Archiv für 2015

Die Komödie vom Zombie und der Bayernsau

von CHRISTOPH WESEMANN

Buenos Aires, 17 Uhr. Eine deutsche Familie in Argentinien. Ein Vater. Die Mutter auf Dienstreise. Der Große (9) und die Mittlere (6) sind gerade mit dem Schulbus angekommen.

VATER. Gracias. ¡Hasta mañana!

BUSFAHRER. ¡Hasta mañana! (fährt ab)

VATER. Wie war die Schule, Leute?

TOCHTER. Gut.

SOHN. Gut.

VATER. Gut.

SOHN. Morgen ziehe ich ein Fußballtrikot an.

Quilmes

VATER. Das weiße von Quilmes? Das schönste Trikot der Welt? Cool. Wir sind die Mannschaft der Stunde, weißt du ja. Fünf Siege in den letzten fünf Spielen. Fünf! Hat vorher noch kein neuer Trainer von Quilmes geschafft. Facundo Sava ist ein verdammtes Genie, sag ich dir. Die halbe Saison lang verlieren wir fast jedes Spiel, dann kommt er, und plötzlich gewinnen wir. Und pass auf, es sind noch neun Spiele, alles ist möglich. San Lorenzo und Boca holen wir nicht mehr ein, aber  …

SOHN. … Papa …

VATER. … bis zu den Hurensöhnen von River Plate sind es nur neun Punkte. Platz fünf wäre Wahnsinn. Am Sonnabend …

SOHN. … Papa …

VATER. … reißen wir erst mal Temperley den Arsch auf. Und wir sind natürlich dabei. ¡Vamos a la cancha!

quilmes 2

> Choripán-Stand vor dem Stadion des Quilmes Atlético Club

SOHN. Paaaaaaapaaaaaa!

VATER. Was?

SOHN. Ich ziehe mein Bayerntrikot an.

VATER. Du ziehst schön deine Schuluniform an, mein Freund! Wie sich das gehört in Argentinien.

SOHN. Aber ich darf. Wir reden in der Schule gerade über die Zukunft. Was in 20 Jahren ist. Was wir dann machen. Meine Lehrerin sagt, wir sollen morgen aussehen wie die Person, die wir in 20 Jahren sein wollen.

VATER. Und 2035 bist du …

SOHN. … Fußballprofi.

VATER. Bei Bayern.

SOHN. Ja. Im Sturm.

VATER. (murmelt) Ich habe versagt. In der Erziehung. Komplett versagt.

SOHN. Ich kann auch als Zombie gehen.

VATER. Besser. Viel besser.

SOHN. Dann musst du mir beim Verkleiden und Schminken helfen.

VATER. Ich bin allein mit euch dreien, schon vergessen?

SOHN. Nein.

VATER. Ich werde einen Teufel tun. Du gehst als Bayernsau und basta.

Quilmes 3

> Mit der Quilmes-Legende Rodrigo el Chapu Braña

TOCHTER. (aufgeregt) Papi, ich spiele für Quilmes, wenn ich groß bin. Wirklich. Ich will aber ins Tor.

VATER. (leise) Auch das noch.

TOCHTER. Wie bitte?

VATER. Danke, mein Schatz, du machst mich gerade ganz glücklich.

Der Vater fängt leise an zu weinen.

VORHANG.

Señor Schnauzbart und die Höhle: Geldtauschen ins Blaue hinein

von DIRK RÜGER

Der Autor hat von 1996 bis 1998 in Argentinien studiert und gearbeitet, das Land jüngst zum ersten Mal wieder besucht und von dieser Erfahrung  für das Argentinische Tagebuch berichtet: ¡Estás igual, Buenos Aires! – Back To The Future auf Argentinisch.
Er lebt in Berlin und betrieb bis vor kurzem das Blog www.entre-vista.de.

♦♦♦♦♦

»Wer ist das denn, mit dem du dich da triffst?«

»Den kenn ich aus dem Internet.«

»????«

»Nein, keine Angst! Wir kennen uns schon länger. Er hat so’n Blog über Argentinien, und wir folgen uns gegenseitig bei Twitter …«

»????!!!!«

Ok, vielleicht nicht die beste Art, deine Frau zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen machen soll, wenn du dich mit eurem ganzen Reisebudget einem Typen anvertraust, den du noch nie im Leben persönlich getroffen hast. Aber rückblickend ist ja alles gut gegangen, und mein Bauchgefühl hat sich als richtig herausgestellt.

Das Innenministerium in Buenos Aires Foto: Dirk Rüger

> Das Innenministerium Foto: Dirk Rüger

Meine Frau und ich hatten uns vorher informiert über den Euro-Wechselkurs in Argentinien: Da es für Argentinier nahezu unmöglich ist, Pesos in Dollar (oder Euro) zu tauschen, und man dementsprechend nicht an die stabile ausländische Währung herankommt, hat sich ein »inoffizieller« (um nicht zu sagen: illegaler) Parallel-Umtausch-Markt entwickelt,  der sogennante »Blue Dollar« und sein kleiner Bruder, der »Blue Euro«. Die sind zwar, wie gesagt, offiziell verboten, aber selbst in den Tageszeitungen kann man sich über die beiden Tages-Kurse (Offizieller Umtausch vs. Blue Dollar) informieren. Entsprechend geben sich die blauen Wechsler in der Fußgängerzone »La Florida« im City-Center von Buenos Aires auch unverhohlen zu erkennen und sprechen alle, die so aussehen, als ob sie sich nur aus diesem einen bestimmten Grund in der Gegend aufhielten, darauf an: »¿Cambio?, ¿cambio?« (Wechseln? Wechseln?).

Die Fußgängerzone der Hauptstadt: Calle Florida

> Die Fußgängerzone: Calle Florida

> Ein Schuhputzer in der Calle Florida

> Arbeiten in der Florida: der Schuhputzer, ein südamerikanischer Beruf

Allerdings hatte ich auch gehört, dass es dort auf der Straße erstens oft nicht allzu wahrscheinlich ist, dass man den allerbesten inoffiziellen Kurs bekommt, und es zweitens natürlich so eine Sache ist, wenn man Leuten in eine Wechsel-»Höhle« (so der offizielle inoffizielle Name dieser Art Wechsel-Stube: »cueva«) folgt. Denn: Wenn jemand eh etwas Illegales am Laufen hat, was hindert ihn daran, weitere illegale Aktionen zu unternehmen, wie zum Beispiel dir das gerade getauschte Geld auf dem Rückweg wieder abzunehmen? Mit dem Vorteil, dass er sogar genau weiß, wie viel Bargeld du dabei hast und ob es sich entsprechend lohnt. Wen sollst du denn zu Hilfe rufen?

Frau Polizistin, dieser Señor hat mir gerade mein soeben unerlaubterweise getauschtes Geld wieder unerlaubterweise abgenommen!

Da aber das Ausgehen in Buenos Aires manchmal sogar teurer ist als in Berlin, hatten wir uns trotzdem entschieden, Bargeld mitzunehmen, um unser Reise-Budget etwas blau zu färben, will sagen, durch den Blue-Euro zu vergrößern.

Um auf Nummer Sicher zu gehen und uns nicht gleich am ersten Tag in die Wechsel-Höhle des Löwen begeben zu müssen, hatten wir eine, auch vom argentinischen Staat erlaubte Zwischen-Lösung gefunden: den Online-Geldtransfer »Azimo«. Auf diese Weise kann man an sich selbst Geld vom eigenen Konto überweisen, zu einem Kurs irgendwo zwischen »offiziell« und »blue«, und muss dann »nur noch« bei einem ausgewiesenen Büro (Info gibts auf der Website) unter Vorlage des Reisepasses und einer Referenznummer das argentinische Geld abholen.

»In Echt« war das dann aber etwas aufwendiger (weil bürokratischer) als gedacht. Ich hatte vergessen, dass die argentinische Bürokratie bisweilen der deutschen (also kafkaesken) nicht ganz unähnlich ist. Entsprechend reichte die in der Email angegebene Ausweisung mit Pass und Referenznummer dann doch nicht aus, sondern ich musste außerdem ein zweiseitiges Formular ausfüllen, schriftlich versichern, dass das auszuzahlende Geld von einem »Sparkonto« stammt und obendrein eine Kopie des Reisepasses, inklusive Einreisestempel mit Visum abgegen. Plus einer halben Stunde Wartezeit.

Für das Nötigste (die ersten Tage) war nun gesorgt. Da wir jedoch noch Bus-Tickets für die Weiterreise kaufen wollten, benötigten wir so bald wie möglich mehr argentinische Pesos, denn per Online-Buchung hätte man die Fahrkarten ja wieder nur zum offiziellen Kurs bekommen. Zum Glück hatte mir mein Internet-Bekannter CW vorher versichert, dass, wenn wir beim Geld-Tauschen Hilfe brauchten, er uns aus der blauen Patsche helfen könne. Er kenne da vielleicht jemanden, der vielleicht auch jemanden kennt, und diese Person kenne dann wiederum … Argentinien halt.

