absolut überzeugt sein, den Titel zu holen. Ich war noch nie in Argentinien, aber ich kenne den Betreiber dieses Tagebuchs, den argentinischsten aller Argentinier, und halte das für einen guten Maßstab.

Ich selbst weiß noch nicht, ob ich mich werde aufraffen können, mir um Mitternacht deutscher Zeit Chile gegen Australien oder Japan gegen Griechenland anzugucken. Dabei könnte ich das sogar draußen tun und dürfte dabei auch noch Lärm machen. Es gibt eine Ausnahmeregelung für die WM, eine »Verordnung über den Lärmschutz bei öffentlichen Fernsehdarbietungen«. Muss man zwar selbst in der hinterletzten Ecke nochmal extra beim Ordnungsamt anmelden, aber trotzdem: Öffentlicher Lärm! Nach 22 Uhr! In Deutschland! Mehr Ausnahmezustand geht eigentlich gar nicht.

Ich bin mir nur leider nicht sicher, ob das lohnt. Kommt noch jemand auf die Fanmeile am Brandenburger Tor, wenn Deutschland in der Vorrunde ausscheidet? Oder kann da dann doch noch die Fashion Week stattfinden, die man mit viel Mühe und großem Drama von da vertrieben hat? (Die ist jetzt im Wedding, was die Veranstalter – sagen sie – ohnehin immer schon viel hipper fanden.) Einheimische gehen ja sowieso nicht zur Fanmeile – jedenfalls streiten sie es genauso empört ab wie die Unterstellung, Silvester am Brandenburger Tor zu feiern.

Ich bin auch nicht nur nicht richtig in Stimmung, sondern habe auch keinen Schimmer, wer wohl Weltmeister wird. In der Zeitung stand, es wird Brasilien. Sieg über Argentinien im Finale, Deutschland und Spanien scheiden im Halbfinale aus. Das glaub ich aber nicht. Wie Deutschland sich ohne Reus, dafür mit falscher Neun ins Halbfinale mogeln soll, ist mir schleierhaft. Und wieso ist Brasilien angeblich auf einmal so gut? Wer spielt denn da und wo waren die jahrelang? Und war nicht Belgien zwischendurch mal irgendwie Geheimfavorit? Wo sind die geblieben?

Ich muss mich da jetzt dringend einlesen, sonst geht die ganze Sache total an mir vorbei. Marco Reus ist übrigens die Nummer 502 im Panini-Album.

Ob man da den Shkodran Mustafi einfach so drüberkleben kann?

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskartenkomödie – Epilog

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn nichts mehr dazwischenkommt, schauen wir nachher im Stadion von River Plate das Länderspiel Argentinien gegen Trinidad und Tobago: M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo, mein Sohn und ich. Aber in Argentinien und mit Argentiniern kommt ja immer was dazwischen. Trotzdem beenden wir die Eintrittskartenkomödie jetzt mit einem Epilog. Ich kann nämlich nicht mehr.

Wir erinnern uns:

Wie schon in den ersten drei Akten wird auch diesmal über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat kommuniziert. Pablo und M. kennen sich immer noch nicht. Zum besseren Verständnis sind die spanischen Sätze ins Deutsche übersetzt worden — es reicht ja, ganz genau, wenn die Akteure bis zum Ende nicht miteinander klargekommen sind.

Dienstagmittag

M. → ICH Wie sieht’s aus?

M. → ICH Hat Pablo die Karten?

M. → ICH Bist Du da?

M. → ICH Du bist sonst immer da.

M. → ICH Hallo?

ICH → PABLO Cheeeeeeeeee Dicker, was ist denn jetzt? Ich kann M. nicht mehr lange hinhalten.

M. → ICH Haaaaaaaalllllloooooooooooooo?

PABLO → ICH Alles okay. Mach Dir keine Sorgen. Heute hole ich die Karten. Ich sag Dir Bescheid.

ICH → M. Tut mir leid, ich habe kein Internet.

M. → ICH Aber ich schreibe Dir doch die ganze Zeit SMS.

ICH → M. Achso.

M. → ICH Und?

ICH → M. Pablo ist optimistisch. Er ist so grenzenlos optimistisch, er könnte bereits naiv sein.

Dienstagabend

Die Karten

PABLO → ICH Hier sind sie, Heulsuse! Na, wie habe ich das gemacht?