Facebook-Nachricht an CW.: »Hast du morgen (Samstag) Zeit, mich beim Geldwechseln zu begleiten?«

Antwort von CW: »Tut mir Leid, aber morgen geht leider nicht. Und Sonntag haben die Cuevas ja zu. Also Montag.«

WAS?! Die illegalen Geld-Höhlen haben sonntags geschlossen? Das kann ja wohl nicht …

Facebook-Nachricht an CW: »Wie viel Uhr denn? Geht bei Dir vormittags? Wir müssen ja noch die Bus-Tickets kaufen. Je früher also, desto besser.«

Antwort von CW: »Ich muss erst über einen Freund die Nummer von Mauro besorgen und den dann fragen, wann die aufmachen. Vormittag ist grundsätzlich ok.«

Kurz darauf, noch mal CW: »Ok, um 11 in der Calle Soundso, Hausnummer 1000irgendwas! Wir treffen uns vor dem Haus auf der Straße, ok? Du wirst mich leicht erkennen, ich bin der, der am argentinischsten von allen aussieht!«

Facebook-Nachricht an CW: »Super! Dann bis Montag!«

Erinnert ihr euch an das Gespräch vom Anfang dieses Artikels? Ich kannte CW wirklich nur aus dem Internet. Aber wir hatten schließlich auch mehrere gemeinsame Themen: das argentinische Exil (er jetzt, ich vor 17 Jahren), das Bloggen, den Journalismus. Und ich hatte ihn vorher um seine Einschätzung gebeten, was die Kriminalität und aktuelle soziale und politische Situation in Argentinien angeht, woraufhin er mir ausführlich geantwortet hatte. Kurzum: CW erschien mir überaus sympathisch und vertrauenswürdig. Was sollte also passieren?

Am Montagmorgen packe ich unser gesamtes Euro-Bargeld für zwei Wochen in das »geheime« Reißverschluss-Fach meines Ledergürtels und nehme den Linien-Bus Nummer 24 von Paternal in den Nachbarbezirk nach Caballito. Ich steige kurz hinter der Statue des »Cid Campeador« aus, laufe die Hauptstraße weiter und biege in die von CW benannte Seitenstraße ein. Ich bin wider Erwarten pünktlich und warte besser nicht direkt vor der richtigen Hausnummer, sondern zwei Häuser weiter.

Nur fünf Minuten später (also eigentlich noch hora alemana, deutsche Pünktlichkeit) spricht mich ein bärtiger Brillenträger aus einem Auto heraus an: »Dirk? Ich such nur kurz ‘nen Platz zum Parken, ok?« Den findet CW auch gleich gegenüber und erklärt mir, nach unserer ersten Begrüßung, wie das Ganze abzulaufen hat.

Wir klingeln, und sobald jemand über die Gegensprechanlage fragt, was wir wollen, sagen wir, dass Mauro uns erwartet. Bloß nicht sagen, warum wir eigentlich hier sind, ok?

Gesagt getan. Als daraufhin der Summer ertönt und uns die Tür öffnet, will ich sofort durchmarschieren. Aber CW hält mich erschrocken zurück: »Nein, Boludo1. Wir warten erst, bis jemand kommt, und dann klären wir, ob wir beide hoch dürfen oder du alleine gehst, ok?« Als aber nach fünf Minuten immer noch niemand gekommen ist, trauen wir uns schließlich doch, bis in den zweiten Stock zu gehen und an die Tür zu klopfen. Schließlich öffnet uns ein schnurrbärtiger älterer Herr, den zwar auch CW nicht kennt, der uns aber in einer Art Wartezimmer eintreten lässt, in dem schon andere Leute sitzen. Wir nehmen ebenfalls Platz, und CW erklärt mir die weiteren Schritte.

Alsbald kommt der Schnurrbärtige zurück und fragt mich nach Währung und Betrag, die ich tauschen will, teilt uns den Tageskurs mit, wartet auf unser Einverständnis und verschwindet wieder. Ein paar Minuten später taucht er wieder auf und drückt mir so etwas wie einen Kassenbon in die Hand, auf dem der Wechselkurs und die zu erwartende Summe in Pesos Argentinos stehen.

Etwas später geht die Tür zu einem anderen Büro auf, aus dem heraus mich jemand hereinwinkt. Dies stellt sich jedoch als Missverständnis heraus, und ich werde überaus unwirsch wieder in den Wartebereich dirigiert. Etwas erschrocken falle ich zurück auf meinen Stuhl.

Endlich taucht Señor Bigote2 abermals auf, und ich folge ihm in ein Zimmer, in dem er mir gegenüber hinter einem großen Tisch Platz nimmt. Vor ihm ein Packen argentinischer Geldscheine und ein Geld-Zähl-Automat. Ich schnalle etwas umständlich meinen Gürtel ab, um die Euro-Scheine aus dem Geheimfach zu befreien. Er zählt nach, bestätigt mir per Kopfnicken sein OK und legt das argentinische Equivalent in die Zähl-Maschine. Auf Knopfdruck raschelt das Geld hindurch, aber die im Display angezeigte Zahl entspricht nicht unser beider Erwartung. Sein Versuch, die Einstellung zu ändern, bringt keine Veränderung! Schließlich ruft er einen Kippa-tragenden Kollegen, mit mehr Ahnung, der es schafft, von Dollar auf Pesos umzustellen. Jetzt ist das Ergebnis ok.

Bigote nimmt das argentinische Geld aus dem Automaten und hält es mir hin. Ich gucke wohl etwas verzweifelt auf meinen Gürtel. Der größte existierende Peso-Schein ist die 100er-Note, was nur etwa zehn Euro entspricht, und das Bündel ist entsprechend voluminös. »Das kannst du gleich vergessen!«, lacht der Schnauzbart und gibt mir stattdessen das Gummiband, das schon am Anfang unseres Unterfangens die Scheine zusammengehalten hatte. Mit einem resignativen Seufzen stecke ich den Klumpen Guita (Slang für »Geld«) in die Tasche und habe ein etwas ungutes Gefühl bei der Vorstellung, im öffentlichen Bus und später zu Fuß durch die Seitenstraßen nach Hause zu müssen. Das Geld nachzuzählen traue ich mich natürlich auch nicht! Stattdessen bedanke und verabschiede ich mich und verlasse das Büro.

Als CW mich sieht, springt er sofort auf, und zusammen begeben wir uns Richtung Treppenhaus. Leider hat Bigote jedoch vergessen, den Tür-Öffner für die Haustür zu betätigen, so dass CW ein paar Fitnessübungen vor der Überwachungskamera machen muss (»Bloß nicht klopfen! Das gibt nur Stress!«), bis sich schließlich jemand erbarmt und uns in die Mittagssonne entlässt. Was für ein Abenteuer!

Ab nach Hause Foto: Dirk Rüger

> Ab nach Hause Foto: Dirk Rüger

Zum Glück bleibt mir die Heimfahrt mit den Öffis erspart, da CW mich netterweise zurück in den Stadtteil Paternal chauffiert. Als ich ihn aus Dankbarkeit in die Wohnung meiner Freundin EA hereinbitte, begrüßt uns diese zunächst wenig begeistert: »Woher kanntest du den Typen noch mal? Ist’n Freund von dir, oder?«

»Ja, genau! Aus dem Internet!«

PS: Meine anschließende Kontrolle des umgetauschten Betrages ergab übrigens eine 100%ige Übereinstimmung mit der auf dem Kassenbon von Señor Schnauzbart vermerkten Anzahl Pesos Argentinos.

  1. argentinisch für Depp oder Schwachkopf, eine liebgemeinte Anrede unter Freunden []
  2. Schnauzbart []

Aus dem Leben eines Chauffeurs

von CHRISTOPH WESEMANN

Die Frau ist wieder verdienstreist, also passiert heute etwas, weil ja immer etwas passiert, wenn die Frau verdienstreist ist. Sicherheitshalber und ausnahmsweise schaue ich mal ins Mitteilungsheft der Dreidreivierteljährigen. Sag ich doch: 9 Uhr, Elternversammlung im Kindergarten. Alles gut. ¡Tranquilo!1 Ja, der Tag wird hart, das schon, viele Fahrten quer durch die Stadt, ich rechne mit 40 Kilometern. Aber ich werde schweben, ich kann gar nicht anders, schließlich hat Argentinien am Abend das Halbfinale der Copa América mit 6:1 gegen Paraguay gewonnen. Außerdem verpasst die Frau ja oft auch dolle Dinger. Vor einer Woche zum Beispiel hat unser Sohn, wie das Brauch ist für Viertklässler hier zu Lande, in seiner Schule geschworen, »die argentinische Fahne zu achten, verteidigen und zu lieben«. Ich hatte Tränen in den Augen.

Die Südamerikameisterschaft ist gleich das Gesprächsthema all der Väter auf diesen winzigen Stühlen. Am Sonnabend kommt es zum Endspiel gegen Chile. Argentinier mögen Chilenen nicht, und Chilenen mögen Argentinier nicht. Diese zwei Nachbarn haben sich zu oft gestritten im 20. Jahrhundert, 1978 standen sie wegen irgendwelcher Inseln sogar kurz vor einem Krieg. Nun ja, ein Ausländer hält sich, wenn er klug ist, aus diesem quilombo2 komplett heraus. Unser aber sagt zweimal »Hurensöhne« und einmal »verdammte Scheißhurensöhne« – zum Glück klingt ja derlei auf Spanisch viel harmloser.

Der Blick der Erzieherin sieht das anders.

10.15 Uhr. Wieder zu Hause. Mate trinken. Zeitung lesen. Noch einmal die Tore vom 6:1 gucken. Und noch mal. Danach noch dreimal.

12 Uhr. Mittwochs endet der Unterricht nicht um 16 Uhr, sondern schon vier Stunden früher, und ich habe zugesagt, nicht nur meine Sechsjährige zur Geburtstagsfeier einer Mitschülerin zu fahren, sondern auch noch drei Freunde aus ihrer Klasse mitzunehmen. Ich stelle jetzt fest: Das war leichtsinnig. Aber es gibt kein Zurück mehr, zumal ich gestern vor den hübschen Müttern der drei Schreihälse auf Superheld gemacht habe: Ach was, gar kein Problem, das schaff ich locker.

Was Lautstärke und Selbstbewusstsein betrifft, entspricht ein argentinisches Kind übrigens zwölf bis 15 deutschen Kindern.

Auto 4

12.30 Uhr. Rrrrrrrrrrrrrraus mit euch!

Zurück zur Schule. Fünf Kilometer. Das müsste in einer halben Stunde zu schaffen sein – wenn ich zügig fahre.

Auto 1

Auto 2

13 Uhr. Das Fußballtraining des Neunjährigen ist gerade zu Ende gegangen, ich plaudere noch kurz mit Tomás, seinem Trainer. Wir sind uns nicht immer einig. Zum Beispiel sehe ich meinen Sohn eher zentral, in der Rolle des Spielgestalters, ausgestattet mit allen Freiheiten; sein Trainer findet, er sei für die Mannschaft als Beinesteller in der Abwehr wertvoller. Was allerdings die Chilenen angeht, sind wir hundertprozentig einer Meinung. Tomás urteilt nur nicht so sanft wie ich.

Auto 3

Hör mal, mein Sohn, wenn wir zu Hause sind, könnten wir vielleicht noch mal die Tore von gestern gucken. Was meinste? Und dann muss ich schon wieder los, um deine Schwester vom Kindergeburtstag abzu … warte mal, da winkt einer. Das ist doch der Dings, äh, der, wie?, ja, genau der, jetzt erkenn ich ihn auch: Ignacio, der chino. Der war heute in deiner Mannschaft, ne? Och, reg dich nicht gleich wieder auf, ich weiß, dass seine Eltern Taiwaner sind, nein, sie sind keine Taiwaner, sondern Argentinier, sie kommen nur aus Taiwan, Du hast Recht. Aber in Argentinien sind alle Asiaten Chinesen, weißt du doch.

Radio aus. Warnblinker an. Scheibe runter. Hola, ¿cómo andan? ¿Todo bien? Me alegro.3 Die beiden wollen bestimmt ein Stück mitgenommen werden. Oder? Nein, ja, vielleicht, im Prinzip schon, aber die Sache ist … Leute, ich stehe mitten auf der Straße, und das fühlt sich sehr chilenisch an. Der Typ im Rückspiegel ist schon rot angelaufen und steigt in spätestens 20 Sekunden aus. Immerhin wird er dann seine Hupe loslassen müssen. Was denn nun? Klartext, por favor. Und du pelotudo4 da, hör auf, mich zu beschimpfen, la puta que te parió5.

Bueno, die Mutter hat einen Arzttermin. Ignacio kann also gern mit zu uns kommen, für ein paar Stunden. Aber wenn es heute nicht passt, dann ein andermal, ich muss es nur sagen. Ach was, gar kein Problem. Ignacio sitzt ja ohnehin schon angeschnallt auf der Rückbank. Ich bin übrigens allein mit meinen drei Kindern!

Auto 5

15 Uhr. Die Route bislang: Wohnung → Kindergarten → Wohnung → Schule → Kindergeburtstag → Schule → Wohnung → Kindergeburtstag. Die harten Etappen sind damit überstanden. Jetzt rollen wir langsam aus: → Wohnung → Kindergarten → Wohnung. Zwischendurch wird hoffentlich der Chinese abgeholt, und wenn alle baden, bereite ich das Abendessen zu. Serviert wird die Spezialität des Hauses: Chicken Nuggets an Ketchup und Mayonnaise.

Hoppla, Facundo will mitfahren, er wird bei uns übernachten. Nein, das glaube ich nicht. Die Sechsjährige schwört aber, dass sie mir das gesagt habe. Wirklichwirklichwirklich.

Wann?

Vorhin.

Geht’s genauer, corazón6?

Im Auto.

Ach so, als die zwei Schulklassen aus Wuppertal auf meiner Rückbank saßen.

Wuppertal? Kennt sie nicht.

Ich meine: Als ihr so herrlich schräg gesungen habt, da irgendwann hast du‘s mir gesagt, ja?

Ja. Wirklich, Papi.

Mein Schatz, das war ein sehr günstiger Augenblick, um Papa eine solch wichtige Nachricht zu überbringen. Sind wir startklar? Auf geht’s! Nächster Halt: Wohnung.

Später am Abend, es ist schon tiefe Nacht in Buenos Aires: Vier Kinder sind eingeschlafen, man hört zwei von ihnen schnarchen. Ein gebückter Mann, schwer atmend, tritt vor den großen Spiegel im Bad, er macht sich unmerklich gerade und beginnt zu lächeln. So verharrt er minutenlang. Es sieht aus, als bewundere er sich selbst, aber nein, das bilden wir uns sicher nur ein.

  1. Ruhig! []
  2. Slang für Chaos, Durcheinander []
  3. typische Begrüßung in Argentinien: Hallo, wie geht’s euch? Alles gut? Freut mich. []
  4. Blödmann []
  5. argentinischer Fluch, wörtlich übersetzt: Die Hure, die dich geboren hat []
  6. Herz, beliebte Anrede für Kinder und andere geliebte Menschen []

Wir sind unzähmbare Argentinier: das Lied „Somos de acá“

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Freund Pablo sagt, ich soll dieses Lied, das fünf Gänsehäute übereinander schichtet, so erklären: »Uns Argentiniern ist alles komplett egal. Außer Fußball und Religion. Aber die Religion auch erst, seit Jorge Bergoglio Papst ist.«

Somos de acá 2

Somos de acá 3

Somos de acá 4

Somos de acá 5

Es ist eine viereinhalbminütige Reise durch Argentinien, auf die uns die Rockgruppe Yeims Bondi mitnimmt. Wir hören eine grandiose Liebeserklärung an Land und Leute, großkotzig bis narzisstisch, zugleich aber schwer selbstironisch, weil Argentinien und Argentiniern ja auch allerlei misslungen ist über die Zeit und allerlei weiter misslingen wird. Große Ereignisse, hübsche Menschen, viele Idole, nicht weniger boludos1 und ein paar richtige Verbrecher werden uns im offiziellen Video begegnen. Genau hingucken, bitte!

Anschnallen, señoras y señores: »Somos de acá« (Wir sind von hier) von Yeims Bondi:

Am Ende klingt dann noch all die Widersprüchlichkeit an, die manches zur Faszination Argentiniens beiträgt. Man ist einerseits sehr patriotisch, kann sich aber auch entsetzlich aufregen über sein Land. Schuld sind natürlich immer die anderen. Diebe und Gauner aller Art, die keine Grenzen kennen, haben dieses wunderbare Land heruntergewirtschaftet, ganz klar. Man selbst schmeißt seinen Müll natürlich auf die Straße und geht bei Rot über die Ampel, hält sich auch sonst an kein Gebot und wählt grundsätzlich den, der das Meiste verspricht.

Argentinien, heißt es im Lied, ist die Titanic, die so oft untergegangen ist und auf einmal wieder auftaucht, außerdem ein Witz, den man nicht ganz versteht, über den man aber trotzdem lacht. Weil man sonst weinen würde.

Ich habe den Text des Liedes übersetzt. Kritik, Hinweise und Vorschläge − her damit!

 
Somos de acá Wir sind von hier
Somos una charla
en el café de cada esquina.
Somos ese mate
compartido en la cocina.
Somos cantautores
en la ducha, en la cancha
y en el bar.
Somos de acá.
Wir sind ein Gespräch
im Café an jeder Straßenecke
Wir sind dieser Mate,
der in der Küche geteilt wird.
Wir sind Liedermacher
unter der Dusche, im Stadion
und in der Bar.
Wir sind von hier.
Somos el país
de las 13 maravillas.

Somos ese country
justo al lado de la villa.

Somos una infancia
de pelota y figuritas
y algo más.

Somos de acá.
Wir sind das Land
der 13 Wunderwerke.

Wir sind die Luxussiedlung
genau neben dem Elendsviertel.

Wir sind eine Fußball-und-
Sammelbilder-Kindheit
und noch mehr.

Wir sind von hier.
Si nos visitas
te enamorarás
de nuestro chamuyo
industria nacional.

Y si sos varón,
andá con precaución:
las minas de acá
explotan de verdad.
Wenn du uns besuchst,
wirst du dich verlieben
in unser Gelaber
made in Argentina.

Und wenn du ein Junge bist,
sei immer schön vorsichtig:
Unsere Bomben2
explodieren wirklich.
Si naciste acá
y cruzaste el mar
como en aquel tango
siempre volverás.
Y yo que en mi piel
llevo tu piel porque aprendía crecer acá
ya no me voy más.

Yo soy de acá.
Wenn du hier geboren
und dann ausgewandert bist,
wirst du wie in diesem Tango
immer zurückkommen.
Und ich, der auf meiner Haut
deine Haut trägt, weil ich weiß,
hier klarzukommen,
Ich werde nicht wieder abhauen.

Ich bin von hier.
Somos un buen polvo
y el asado con amigos.

Si la vida miente
le cantamos falta envido.

Y si el río se llevó la plata,
nos vamos a cartonear

A orillas del mar.
Wir sind ein guter Fick
und das Grillen mit Freunden.

Wenn das Leben lügt,
singen wir ihm falta envido.

Und wenn der Fluss das Geld weggespült hat,
ziehen wir los zum Müllsammeln an den Stränden des Meeres.
Somos de acá,
somos de acá.

Somos argentinos
sin domesticar.

Somos la soberbia,
y la chispa genial,

la bandera desteñida
de los locos sin atar.
Wir sind von hier.
Wir sind von hier.

Wir sind Argentinier,
nicht zu zähmen.

Wir sind der Hochmut
und der geniale Mutterwitz,

die ausgeblichene Fahne
der absolut Bekloppten.

 

 

 

Villa 31, eines der großen Elendsviertel der Hauptstadt

> Argentinisch: das Elendsviertel (hier Villa 31) in bester Lage

Eine Leidenschaft argentinischer Kinder: figuritas, die Sammelbilder.