ICH → PABLO Jetzt willst Du bestimmt einen Orden.

PABLO → ICH Gebt mir einfach 350 Peso pro Karte.

ICH → PABLO Gestern waren es noch 250.

PABLO → ICH Es sind zusätzliche Kosten angefallen.

ICH → PABLO Und das ganze Chaos war ja auch nicht Deine Schuld.

PABLO → ICH Genau.

ICH → M. Er hat die Karten! Argentina! Argentina! Argentina!

M. → ICH Hast Du sie gesehen?

M. → ICH Ist auch das Logo vom Fußballverband drauf?

M. → ICH Rattern sie, wenn sie durch die Finger laufen?

M. → ICH Immer noch kein Internet?

ICH → M. Mein Lieber, die gefälschten Fußballkarten in Argentinien rattern; die echten, die schnalzen! Bekommst gleich ein Foto.

M. → ICH Schpeck!Ta!Ku!Lär! Ein′ Pa-hab-lo-ho, es gibt nur ein′ Pa-hab-lo-ho, ein′ Pa-hab-loooooo-hooooooooo, es gibt nur ein′ Pa-hab-lo-ho.

ICH → M. Er will auf einmal doch 350 pro Karte. Nicht 250.

M. → ICH Wir zahlen, was drauf steht.

ICH → M. Dürfen wir ihm bloß nicht vorher sagen. Sonst verbringt er die Nacht mit Lupe und Schere schnippelnd über Zeitungen, um ein paar 3en zu finden, die er über die 2en kleben kann.

M. → ICH Wie machen wir es eigentlich morgen?

ICH → M. Ist ja nicht weit. Bus oder zu Fuß.

M. → ICH Ich gehe auf keinen Fall zu Fuß.

ICH → M. Und Du willst mit mir im Oktober 70 Kilometer nach Luján zu unserer heiligen Jungfrau pilgern? Da habe ich Dich ja schon am Ortausgang von Buenos Aires huckepack.

M. → ICH Ich fahre Rad. Oder Pick-up. Und stelle am Ziel schon mal das Bier kalt.

ICH → M. Das zählt aber nicht.

M. → ICH Wieso? Wäre doch typisch argentinisch. Solange es keiner merkt…

ICH → M. Stimmt auch wieder. Und falls Du erwischt wirst, streitest Du erst alles ab und weinst dann dramatisch.

M. → ICH An der Schulter eines Pfarrers!

Dienstagnacht

PABLO → ICH Könnt Ihr eigentlich unsere herrliche Hymne singen?

ICH → M. Pablo fragt, ob Du bei der Hymne textsicher bist.

M. → ICH Also, ich habe gerade kein Internet.

ICH → M. Puh, ich ja auch nicht.

 

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskartenkomödie – Teil 3

von CHRISTOPH WESEMANN

M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo und ich werden am Mittwoch das Länderspiel von Argentinien gegen Trinidad und Tobago besuchen. Ganz sicher. Vielleicht. Wohl eher nicht. Also Pablo schon.

Wir erinnern uns: Im ersten Teil der Eintrittskartenkomödie waren M. und ich daran gescheitert, die Tickets zu besorgen. Im zweiten Teil hatte Pablo, der König des Einmaleins, horrende Forderungen gestellt. Und nun: eine unerwartete Wendung, die uns sagen will, dass bisher doch alles harmlos gewesen ist.

Wie schon im ersten Teil und zweiten Teil, wird auch diesmal über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat kommuniziert. Pablo und M. kennen sich immer noch nicht. Zum besseren Verständnis sind die spanischen Sätze ins Deutsche übersetzt worden — es reicht ja, ganz genau, wenn die Akteure ein drittes Mal nicht miteinander klarkommen.

Kartennachricht

Montagnachmittag

ICH → M. Ich habe übrigens gestern Pablo getroffen und für uns 600 Peso bei ihm angezahlt. Nicht, dass er noch, weil das Spiel zufällig ausverkauft ist, unsere Karten auf dem Schwarzmarkt vertickt. Sie kosten aber nur 250 pro Person, nicht 350. Er wollte uns veräppeln.

M. → ICH Toll. Dann komme ich gleich vorbei und hole mein Kärtchen ab. Ich weiß nämlich noch nicht, ob wir uns am Mittwoch bei Dir treffen oder erst im Stadion.

ICH → M. Die Karten habe ich noch nicht.

M. → ICH DU HAST IHN BEZAHLT, UND DU HAST KEINE TICKETS? Darauf einen Fernet-Cola. Oder drei. Schwester, reich mir mein Tagebuch…

ICH → M. Hör auf, ich kenne Pablo schon lange, und außerdem hat er mir seine Hand drauf gegeben.

M. → ICH Ach, das beruhigt mich jetzt total. Der Argentinische Handschlag, schon viel von gehört. Weltberühmt! Der Handschlag, mit dem man ein Geschäft besiegelt und der mehr wert ist als jeder Vertrag – eine argentinische Erfindung, ja, jetzt, wo Du’s sagst. Wissen das die hanseatischen Kaufleute eigentlich schon?

ICH → M. Hab’ doch ein bisschen Vertrauen, alemán.

M. → ICH Jeder argentinische Taxifahrer sagt Dir ungefragt: »Dieses Land ist voller Diebe.« Und gleich darauf fährt er mit Dir einen hübschen Umweg.

ICH → M. Am Freitag habe ich zum ersten Mal mit Ecuadorianern Fußball gespielt. Stell Dir vor: Keiner flucht, niemand beschimpft den anderen, und der Einzige, der sich für Diego Maradona gehalten hat, war ich. Fürchterlich.

M. → ICH Ecuadorianer mögen’s sowieso eher gemütlich. Ihr einziger Olympiasieger war ein Geher. Atlanta 1996.

ICH → PABLO Hallo mein Bruder, wie geht’s? M. hat Angst, dass Du uns die Karten nicht geben wirst. Feste Umarmung.

PABLO → ICH Deutsche, hahahaha. Sehr feste Umarmung, Bruder.

ICH → PABLO Ein Schwachkopf. Er trinkt weder Mate noch Quilmes.

PABLO → ICH Mit so einem gehe ich ins Stadion?

ICH → PABLO Ich habe ja auch mit Ecuadorianern gekickt.

PABLO → ICH Oh Gott, die spielen wie Mädchen einer katholischen Schule. Und fluchen können die auch nicht, oder?

ICH → PABLO Schick mir mal ein Foto von den Karten, dann kann ich ihn beruhigen.

PABLO → ICH Welche Karten?

ICH → PABLO Sehr witzig.

PABLO → ICH Du bist wirklich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der einem Argentinier Geld gibt, ohne von ihm die Ware zu fordern. Nicht der andere Deutsche ist also schwachköpfig.

Kurz vor Mitternacht

PABLO → ICH Kannst Du das glauben? Ich habe meine Kreditkarte weggeworfen, die, mit der ich online unsere Eintrittskarten bestellt hatte. Jetzt weiß ich leider nicht, wie ich an die Tickets kommen soll. Keine Ahnung, ob sie mir die aushändigen werden. Willst Du wissen, was passiert ist? Also, ich hatte die Karten ja mit meiner Visa bezahlt, und weil der Magnetstreifen schon ein bisschen kaputt war, habe ich eine neue angefordert. Als ich die neue Visa dann hatte, habe ich die alte weggeschmissen!!!! Hahahaha. Ich schwöre Dir, es stimmt. Also habe ich jetzt keine Karte, die ich vorzeigen kann, wenn ich unsere Tickets abhole. Aber, bleib ganz ruhig. Ich glaube, ich wiederhole: ich glaube, dass ich das Problem lösen werde. Hahahaha.

ICH → PABLO Ich habe keine Ahnung, wie ich das unserem deutschen Freund beibringen soll. Und meinem Sohn, dem größten Messi-Fan Argentiniens.

PABLO → ICH Das ist Argentinien.

VORHANG

 

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskartenkomödie – Teil 2

von CHRISTOPH WESEMANN

M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo und ich wollen immer noch zum Länderspiel von Argentinien am 4. Juni. Mein Sohn hat sich auch zum Messigucken angemeldet. Nachdem M. und ich am Kartenkauf gescheitert sind, kümmert sich Pablo seit einer Woche darum, und natürlich hat er alles im Griff. Wie schon im ersten Teil, wird auch diesmal über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat kommuniziert. Pablo und M. kennen sich immer noch nicht. Zum besseren Verständnis sind die spanischen Sätze ins Deutsche übersetzt worden — es reicht ja, ganz genau, wenn die Akteure abermals aneinander vorbeireden.