>Eine Leidenschaft der Kinder: las figuritas, die Sammelbilder

Y le damos palos
a la argentinidad,
pero la regamos
del campo a la ciudad.
Todas las gargantas con
arena de este mar
se encontrarán
en la popular.
Und wir regen uns furchtbar
auf übers Argentinische,

düngen es es aber
überall und jederzeit.

Alle Stimmen, die zu
Argentinien gehören,
versammeln sich
auf den Stehplätzen.
Somos argentinos,
luchando contra molinos,

sangrando por un siglo,
malvendido,
mal parido,
por espejos de colores,
por payasos y traidores
que se toman todo el vino
pero nunca vacaciones
Wir sind Argentinier,
gegen Windmühlen kämpfend,

Blutend wegen eines verschleuderten,
weggeworfenen Jahrhunderts,
wegen der Illusionen,
der Clowns und Betrüger,
die sich all den Wein nehmen,
aber niemals Urlaub.
Somos todo lo que fuimos,
Lo que no pudimos ser:
El Titanic que se hundió tantas veces
y que de repente

vuelve a aparecer.
Como un chiste de argentinos,
que no lo entendí muy bien,
por si acaso igual yo me río,
para no llorar, también.
Wir sind alles, was wir waren,
das, was wir nicht sein konnten:
Die Titanic, die so oft unterging
und plötzlich dann wieder auftaucht;

wie ein Witz von Argentiniern,
den ich nicht recht verstand,
Über den ich vorsichtshalber
trotzdem gelacht hab,
um nicht zu weinen.
¿Sabés porqué?
Por la furia,
la emoción, el orgullo
y el dolor
de ser un argentino,
uno más, igual que vos
Weißt Du warum?
Wegen des Zorn,
des Gefühls, des Stolzes
und des Schmerzes,
ein Argentinier zu sein,
noch einer, genauso wie Du.
Somos de acá,
somos de acá.

Somos argentinos
sin domesticar.

Somos la soberbia,
y la chispa genial,

la bandera desteñida
de los locos sin atar.
Wir sind von hier,
wir sind von hier.
Wir sind Argentinier,
nicht zu zähmen,
Wir sind der Hochmut
und der geniale Mutterwitz,
die ausgeblichene Fahne
der absolut Bekloppten.
Somos de acá,
somos de acá.
Somos argentinos
sin domesticar
Somos una mezcla milagrosa
para bien y para mal
Somos de acá.
Wir sind von hier,
wir sind von hier.
Wir sind Argentinier,
nicht zu zähmen.
Eine wunderbare Mischung,
auf Gedeih und Verderb.
Wir sind von hier.

 

  1. Deppen []
  2. tolle Frauen []

Der Kampf um die Präsidentschaft: Zwei Wandelprediger gegen den Kirchnergänger

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober ist Argentinien seit Sonntag, 0 Uhr, schlauer. Punkt Mitternacht war vorerst Schluss mit Gerüchten und Geschäften: Parteien und Bündnisse präsentierten ihre Kandidaten, und das Land weiß nun, wer Präsident werden will. Es riecht nach einem Duell zwischen dem Peronisten Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, und dem nichtperonistischen Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri. Die beiden sind alte Freunde, obwohl sie politisch weit auseinander liegen: Scioli verspricht Kontinuität, Macri einen Wandel. Oder wird aus dem Zwei- ein Dreikampf, weil sich der junge Peronist Sergio Massa doch noch einmal erholt?

Das Argentinische Tagebuch beschäftigt sich in zwei Teilen mit dem Wahlkampf, stellt die wichtigsten Kandidaten vor und erklärt die Strategien. Der erste Teil widmete sich der Regierung. Im zweiten Teil geht es um die Opposition.

»Der Ingenieur möchte morgen mit Ihnen sprechen.« Die Stimme am Telefon gehörte Anita Moschini, Mauricio Macris langjähriger Sekretärin, und die Bitte galt Gabriela Michetti, der Senatorin, die seit einem Autounfall vor 21 Jahren im Rollstuhl sitzt. Der Ingenieur regiert seit fast acht Jahren die Hauptstadt. Landesweit bekannt geworden ist er als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors, der unter ihm die erfolgreichste Zeit seiner Geschichte erlebte. Titel um Titel sammelte der Verein mit den meisten Fans im Land zwischen 1995 und 2007. Nun will Macri Staatschef werden. Es fehlte nur noch: jemand an seiner Seite. Ein Vize.

Michetti

> Gabriela Michetti am Abend ihrer Niederlage bei der Wahl des PRO-Kandidaten für das Bürgermeisteramt von Buenos Aires

Der Vizepräsident ist eine zentrale Figur in der argentinischen Politik, mehr als ein Ersatzmann, der einspringt, wenn die Nummer eins ausfällt. Er leitet den Senat, hat also Zugriff auf einen Teil der Gesetzgebung, und ist obendrein unkündbar. Der richtige Kandidat für dieses Amt überzeugt Wähler, die vom Anführer nicht überzeugt sind, er beschafft Stimmen und überstrahlt Schwächen, indem er vielleicht dem Jungen seine Erfahrung schenkt oder dem Erfahrenen seine Jugend.

Von der fórmula spricht man hier zu Lande, wenn zwei Politiker gemeinsam in den Präsidentenpalast einziehen wollen. Eine Formel für die große Schlacht also, und der Hauptstadtbürgermeister hatte sie bis zu diesem Anruf gesucht. Monatelang. Sollte er einen Peronisten wählen, um nicht als Anti-Peronist dazustehen? Der Peronismus ist schließen noch immer die stärkste Kraft in Argentinien, eine breite Bewegung von links bis rechts, ideologisch flexibel, machtversessen und durchtrieben. Macri aber verspricht dem Land »cambio«, Wechsel, Wandel und Veränderung. Wer, bitte, soll das glauben mit einem Peronisten im zweitwichtigsten Amt der Republik? Dann also jemand aus den eigenen Reihen. Aber kein Ex-Peronist! Oder doch? Eine Frau! Nein, keine Frau. Dann eben ein pibe, ein junger Kerl. Den kennt aber keiner. Am Ende wäre es trotzdem fast ein pibe geworden: Marcos Peña, Jahrgang 1977, »das Gehirn der Regierung Macri«, Mitglied der mesa chica, des kleinen Tisches, wie der engste Kreis eines Politikers in Argentinien genannt wird. Auf kaum einen anderen Vertrauten hört der Bürgermeister mehr. Peña war der Favorit.

Doch dann wurde Daniel Scioli – mit dem Segen der Präsidentin Cristina Kirchner – alleiniger Präsidentschaftskandidat der Regierung. Und Macris Wahl fiel auf Gabriela Michetti, die Frau, die im Dezember 2014 die Kandidatur abgelehnt hatte. Sie wollte lieber Hauptstadtbürgermeisterin werden, verlor aber Monate später die interne Wahl – wohl auch, weil Macri ihren Rivalen Horacio Larreta unterstützt hatte. Schwamm drüber. Diesmal sagte sie zu. Aus Mauricio Macri–? wurde Mauricio Macri–Gabriela Michetti, die Präsidentschaftsformel.

PRO Flyer

Michetti ist ein bekanntes Gesicht der argentinischen Politik, und davon hat die liberal-konservative Partei PRO nicht sehr viele. Die Senatorin kann Stimmen weit außerhalb des angestammten Reviers Buenos Aires holen. Macris Berater wollen ermittelt haben, dass 70 Prozent der Befragten ein positives Bild von ihr haben. Und Emotionen bringt sie sowieso mit (bisweilen zu viele), auch dieses Talent kann wichtig werden. Denn der Kandidat soll polarisieren – und die Wahl ist auch deshalb auf Michetti gefallen, weil Macri mit ihr im Tandem den »größtmöglichen Kontrast zum Kirchnerismus« aufbieten kann.

Zur Erinnerung: Daniel Scioli erweckt hintenrum gern den Eindruck, er sei im Grunde kein Kirchnergänger, sondern ein unabhängiger Peronist, der Reformen wolle. Nun aber tritt er mit einem Vize an, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert zum Stamme der Kirchners gehört. Obendrein schickt die Präsidentin noch eine ganze Armada ihrer Aufpasser – allen voran Sohnemann Máximo – ins Parlament. Scioli wirkt gefesselt und taugt deshalb kaum als Hoffnungsträger jener Argentinier, die Neues wollen.

Daniel Scioli und Cristina Kirchner beim Festakt zum Tag der Fahne (20. Juni) in Rosario Foto: Casa Rosada

> Daniel Scioli und Cristina Kirchner beim Festakt zum Tag der Fahne (20. Juni) in Rosario Foto: Casa Rosada

Dieses Bild – der Kandidat als Marionette der abtretenden Cristina Kirchner – werden Macri und seine Leute zeichnen. Wer den Kirchnerismus von der Macht vertreiben wolle, so das Kalkül, darf nicht Scioli wählen. (Der wiederum wirft Macri vor, er wolle Argentinien in die neoliberalen neunziger Jahre zurückführen, er werde den Staat schwächen und die großen Unternehmen stärken. Privat verstehen sich die beiden Politiker übrigens ausgezeichnet.)

Zwischen Scioli und Macri steht Sergio Massa, ein Peronist, der sich vom Kirchnerismus abgewandt hat. Cristina Kirchners früherer Kabinettschef (23. Juli 2008 bis 7. Juli 2009) schien lange Zeit ein aussichtsreicher Anwärter auf das Präsidentenamt zu sein. Mittlerweile ist er eher Außenseiter, zumal Macri geschafft hat, was auch Massa angestrebt hatte: eine Allianz mit den Radikalen. Die UCR, eine stolze, aber ziemlich heruntergekommene Volkspartei, stellt Macri – neben ihrer Wählerschaft – einen Teil der Infrastruktur: spendenwillige und einflussreiche Unternehmer, Meinungsmacher, Wahlbeobachter, Stimmenauszähler, Kampagnenfachleute und vor allem tausende Freiwillige. In Argentinien wird ja nicht ankreuzt, sondern eingetütet: Man steckt einen der Scheine, die die Parteileute im Wahllokal ausgelegt haben, in einen Umschlag. Es kommt aber durchaus vor, und nicht unbedingt selten, dass diese Scheine verschwinden – besonders dann, wenn die Partei nicht genug Leute hat, die Wache stehen.