Teil 2 der Eintrittskartenkomödie

Dienstag

M. → ICH Was machen eigentlich unsere Karten fürs Länderspiel von Kun und Leo gegen Trinidad und Tobago?

ICH → M. Ich frag mal Pablo.

ICH → PABLO Mein Freund, wie geht’s? Hast Du die Karten gekauft? Ich vermisse Dich. Feste Umarmung.

PABLO → ICH Alter, wie geht’s? Oh, das habe ich vergessen, und jetzt bin ich gerade zur Tür rein. Mach ich übermorgen. Du fehlst mir auch. Sehr feste Umarmung.

ICH → PABLO Aber es tut Dir bestimmt leid.

PABLO → ICH Hä?

ICH → PABLO Dass Du es vergessen hast.

PABLO → ICH Du hast mich nicht daran erinnert.

ICH → M. Pablo hat übrigens vergessen, dass er die Karten kaufen will.

M. → ICH Ich hatte nichts anderes erwartet.

Donnerstag

ICH → PABLO Karten?

PABLO → ICH Längst gekauft!

ICH → PABLO Perfekt. Willst Du Geld haben, oder sind die Karten ein Geschenk?

PABLO → ICH Geld.

ICH → PABLO Wie viele Raten ohne Zinsen?

PABLO → ICH 950 Peso, zinslos in einer Rate.

ICH → PABLO 950? Die Hure, die Dich geboren hat! Wir hatten doch ausgemacht: nicht mehr als 250 pro Karte!

PABLO → ICH Aber ich habe doch 3 gekauft.

ICH → PABLO Hä?

ICH → M. Pablo hat die Karten besorgt. 950 Peso für drei.

M. → ICH WTF? Wir hatten doch ein Limit gesetzt!

ICH → M. Ja.

M. → ICH 250, oder?

ICH → M. Aber er hat ja 3 gekauft.

M. → ICH Hä?

ICH → M. Kennst Du einen weltberühmten argentinischen Mathematiker?

M. → ICH Nee.

ICH → M. Siehste.

M. → ICH Sind wenigstens die Cheerleader im Preis mit drin?

ICH → M. Ach, Pablo wird was einstreichen, vermute ich. Argentinier halt.

M. → ICH Jetzt ist mir klar, warum er sich so gerissen hat um den Auftrag. Wahrscheinlich stottert der Gauner über Monate den Betrag heimlich über seine Kreditkarte ab, und bei der Inflation in diesem Land ist er am Jahresende fast umsonst ins Stadion gekommen.

ICH → M. Wir sind auch selbst schuld. Dieses Land bricht ja nicht umsonst alle zehn bis 15 Jahre zusammen.

ICH → PABLO Ich gebe Dir 750. Du musst lernen, mit einem Budget auszukommen!

PABLO → ICH Und was ist mit der ganzen Arbeit, die ich hatte? Das waren locker 200 Peso. Wie war übrigens Deine Marketingklausur?

ICH → PABLO Darüber möchte ich nicht reden.

M. → ICH Das muss ins Tagebuch! Und eine Kopie an den Pariser Club, damit die sehen, wie hier gewirtschaftet wird.

VORHANG

Albraum 5.5

von CHRISTOPH WESEMANN

Vor einer Woche habe ich gemerkt, dass ich seit sieben Dienstagabenden im falschen Kurs sitze. Ich studiere an der Universität von Palermo jetzt doch nicht Sportmarketing am Beispiel des Fußballklubs Boca Juniors, sondern Marketing. Reines Marketing, sozusagen. Vielleicht hätte ich schon früher stutzig werden können, weil wir im Raum 5.5 über allerlei reden, über Strategieplanung, Kaufverhalten, Marktsegmentierung und Positionierung von Produkten. Aber nie über Fußball. Ich habe mir lange eingeredet, wir würden uns Grundlagen erarbeiten, um ein bahnbrechendes Marketingkonzept für Boca entwickeln zu können. Machen die ja vielleicht auch, aber dann in einem anderen Raum.

Die erste Zwischenklausur steht jetzt unmittelbar bevor, und ich habe gleich drei Probleme. Erstens: Die Studenten nuscheln, und zwar alle. Zweitens: Vieles, das ich zu Hause auf Deutsch über Marketing nachgelesen und daraufhin verstanden habe, muss von mir noch ins Spanische übersetzt werden. Wenn ich darin gut bin, kommt vermutlich das raus, was die Studenten genuschelt haben. Drittens: Ich verstehe auch Deutsch nicht immer.