Ein Wahllkokal bei den Parlamentswahlen 2013 in Buenos Aires

> Ein Wahlkokal in Buenos Aires bei den Parlamentsvorwahlen 2013

Im Vergleich mit Scioli und Massa ist Macri der Kandidat, der sich am stärksten von der traditionellen Art des Herrschens gelöst hat. Seine Rivalen setzen auf das, was man in Argentinien kennt: große Aufmärsche und das Füllen von Fußballstadien als Machtbeweis, starke Gefolgschaft und schwache Strukturen. Die Loyalität der Unterstützer gehört nicht der Partei, sondern dem Anführer, und der schlüpft in die Rolle eines Familienoberhaupts und verspricht, sich um das Wesentliche zu kümmern. Parteien existieren zwar reichlich – 800, schätzt man –, in vielen Fällen sind sie jedoch kaum mehr als Attrappen und einzig dazu da, dem Anführer Gesellschaft zu leisten. Ein großes Stammwählerpotenzial (25 Prozent)1 hat ohnehin nur noch der Peronismus.

Argentiniens Politik ist voller dunkler, nicht selten schmutziger Geheimnisse. Man kauft ein, was man braucht, Bürgermeister, einflussreiche Politiker, Meinungsführer und Stimmungsmacher aller Art, mitunter ganz direkt, oft aber mit Versprechen für die Zeit nach dem Triumph oder hübschen Umfragen. »Unsere Politiker sind keine Idioten«, sagt ein Berater, der das Geschäft kennt. »Wenn ein Kandidat tolle Werte hat, wollen viele andere von seinem Teller mitessen.«

Es heißt, Macri betreibe solche Spielchen nicht. Seine Berater achten angeblich sehr darauf, dass der Wandel, den der Kandidat verspricht, in der eigenen politischen Kultur sichtbar wird. Man hat in den vergangenen Jahren versucht, PRO zu entwickeln, die Partei, die Macri selbst gegründet hat. Auch weit draußen im Hinterland sind Verbände entstanden, das Spitzenpersonal wurde kommunikativ und organisatorisch geschult, ja sogar inhaltlich. Viele Peronisten finden so etwas nach wie vor lächerlich: Politische Ideen? Programmarbeit? Führen lernen? Damit hält man sich doch nicht auf!

Allerdings: Mitunter verschwimmt auch bei Macris Politikstil die Trennung zwischen Partei und Stadtregierung. Und die Aufstellung der PRO-Kandidaten für die Parlamente verlief genauso intransparent, wie man das gewohnt ist am Río de la Plata: Wer nominiert wird, entscheidet durchweg die mesa chica, der kleine Kreis. Machtverzicht durch innerparteiliche Wahlen hat auch Macri nicht gewagt. Wenn man sich bei Beratern am späten Sonnabendnachmittag – ein paar Stunden vor dem Schließen der Listen – erkundigte, ob der Chef einen aussichtsreichen Platz ergattert habe, kam die Antwort: »Es sieht gut aus. Aber bis 23.59 Uhr kann noch viel passieren.«

 

 

Sergio Massa (l.) mit seinem Vizekandidaten Gustavo Sáenz

> Sergio Massa (l.) mit seinem Vize Gustavo Sáenz        Foto: Massa

Sergio Massa indes hat auf den Aufbau von Strukturen verzichtet. Er begnügte sich damit, eine Partei zu gründen, die Erneuerungsfront (Frente Renovador), ein Sammelbecken von der Präsidentin enttäuschter Peronisten, und dann Stimmenbeschaffer anzuwerben. Vor allem Bürgermeister aus der Provinz Buenos Aires verließen vor den Parlamentswahlen 2013 den Kirchnerismus und wechselten zum jungen Peronisten. Der triumphierte aus dem Nichts – weil er ein Thema gefunden hatte, das das Land bewegte: Mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament hätte der Kirchnerismus die Amtszeitbegrenzung für argentinische Präsidenten (acht Jahre) aus der Verfassung streichen und Cristina Kirchner zur Wiederwahl verhelfen können. Auch dank Massa kam es nicht dazu.

Seitdem ist es ihm jedoch nicht gelungen, in den Köpfen der Leute ein neues Thema zu verankern. Er hat es mit besserer Bildung und dem Kampf gegen Kriminalität versucht, zwei großen Sorgen der Gesellschaft. Nun verspricht er einen »gerechten Wandel« (»Cambio Justo«) – aber die Aussicht auf Veränderungen verbinden die Argentinier zuallererst mit Macri.

Massa ist in den Umfragen so sehr abgestürzt, dass zwischendurch vermutet wurde, er werde seine Kandidatur absagen. Er tat es nicht, aber eine ganze Reihe jener Bürgermeister, die sich ihm einst angeschlossen hatten, hat ihn wieder verlassen und ist zum Kirchnerismus zurückgekehrt. Die meisten fürchteten, in den Strudel zu geraten und die eigene Wiederwahl nicht zu schaffen. Das ist der Nachteil des Herrschens über Gefolgschaft: Es gibt kein Programm, keine Werte und Ideen, die die Mitglieder zusammenhalten; die Partei ist nicht Heimat, sondern Wartehalle. Wenn der Anführer taumelt und den Weg zur Macht nicht findet, verliert er seine Truppen.

Ob Scioli, Massa oder Macri – jeder von ihnen würde übrigens Historisches vollbringen, wie der Politikberater Carlos Fara analysiert hat. Mit Scioli würde zum ersten Mal der Regent der Provinz Buenos Aires gewählt, ein Ex-Vizepräsident und jemand, der nicht schon sein ganzes Leben Politik macht. Scioli war ein erfolgreicher Motorbootrennfahrer.

Massa wäre mit 43 Jahren einer der drei jüngsten Präsidenten der argentinischen Geschichte und seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 der erste Erste, der es vom Bürgermeister (der Stadt Tigre) in die Casa Rosada schafft, ohne vorher den Umweg über ein Gouverneursamt genommen zu haben.

Macri wäre der erste Präsident seit 1983, der weder Peronist noch Radikaler ist, sondern eine neue politische Kraft gegründet hat. Er wäre der Unerfahrenste: Sein erstes (und bisher einziges) politisches Amt trat er vor acht Jahren an – Massa vor 16, Scioli vor 18. Seit 1983 wäre Macri außerdem der erste Nicht-Anwalt und der erste Nicht-Mittelschicht-Präsident: Der Ingenieur entstammt einer wohlhabenden Unternehmerfamilie.

Kann Daniel Scioli Präsident werden? Gewiss.

Kann Mauricio Macri Präsident werden? Ja. Vielleicht.

Kann Sergio Massa Präsident werden? Nein. Eher nicht.

Entscheidend dürfte werden, wem Massas Anhänger bei einer möglichen Stichwahl zwischen Scioli und Macri am 22. November ihre Stimme geben und ob ihr Anführer einen Kandidaten empfiehlt. Nüchtern betrachtet, kann er nicht zur Wahl des Regierungskandidaten aufrufen. Ähnlich abfällig wie über Scioli (»kleiner unterwürfiger Papagei«) hat er über keinen anderen Politiker geurteilt. Und den Wandel verkörperte dieser Präsident von Cristina Kirchners Gnaden erst recht nicht. Massa hat Jugend und Charisma, er kann warten, dass seine Zeit kommt. Allerdings: Er ist auch Peronist – und Peronisten haben die Neigung, am Ende um jeden Preis beim Sieger sein zu wollen.

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13 Präsidentschaftskandidaten werden am 9. August antreten – drei mehr als 2011 bei den ersten Vorwahlen in der argentinischen Geschichte. Die sogenannten Primarias Abiertas Simultáneas y Obligatorias (PASO) sind vor allem ein Stimmungstest. Nur Bewerber, die weniger als 1,5 Prozent erreichen, dürfen nicht bei den Hauptwahlen am 25. Oktober antreten. Allerdings gibt es in drei Bündnissen interne Wahlen, um einen gemeinsamen Kandidaten zu ermitteln.

Die Präsidentschaftskandidaten mit ihrem jeweiligen Vize im Überblick:

Regierung

  • Frente para la Victoria: Daniel Scioli (Präsident) und Carlos Zannini (Vize)

Opposition

  • Cambiemos: Mauricio Macri und Gabriela Michetti; Elisa Carrió und Héctor Flores; Ernesto Sanz und Lucas Llach
  • UNA: Sergio Massa und Gustavo Sáenz; José M. De La Sota und Claudia Rucci
  • Progresista: Margarita Stolbizer und Miguel Olaviaga
  • Compromiso Federal: Adolfo Rodríguez Saá und Liliana N. de Alsonso
  • Frente de Izquierda y los Trabajadores: Jorge Altamira und Juan C. Giordano; Nicolás Del Caño und Myriam Bregman
  • MST: Alejandro Bodart und Vilma Ripoli
  • MAS: Manuela Castañeira und Jorge Ayala
  • Frente Popular: Víctor De Gennaro und Evangelina Codoni
  1. Mustapic, Ana María (2010): Der Wandel des Parteiensystems und die Präsidentialisierung der Politik, in: Peter Birle/Klaus Bodemer/Andrea Pagni (Hrsg.): Argentinien. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: 159-179. []

Ein Chinese mit Handschellen für den Auserkorenen: Der teufliche Plan der argentinischen Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober ist Argentinien seit Sonntag, 0 Uhr, schlauer. Punkt Mitternacht war vorerst Schluss mit Gerüchten und Geschäften: Parteien und Bündnisse präsentierten ihre Kandidaten, und das Land weiß nun, wer Präsident werden will. Es riecht nach einem Duell zwischen dem Peronisten Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, und dem nichtperonistischen Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri. Die beiden sind alte Freunde, obwohl sie politisch weit auseinander liegen: Scioli verspricht Kontinuität, Macri einen Wandel. Die große Überraschung ist jedoch die Noch-Präsidentin: Cristina Kirchner bewirbt sich um kein neues Amt. Zieht sie sich nach 26 Jahren wirklich aus der Politik zurück?