Die Zusammenstellung der benötigten Informationen erfolgt durch vier Subsysteme des MAIS, nämlich das innerbetriebliches Berichtssystem, das Marketing-Nachrichtensystem, das Marketing-Forschungssystem und die Entscheidungsunterstützung zur Vorbereitung von Marketingentscheidungen durch ein Entscheidungssupportsystem.

Philip Kotler: Marketing-Management: Analyse, Planung und Verwirklichung, Stuttgart 2001, S. 192.

Meine Strategie ist folgende: Ich werde in der Klausur krakelig schreiben, weil ich hoffe, dass der Professor mir zutraut, dass ich das oder das weiß, obwohl ich in Wahrheit weder das noch das weiß, wie wir wissen.

Mein Freund Pablo war übrigens keine Hilfe. Pablo ist nie eine Hilfe. Er hat ja sogar vergessen, dass er unsere Eintrittskarten für das Länderspiel von Argentinien gegen Trinidad und Tobago am 4. Juni besorgen will. Das macht er morgen. Und strategisch denken kann er überhaupt nicht.

»Was meinst du, Pablo, sollte ich ein paar englische Marketing-Fachausdrücke in der Klausur unterbringen?«

»Wozu?«

»Damit ich intelligent wirke.«

»Ich würde alles auf Deutsch beantworten. Dann hält dich der Professor für so richtig schlau. Ist doch eine total schwere Sprache. Aber du, du hast sie gelernt.«

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskarten-Komödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo und ich wollen zum Länderspiel von Argentinien gegen Trinidad und Tobago am 4. Juni. Um die Karten kümmert sich M., Pablo hilft ihm, und ich vermittele zwischen den beiden, weil sie sich noch nicht kennen. Kommuniziert wird über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat, auf Deutsch und Spanisch. Damit der Leser das Stück versteht, wird jetzt aber deutsch gesprochen. Es genügt ja, dass sich die Akteure nicht verstehen.

ICH → M. Haste schon die Karten besorgt?

M. → ICH. Nein. Ticketek behauptet, dass die nur online oder per Telefon verkauft werden. Was ich nicht mache, weil ich ja die Daten meiner Kreditkarte keinem in diesem Land anvertraue.

ICH → M. Ich auch nicht.

M. → ICH. Es wäre natürlich blöd, nach Abasto zum Verkaufsschalter zu fahren und dann nix zu bekommen.

ICH → M. Ich frage mal Pablo. Ich war ja mit ihm schon bei einem Länderspiel.

ICH → PABLO. Cheeeeeeee Schwachkopf, wie geht’s? Alles gut? Sag mal, wo und wie in der Stadt hast Du damals die Karten gegen Peru besorgt? Feste Umarmung.

Abasto

M. → ICH. Wenn es offline doch geht, würde ich am späten Nachmittag losziehen. Kommste mit?

ICH → M. Später Nachmittag? Haha. Drei Kinder.

M. → ICH. Morgen Früh (also: was ich früh nenne!) könnte ich eventuell auch.

ICH → M. Morgen Früh kann ich keinesfalls, egal, wie früh. Muss eine Torte holen und Kaffee kochen, weil die Mittlere um 12.30 Uhr mit dem halben Kindergarten ihren Geburtstag nachfeiert. Habe ich eine Lust! Mit fünf Jahren Geburtstag feiern, fffffff, vergisst sie doch sowieso alles wieder. Oder hast Du noch Erinnerungen an Deinen fünften Geburtstag? Mit zehn, okay, aber fünf? Totale Geld- und Zeitverschwendung.

M. → ICH. Lass das mit dem Fest! Am Ende heult nur wieder einer. Oder kotzt.

PABLO → ICH. Wie geht’s, dicker Deutscher? Alles gut? Weißt Du noch, wie wir die Peruaner fertiggemacht haben? 3:1, und das ohne Leo Messi! Zweimal Ezequiel Lavezzi, einmal Rodrigo Palacio. Gegentor von Claudio Pizarro. Der ist noch bei Bayern München, oder? Das mit den Karten weiß ich nicht mehr. Du gehst auf www.google.com und gibst ein: »Entradas, partido, Argentina«. Feste Umarmung, geliebter Freund.