Das Argentinische Tagebuch beschäftigt sich in zwei Teilen mit dem Wahlkampf, stellt die wichtigsten Kandidaten vor und erklärt die Strategien. Der erste Teil widmet sich der Regierung.

Cristina Kirchner im Hubschrauber der Präsidentin mit Carlos Zannini (M.) und Daniel Scioli

> Cristina Kirchner mit Carlos Zannini (M.) und Daniel Scioli am Tag der Fahne, der am 20. Juni in Rosario gefeiert wurde. Scioli durfte zum ersten Mal mit dem Hubschrauber der Präsidentin fliegen. Foto: Casa Rosada

Was hat die Staatschefin beim Chinesen bestellt? Carlos Zannini, Spitzname El Chino, ist Cristina Kirchners Strippenzieher und einer ihrer engsten Vertrauten. Viele umstrittene Projekte der linkspopulistischen Regierung, etwa das Mediengesetz, sind sein Werk. Nun soll Zannini Vizepräsident werden.

Der 60-Jährige, früher Maoist, dann verfolgt und verhaftet während der Militärdiktatur, ist im Windschatten der Familie Kirchner an die Macht gelangt. Unter dem neuen Bürgermeister von Río Gallegos, Néstor Kirchner, wurde er 1987 Sekretär der Stadtregierung. Als Kirchner vier Jahre später die Gouverneurswahlen in der Provinz Santa Cruz gewann, machte er Zannini zum Minister. Der drehte noch eine Runde durchs Parlament und wurde 1999 zum Chef des Obersten Gerichtshof ernannt. Weitere vier Jahre später ging es gemeinsam in die Hauptstadt. Kirchner wurde Präsident − und Zannini, was er bis heute ist: un peso pesado, ein Schwergewicht der hiesigen Politik; sein offizieller Titel: Sekretär für Legalisierung und Technik.

El Chino gehört zu den wenigen Technokraten, die nach Néstor Kirchners Tod 2010 politisch überlebt haben. Cristina Kirchner, die berühmteste Witwe am Río de la Plata, seit fast acht Jahren Präsidentin, hat viele Posten neu besetzt, aber Zannini weiter vertraut. Nun endet ihre gemeinsame Zeit. Am 10. Dezember muss die Präsidentin die Casa Rosada räumen. Schickt sie deshalb einen Aufpasser? Hat sie also beim Chinesen Handschellen für ihren potenziellen Nachfolger bestellt?

Daniel Scioli in Handschellen – dieses Bild wird augenblicklich gern gezeichnet in Argentinien. Es ist bloß eine Vermutung, aber eine naheliegende, schließlich hat die Präsidentin Scioli (58) auserkoren. Nichts ist ihr wichtiger als der Fortbestand ihrer Politik, ein Weiter-so ohne Abstriche, das hat sie oft genug gesagt. Warum sollte Kirchner jemandem das Erbe anbieten, der es nicht pfleglich behandelt? Der Realität entrückt mag sie bisweilen wirken, naiv aber ist sie keineswegs. Scioli in der Regierung, sie selbst weiter an der Macht − das wäre ein geradezu teuflicher Plan.

Der Peronist Scioli regiert seit 2007 Buenos Aires, nicht die Hauptstadt, sondern die viel wichtigere Provinz. Sie ist flächenmäßig so groß wie Deutschland und der Ort, an dem sich vieles entscheidet: 40 Prozent aller Wahlberechtigten leben hier. Scioli hat die Gouverneurswahlen zweimal gewonnen, er ist der mächtigste Provinzfürst des Peronismus. Aber viele Kirchneristen mögen ihn nicht. Obwohl er von 2003 bis 2007 Néstor Kirchner als Vize gedient hat, gilt er nicht als Mann der Bewegung. Man weiß nicht, ob Scioli das Projekt – wie der Kirchnerismus seine zwölf Jahre an der Macht nennt – fortführen, ja vorantreiben wird. Öffentlich hat der einstige Motorbootrennfahrer Cristina Kirchner stets die Treue geschworen; im kleinen Kreis aber soll er ausgiebig über sie lästern.

Trotzdem darf er für den Kirchnerismus antreten; er ist sogar sein einziger Kandidat. Lange hatte es nach einem Zweikampf ausgesehen, über dessen Ausgang die Vorwahlen am 9. August entscheiden würden. Transportminister Florencio Randazzo (51), der treue Kirchnerist und Liebling der Basis, ging offenbar fest davon aus, dass die Präsidentin ihn auswählen werde. Doch dann verkündete Scioli am Dienstag voriger Woche in einem Fernsehinterview, dass Carlos Zannini als sein Vize mit ihm den Wahlkampf ziehe. Er hatte nicht weniger als eine Bombe gezündet.

Randazzo soll vollkommen überrascht gewesen sein, ja erschüttert. Ausgerechnet Zannini! Der Mann, der ihn, Randazzo, die ganze Zeit unterstützt hatte! Der alles ausgeheckt hatte! Ihr Plan sah vor: Der Transportminister verbessert die rostige Infrastruktur, er stellt jede Woche neue Züge auf frische Gleise, sticht so Scioli aus, beerbt Kirchner und garantiert Kontinuität. Und ausgerechnet Zannini, der Hexenmeister, wechselt kurz vor Schluss zu Scioli, über den Randazzo monatelang gelästert hatte. Hach, und die Präsidentin, jene Frau, die Randazzo nahezu abgöttisch verehrt, gibt dem Gespann obendrein ihre Segen. Womöglich war es sogar ihre Idee, und Scioli durfte nur noch akzeptieren. (Die Meinungen gehen diesbezüglich auseinander. Scioli reklamiert für sich, Zannini selbst ausgewählt zu haben.)

Transportminister Florencio Randazzo, der Herr der neuen, in China hergestellten Züge

> Transportminister Florencio Randazzo, der Herr der neuen, in China hergestellten Züge Foto: Ministerio del Interior y Transporte

Und Randazzo? Der hatte sich vor langer Zeit festlegt: Alles oder nichts, entweder schafft er es in die Casa Rosada – oder er geht nach Hause. Er hielt Wort. Das Angebot der Präsidentin, das Gouverneursamt der Provinz Buenos Aires anzustreben, als alleiniger Kandidat der Regierung, lehnte er. Ein fast ungeheuerlicher Vorgang – denn ein Kirchnerist gehorcht der Anführerin eigentlich. Randazzo wird nun offenbar wie ein Aussätziger behandelt. Sein Stab klagte am Ende der Woche: »Wir sind einsamer als Boudou am Tag des Freundes.«1 (Amado Boudou ist der nach unzähligen Affären und Ausrutschern demolierte Vizepräsident, zu dem selbst Parteifreunde größtmöglichen Sicherheitsabstand halten.)

Randazzo twitterte daraufhin Treueschwüre:

»Dass sich keiner irrt. Ich unterstütze alle Entscheidungen, die die Präsidentin trifft. Sie führt das Projekt, dem ich angehöre und dessen Teil ich weiter sein werde.«

»An die Journalisten, die eine böse Absicht verfolgen: Ich habe nie gesagt, dass mir die Präsidentin verboten hat, bei den Vorwahlen anzutreten.«

»Aber gegen Carlos Zannini anzutreten, bedeutet, gegen die Präsidentin anzutreten.«

»Ich wiederhole, ich werde nie etwas tun, das der Präsidentin schadet.«

Dass Cristina Kirchner nicht selbst antritt, ist eine mittelgroße Sensation. Sie hätte sich ja ein Amt quasi aussuchen können: Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, Senatorin oder Abgeordnete eines Parlaments (Argentinien oder Mercosur). Es schien unvorstellbar, dass sie verzichtet, zumal sie sich wieder erholt hat. Ihre Beliebtheitswerte sind  gestiegen, sie wurde von Bürgermeistern, Gouverneuren und Abgeordneten regelrecht angefleht, im Spiel zu bleiben und der Kampagne Schub zu verleihen. Nun tritt sie ab.

Warum? Sie hatte in den vergangenen Jahren kleinere und größere gesundheitliche Probleme. Nach einer Kopf-Operation war sie Ende 2013 sogar für sechs Wochen ganz abgetaucht. In jüngster Zeit allerdings wirkte sie indes stabil, gut gelaunt, mitunter sogar aufgekratzt und tatendurstig. In der vergangenen Woche hat sie per Erlass das Kindergeld um 30 Prozent2 erhöht – und dieses Geschenk, wie es sich gehört für diese Präsidentin, dem Volk per Fernsehansprache verkündet. Es war ihre 24. Cadena Nacional in diesem Jahr; das Recht des Staatsoberhauptes, sich in Ausnahmefällen auf die staatlichen Sender schalten zu lassen, nutzt Kirchner fleißiger als ihre Vorgänger: im Schnitt alle sieben Tage.