ICH → PABLO. Gracias, Einstein!

ICH → M. Pablo sagt, Du sollst googlen, und zwar: »Karten, Partie, Argentinien«. Ich habe mich mit »Gracias, Einstein« bedankt. Ich denke, das war in Deinem Interesse.

M. → ICH. Keine Ahnung, was mich mehr begeistert: die Hilfsbereitschaft der Argentinier oder ihre praktische Intelligenz.

ICH → M. Rührend.

M. → ICH. Man muss sie einfach lieb haben.

PABLO → ICH. Ticketek? Naja, Google sagt Dir ja, wo’s die Karten gibt.

ICH → PABLO. Aber wir haben keine Kreditkarte, um online zu kaufen.

PABLO → ICH. Ihr habt keine Kreditkarte? Was seid Ihr denn für Idioten? In Argentinien hat jeder fünf. Mindestens.

ICH → M. Pablo sagt übrigens noch mal: »Google«.

M. → ICH. Ja, nee, schon klar. Kann ich ihm was Gutes tun? So hat uns ja kaum jemand jemals weitergeholfen.

PABLO → ICH. Leute, ich kaufe die Karten.

ICH → PABLO Sicher?

PABLO → ICH Gar kein Problem für mich.

ICH → M. Jetzt wird es richtig kompliziert.

M. → ICH Noch komplizierter? Glaub‘ ich nicht.

ICH → M. Pablo will die Karten kaufen.

VORHANG.

Glückliche Hühner, ein 1:0-Horrorfilm und der Peter Neururer von Argentinien

von CHRISTOPH WESEMANN

Aua, das hat weggetan. Mein Quilmes Atlético Club ist gestern Abend heftig vermöbelt worden, ein Tor schöner, also furchtbarer als das andere. Nullfünf im Estadio Monumental, der Riesenschüssel der gallinas, der Hühner, wie River Plate und seine Fans auch genannt werden. Und weil River (→ ehemaliger Zweitligist) mal wieder argentinischer Meister ist, zum 35. Mal, gackerten 63 000 rotweiße Hühner ihre scheußlichen Lieder. Die Spieler bestiegen einen offenen Bus und drehten eine Stadionrunde.

 

River 5

River 4

River 3

River 2

River 1

Ich bin ja vor fast zwei Jahren nach Argentinien als Fan der Boca Juniors eingewandert, um dann zu festzustellen, dass der Klub viel zu groß für mich ist. Man kommt auch nicht an Eintrittskarten, jedenfalls nicht auf legalem Wege, und außerdem ist Boca total überlaufen von Ausländern, die sich argentinisch benehmen wollen. Heute bin ich Sympathisant  – und sobald es gegen River geht,  ein wieder Frischverliebter.

Gestern ist mein Herzensklub gegen den Intimfeind meines Kopfklubs untergegangen. Das führte bei mir im Stadion zum Zustand vollkommener Benommenheit – als würde mich jemand würgen, nachdem er mir reichlich Valium verabreicht hat.

Aber ich habe nicht geweint, vielleicht auch nur, weil das ringsherum schon die Hühner taten.

Außerdem war es eine herrliche Saison des Quilmes Atlético Club. Erstens: nie mehr zweite Liga, nie mehr, niemehrniemehr. Wir bleiben auch zwei Jahre nach dem Aufstieg erstklassig. Zwischendurch waren wir natürlich schon fast abgestiegen. Der erste Trainer hatte sich Mitte Oktober nach einem Heimspiel mit einem maulenden Zuschauer geprügelt und war daraufhin zurückgetreten. Sein Nachfolger verlor Spiel um Spiel. Erst unter Ricardo Caruso Lombardo, dem Peter Neururer Argentiniens, einem Sprücheklopfer und Feuerwehrmann, ging es aufwärts.

Und zweitens: die historische Nacht vom 26. April 2014, das Auswärtsspiel gegen Racing in Avellaneda. Im Stadion von Racing hatten wir noch nie gewonnen und in der Stadt Avellenada seit fast 100 Jahren (1915 gegen Independiente) nicht mehr.

Bis zu dieser Nacht.

Um 21.05 Uhr schrieb ein Huhn auf Twitter: »Schaue gerade auf Kanal 9 den Horrorfilm Racing – Quilmes.«

Und dann fiel ein Tor.