Möglicherweise wäre ein Verbleib an der Macht oder in deren Nähe auch zu viel Ballast für den Kandidaten Scioli gewesen. Der hat sich ja schon ordentlich verbiegen müssen. Für Aufsehen und Heiterkeit sorgte sein Wahlkampfspot, in dem er die erste Zeile eines kirchneristischen Schlagers wieder und wieder zitierte: »Yo vengo bancando este proyecto nacional y popular.« Er unterstütze dieses kirchneristische Projekt seit dem ersten Tag, sagte er – erst als Vizepräsident, dann als Gouverneur. Nun bitte er, dass »du mich unterstützt«.

Für einen Sieg braucht Scioli die Stimmen der kirchneristischen Stammwähler (etwa 30 Prozent), aber auch die jener Peronisten, die auf einen leichten Wandel hoffen. Es ist ein riskantes Spiel. Schon länger skizzieren Sciolisten, die Anhänger des Gouverneurs, dessen Weg in die Casa Rosada: Danach bleibe Scioli bis zu den Vorwahlen am 9. August Ultrakirchnerist, löse sich bis zur Wahl am 25. Oktober allmählich und regiere am Ende, ohne Rücksicht zu nehmen auf die alten Freunde, die ihm die Macht besorgt haben. Anders gesagt: erst esclavitud (Sklaventum), dann liberación (Befreiung), schließlich independencia (Unabhängigkeit).

Scioli

> Ich werde der Präsident sein mit Glaube, Hoffnung, Optimismus, Sport, Tourismus, Freunde – und mit mehr Unabhängigkeit denn je.

Diese Strategie hat freilich Schwachpunkte. Nach bewährter Tradition war das Anfertigen sämtlicher Kandidatenlisten der Bewegung das Vorrecht der Präsidentin; von lapicera y guadaña spricht man in Argentinien, dem Kugelschreiber und der Sense, zu denen Kirchner greife, um dafür zu sorgen, dass ungeeignete, also unzuverlässige Parteifreunde auf der Strecke bleiben. Die Parlamente und Rathäuser überall im Land werden nach den Wahlen voller Cristinistas sein, ultratreuer Anhänger der Staatschefin a. D. La Cámpora, die Nachwuchstruppe der Bewegung, gegründet und angeführt vom Präsidentensohn Máximo Kirchner (38), hat bei der Aufstellung der Kandidaten ordentlich abgesahnt. Máximo Kirchner bewirbt sich zum ersten Mal um ein öffentliches Amt, er steht auf Platz eins der Liste in der Provinz Santa Cruz für das Nationalparlament.

Máximo Kirchner mit seiner Schwester Florencia (l.), seiner Freundin María Rocío García, Sohn Néstor Iván und der Präsidentin

> Máximo Kirchner mit seiner Schwester Florencia (l.), seiner Freundin María Rocío García, Sohn Néstor Iván und der Präsidentin Foto: Casa Rosada

Und dann ist da ja noch der Vizepräsidentschaftskandidat Carlos Zannini, der Chinese mit den Handschellen für Daniel Scioli. Ein kircheristischer Aufpasser für den wankelmütigen Peronisten. Ein Garant der Kontinuität. »Die Peronisten glauben, dass sie den Kirchnerismus überleben können«, schreibt die Journalistin Silvia Mercado, »Cristina und Zannini aber wollen, dass niemand übererlebt, wenn sie selbst nicht mehr da sind, und sie verdrängen Peronisten so weit wie möglich, um jene einzusetzen, die loyal zum Projekt sind.«

Vielleicht kann sich Cristina Kirchner einfach leisten, in Rente zu gehen – weil sie genau weiß: Auch so geschieht nichts gegen ihren Willen. Außerdem könnte sie wiederkommen, wenn es mit dem neuen Präsidenten – ganz gleich, wie der heißt – nicht klappt.

  • Sonntag, 9. August: Vorwahlen (Primarias Abiertas Simultáneas y Obligatorias, PASO)
  • Sonntag, 25. Oktober: Präsidentschaftswahlen
  • Sonntag, 22. November: wenn nötig Stichwahl (balotaje)
  • Donnerstag, 10. Dezember: Vereidigung des neuen Präsidenten
  1. 20. Juli, el Día del Amigo in Argentinien []
  2. 837 Pesos statt 644 []

La FIFA, el Kaiser y el fútbol alemán: discurso en el Congreso

von CHRISTOPH WESEMANN

Yo participé en un debate sobre la corrupción en el fútbol, organizado por la diputada Cornelia Schmidt-Liermann. Les dejo mi discurso en el Congreso de la Nación.

Discurso sobre la corrupción en el fútbol (Honorable Cámara de Diputados de la Nación)

> con Alberto Rivero (Asociación Gustavo Rivero), Javier Castrilli (ex árbitro), Sebastián Sal (International Association of Anti-Corruption Authorities) y Cornelia Schmidt-Liermann (diputada nacional del PRO)

I

¡Señoras y señores!

Muchos alemanes creen que el famoso Franz Beckenbauer nos consiguió el Mundial que fue disputado en 2006. ¿Todos conocen a Beckenbauer? ¡No me digan que no! Es el mejor futbolista de la historia alemana, un genio, no tan genio como Diego Maradona, claro que no. Pero él ganó la copa mundial dos veces, como capitán en ‘74 y 16 años después como técnico − contra Argentina y Diego, lo siento mucho. La verdad, yo en ese entonces ya alentaba a la albiceleste. A ustedes les habla un mufa.

Yo quiero contar hoy de la FIFA desde el punto de vista de un chucrut, un alemán, trazando por qué el blatterismo funcionó tanto tiempo. En realidad todavía no dejó de funcionar, ¿no?

II

¿Volvamos con Beckenbauer? Cuando él – nuestro Kaiser (el emperador) – era un bebé Dios le dio un beso. Sí, yo estoy bromeando pero me parece la única manera de explicarles porque él llega a conseguirlo todo. Les quiero mostrar un cortito vídeo muy conocido para evidenciarles la excelencia de este crack alemán.

Estamos en una noche de ‘94, unas horas después de que Beckenbauer como técnico del Bayern Múnich ganara el campeonato local, de la Bundesliga. La fiesta de su equipo es televisado por un programa deportivo que tiene un juego muy emblemático. Los invitados – futbolistas y otros deportistas – deben patear la pelota y tratar de meterla por dos agujeros redondos de 55 centímetros de diámetro ubicados en las esquinas superior izquierda e inferior derecha de un rectángulo vertical que hace las veces de arco.

¿Suena complicado eso, eh? Nooooo.

¡Es complicado!

Estamos viendo a Beckenbauer, junto a Lothar Matthäus, el capitán de la selección de ‘90, poniendo en el piso una copa enorme llena de cerveza de trigo.

¿Qué va a pasar?

¡Miren!

Qué golazo, ¿eh?

Sin dudas, Diego lo hubiera hecho con la pelota y la copa de cerveza.

III

Señoras y señores, hablemos de fines de los años noventa. Alemania quiere organizar el Mundial de 2006 y solicita a la FIFA. Beckenbauer como jefe de la campaña viaja con su bolsa de golf por el mundo, para convencer a reyes, emires y presidentes. Está en todos lados el Kaiser. ¡Hace diez vueltas al mundo! Su cuerpo pintado, baila en Fiyi, y en África le regalan un carnero. ¡Un carnero vivo! Por supuesto, los reyes, emires y presidentes están tan contentísimos de encontrarse con este personaje que después apoyan la candidatura alemana.

¿Lo podemos creer? ¡No! Es una leyenda. Un cuento chino.

Cualquiera candidatura exitosa para el Mundial jamás es la obra de una sola persona. En realidad, la responsabilidad la tiene el jefe, de forma detallada y perfeccionista. Muchos forman parte de un tal proyecto: el gobierno, la política, las embajadas, la economía, las empresas, las organizaciones deportivas, todo el país, todo el estado. Es porque la FIFA requiere muchas cosas del organizador:

  • distintas garantías,
  • la certeza de poder cobrar mucha plata durante el torneo,
  • una infraestructura re buena,
  • hoteles de primera categoría,
  • otro lujo para los funcionarios y sus laderos, incluso las esposas.

Andrew Jennings, el prestigioso periodista de investigación escocés, dice:

Pueden hacer todos los aspirantes del Mundial. Le pueden presentar a sus super-modelos al Comité Ejecutivo de la FIFA. Sus políticos le pueden prometer que vayan a hacer todo para organizar un Mundial perfecto. Pero los chicos de la FIFA van a bostezar y preguntar después: »¿Dónde está la guita? ¿Dónde está la guita?« (Vídeo)

Ocho días antes de la decisión que toman las 24 personas del Comité Ejecutivo, en Alemania la Comisión de la seguridad del Gobierno autoriza el suministro de 1200 bazucas a Arabia Saudita. Un miembro de la casa real – Abdullah Al Dabal – pertenece al Comité Ejecutivo.

¿Pura coincidencia? ¿Cosas que pasan?

Encima son acordados negocios de mil millones de Euros por empresas grandes de Alemania en Asia. Daimler (Mercedes) plantea una aportación de capital de 400 millones de Euros en Hyundai, el fabricante coreano de automóviles. El hijo y jefe júnior de la dinastía de Hyundai (Chung Jong Moon) lidera la Asociación de fútbol de su país y es delegado del Comité Ejecutivo de la FIFA.

¿Una coincidencia más? Puede ser …

El representante tailandés en la FIFA (Morawi Makudi) administra un negocio de Mercedes en Bangkok. El Bayern juega absurdos partidos amistosos en Malta, Túnez y Tailandia, siempre fluye mucho dinero por los derechos de transmisión. Por lo menos dos de los tres países votan más tarde a favor de Alemania.

Son muchas las coincidencias, ¿no? Puede ser …

El propio Beckenbauer comentó después de un »chanchullo«.