Um 22.59 Uhr schrieb ich: »Dagegen ist die Mondlandung, sorry Mr. Armstrong, ein Dreck.« Ich bin heute, 22 Tage, fünf Stunden und 33 Minuten später, noch genau dieser Meinung.

Was werden wir unseren Enkeln damit eines Tages auf die Ketten gehen!

 

 

 

Elf Tage ohne

von CHRISTOPH WESEMANN

 

 

 

 

 

 

 

 

Pferderennen 3 Pferderennen 2 Pferderennen 1

 

 

Superclásico

  1. ((((((((((((((Und 140 verloren. []

Zurück in der Wildnis

von CHRISTOPH WESEMANN

Endlich lebe ich in Buenos Aires nicht mehr nur wie ein Student1, sondern bin’s auch wieder. Das Studium war ja sowieso die wildeste Zeit, ach, was haben wir, also speziell ich, damals Party … und die Weiber erst, sag ich euch …  Menschmenschmensch … ja, nicht immer, nicht jeden Tag und nicht jede Woche, aber schon relativ oft. Wie gesagt: Wild war’s.


Sportmarketing: der Fall Boca Juniors
heißt der Kurs, den ich an der Universität von Palermo belegt habe. Dienstags, 19 bis 22 Uhr, Ecke Larrea und Santa Fe, Raum 5.5. Ja, nur ein Kurs, aber ich muss ja der akademischen Welt auch nichts mehr beweisen, ich habe schließlich schon ein abgeschlossenes Hochschulstudium.

Wenn man aus dem Fahrstuhl steigt, ist das Erste, das man sieht, ein Plakat: Andrew Grove, der Mitbegründer von Intel, spricht sein weltberühmtes (und mir bisher selbstverständlich unbekanntes) Zitat:

Sólo el paranoico sobrevive. – Nur der Paranoide überlebt.

In solch einem intellektuellen Zirkel braucht jemand wie ich nur wenige Augenblicke, um sich heimisch und endlich auch mal verstanden zu fühlen. Ja, in der Pause reden wir Jungs natürlich über Fußball. Aber das ist doch nur ein kurzes Dahingleiten vor dem nächsten Höhenflug des Geistes. Ich bin guter Dinge, dass das alles auch meinem Œuvre dienen und das Niveau dieses Blogs heben wird.

Gestern Abend gegen halb neun habe ich gleich mal den Professor ordentlich hängen lassen.

»Habt ihr das verstanden? Nein? Okay, versuchen wir es mit einem Beispiel. Ich frage, ach, ich frage unseren deutschen Freund. Christoph, trinkst du nur Bier oder auch mal Mate?«

»Aber hallo!«

»Nenn mir doch mal drei Hersteller von Yerba-Kraut.«

»Taragüi

»Eins.«

»Äh, also Taragüi. Dann gibt es noch CBirgendwas …«

»Das ist eine Bank.«

»Ähm, ich meine, so eine rote Tüte.«

»Danke, Christoph. Nehmen wir ein anderes Beispiel, und ich frage mal Jorge.«

(Fortsetzung folgt)

  1. der dem Klischee entspricht []

Unvorzeige-Eltern

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, 5. März 2014: wieder eine Elternversammlung traditionell verpasst. Unentschuldigt, klar doch. In meiner Schulzeit hat sich meine stets anwesende Mutter ja über jede abwesende Mutter einzeln aufgeregt. Tagelang.

Aber man muss doch solche Sachen auch nicht aufs Spiel von Boca legen. Der River-Fan Jorge, Vater von Sohnemanns bestem Freund, war natürlich da, mit seiner Frau. Aber der Kerl trinkt keinen Mate und mag Asado nicht, hat ja nicht mal einen Grill auf seiner Terrasse, ist also Argentinier nur auf dem Papier. Um 20.14 Uhr, eine Stunde nach Anpfiff des Elternabends, bei Boca gegen Olimpo waren gerade zwölf Minuten gespielt, schrieb er eine SMS: »Wir warten mit der Klassenlehrerin auf Dich. Wann kommst Du?«

»Machst Du Witze?«

Argentinischer Grill

Meine einzige Elternversammlung war Ende 2008 im Kindergarten des Sohnes in Odessa, Ukraine – und ich verstand kein Wort. Seitdem: nichts mehr. Bei keinem der drei Kinder.

Die Frau behauptet, sie habe 2012 in Berlin an was teilgenommen.

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)