La elección del Comité Ejecutivo en 2000 ganó Alemania presumiblemente por la traición que cometió el representante neozelandés en la FIFA, Charles Dempsey. En la última vuelta él debería haber votado a favor de Sudáfrica. Así lo había decidido su Confederación de Fútbol de Oceanía. Con su voto Sudáfrica hubiera ganado.

¿Qué pasó?

Antes de la votación Dempsey salió del salón.

Y se abstuvo.

Así que Alemania ganó.

Había y hay muchos rumores y cuentos de soborno pero ninguna prueba. La primera ministra de Nueva Zelanda – Helen Clark – le pidió disculpa al presidente sudafricano. El ministro de deporte dijo: »Dempsey es una vergüenza nacional.«

Dempsey apenas explicó su voto extraño. En unas pocas entrevistas hablaba de »presión por influyentes grupos de interés en Europa«.

Murió en 2008.

IV

¿Por qué estoy hablando de esta historia vieja? Lo que pasa es que no hay relaciones limpias con una organización bastante corrupta y mafiosa como la FIFA. Tampoco Alemania lo logró.

Fíjense que el Mundial es una fiesta tan lucrativa que la FIFA – como dueña del torneo – puede hacer y exigir lo que quiera. Y la única que siempre gana en cada campeonato es la FIFA. El Mundial es una mina de oro.

Lo que más me decepcionó antes de la retirada chiquita de Sepp Blatter (que está laburando en este momento, sabe Dios lo que pasa en su búnker) – fue la actitud de los funcionarios europeos y sobre todo los de Alemania. Recordemos que la Federación Alemana del Futbol es la organización (individual) deportiva más grande del planeta. Tiene casi siete millones socios. Es mucho peso. Encima Alemania dispone de un poder económico extraordinario.

 

 

A eso voy. Si una nación tuvo la obligación y la opción de ir de delante de los demás, hubiera sido Alemania. Pero: Nuestro jefe del fútbol Wolfgang Niersbach – muy amigo de Beckenbauer, muy amigo de Blatter – él ni aun habló en la asamblea para marcar el paso. Igual que cualquier otro funcionario de la UEFA. Nada. Nada de nada. ¡Qué vergüenza!

O sea: Los viejos a quienes siempre les gusta echar un sermón a la juventud futbolística, a nuestros pibes – usando palabras como fair play, honestidad y valor cívico – ellos mismos no lo practican. Y ellos eran protagonistas, simpatizantes, patrocinadores o beneficiarios del blatterismo. Nadie se va a retirar a propia voluntad. Pero: ¿Basta que se va el jefe y el resto se queda?

V

A mí me cuesta muchísimo creer ahora en un cambio verdadero de la FIFA. Quienes lo quieren no lo pueden lograr. Les faltan poder y mayoría. Y quienes podrían lograrlo no quieren. A ellos les falta nada más que voluntad.

Olvídense del francés Michel Platini, el presidente de la UEFA. Esa organización también está llena de figuras oscuras. Platini asumió su cargo en 2007 por truchadas. Trabajó con Blatter por más de 20 años. Había apoyado la candidatura de este último en ‘98 y después lo aconsejó cuatro años.

La UEFA, monsieur Platini, los alemanes con Charles Dempsey: Todos tienen muertos en el placard. Y Blatter lo sabía. Por eso no tenía miedo de nadie. Pero el 2 de junio – cuatro días después de su reeleción – nos enteramos a quién le teme Blatter: al FBI.

Por lo tanto digo: La única manera de ordenar la FIFA es destrozarla, completamente, y empezar de nuevo. No, señoras y señores, ahora no estoy bromeando. Eso les digo en serio. Esa organización está demasiado estropeada. No se la puede reparar ni reformar.

Para ir finalizando quiero citar a Gary Lineker, ex jugador de Inglaterra. ¿Sabían que a los alemanes nos encanta todo lo que dice? Para nosotros, es una autoridad – por su frase que pasó a la historia. El fútbol según Lineker »es un juego simple: 22 hombres corren detrás de una pelota durante 90 minutos y, al final, los alemanes siempre ganan«.

Esta vez Lineker escribió en Twitter: »La FIFA está explotando. Lo mejor que le pudo pasar al juego hermoso.«

Muchas gracias por escucharme.

Der Floh und der Apache, der Beißer und der Gebissene, die Statue und der Bleiche – die Berliner Komödie

von MARC KOCH & CHRISTOPH WESEMANN

Zwei Deutsche, räumlich getrennt, auf zwei Kontinenten. MC, früherer Lateinamerikakorrrespondent der Deutschen Welle, ist dem Leser als regelmäßiger Autor des Argentinischen Tagebuchs vertraut und hat bereits in diversen Komödien mitgespielt. Er hat lange in Buenos Aires gelebt. CW tut es noch. Und weil die beiden zwei sehr moderne Helden sind, sprechen sie nicht direkt miteinander, sondern mittels Kurznachrichten.

Heute über: das Champions-League-Finale in Berlin.

♦♦♦♦♦

CW. Ich bin schon krass heiß auf Barcelona gegen Juventus. Leo Messi und Carlitos Tévez, der Floh1 gegen den Apachen2! Luis Suárez und Giorgio Chiellini, der Beißer gegen den Gebissenen! Was für ein Finale!

MC. Ähem, der Gebissene kneift.

CW. Schulterverletzung?

MC. Wade! Links.

CW. Simulant.

MC. Es gibt ja auch noch Andrea Pirlo und Andrés Iniesta, die Statue gegen den Bleichen! Pirlo hat auf seinem sagenhaften rechten Fuß mehr Haare als Iniesta auf dem Kopf.

CW. Leider erwarten wir am Sonnabend, Mitte der zweiten Halbzeit, den einzigen Argentinier, der Fußball nicht mag, zum Kaffeekränzchen.

MC. Vor einem Jahr, Real gegen Atléti, saß er bei mir. Hat aber nicht groß gestört.

CW. Unsere Frauen sind echt …

MC. … so tolle Gastgeberinnen. Wir würden vereinsamen und verwahrlosen ohne sie, ach was, wir wären sozial seit Jahren isoliert.

CW. Wir müssten die ganze Zeit Fußballspiele gucken.

MC. Schreckliche Vorstellung.

CW. Für wen bist Du? Als halber Madrilene kannst Du ja nicht wollen, dass Barça die Champions League gewinnt. Also Juve.

MC. ICH WERDE NIEMALS FÜR EINEN ITALIENISCHEN VEREIN SEIN.

CW. Ich zitiere den argentinischen Fußballphilosophen Jorge Valdano, den wir beide ja sehr schätzen, was auch nicht oft vorkommt.

Italien weiß genau, was es will. Wenn ihr ästhetischen Stil wollt, dann schaut euch die Trikots an, die Millimeterfrisuren, den Schnitt der Bärte. Wenn ihr Talent möchtet, schaut auf die Ersatzbank (da sitzt del Piero mit der Feierlichkeit eines Pharaos).

MC. Oder auch:

Es gibt Momente, in denen ein Abwehrspieler klärt, und er sieht zum Beispiel die Beine eines Norwegers sperrangelweit offen, eine schöne Einladung zum Tunneln, die ein freier Mann niemals ablehnen würde. Der italienische Abwehrspieler lehnt die Versuchung ab und klärt trotzdem.

CW. Unsere Frauen allerdings…

MC. …sind für Juve.

CW. Wegen Totti.

MC. Der spielt seit 112 Jahren beim AS Rom.

CW. Das wissen aber unsere Frauen nicht. Für sie wird auch immer Paolo Maldini der Abwehrchef der Nationalelf sein.

MC. Noch so ein Schönling. Überhaupt total attraktive, charmante Männer, diese Italiener, voller Gefühle. Und aufrichtig, natürlich. Nie würde ein Italiener ‘ne Schwalbe machen. Niemals.

CW. Das Fairplay wurde in Italien erfunden. Von Pippo Inzaghi.

MC. Übrigens, Gigi Buffon …

CW. … Weltklasse-Torhüter …

MC. … hatte mal die Rückennummer 88, war aber kein Faschist. Er wollte eigentlich die Doppelnull haben, weil er meinte, das symbolisiere zwei Eier. Kein Witz. Fußballerlogik: Eier haben und so. Der AC Parma, sein damaliger Klub, ließ das aber nicht zu. Buffon, gedankenschnell: »Dann nehme ich die 88, das bedeutet: vier Eier!« Als man ihn darauf hinwies, wofür die Zahl in rechtsextremen Kreisen stehe, sagte er: »Wer ahnt das? Dass 88 der Hitlergruß ist, das wissen doch wirklich nur die Nazis!«

Seite Drei in der »Süddeutschen« am Donnerstag.

CW. Und dann gewinnt der ausgerechnet die Weltmeisterschaft im Berliner Olympiastadion. Da schloss sich ein Kreis.

MC. Du als Argentinier, der argentinischer sein will als jeder Argentinier, müsstest am Sonnabend für Juve sein. Wegen Tévez. Spieler des Volkes. Kindheit im Elendsviertel und so.

Mir ist egal, was die Leute denken. Ich werde meine Wurzeln nicht vergessen. Die Jungs sagen immer zu mir: »Wenn du ganz oben ankommst, vergiss nicht die Armen.«

CW. Ich bin für Juve! Genau aus diesem Grund.

MC. Dacht’ ich mir. Letzte Frage: Und Franziskus?

CW. Für Tévez, natürlich. Der Papst des Volkes. Aber Messi mit dem Pokal würde er auch empfangen.

MC. Es haben ja sowieso alle argentinischen Fußballer einen Hausausweis für den Vatikan.

  1. la Pulga, Messis Spitzname []
  2. el Apache, Tévez‘ Spitzname []

Jenseits von Belgrano, im Wilden Rheingau – ausgerechnet am Feiertag

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

 

Der Autor hat als Lateinamerikakorrespondent der Deutschen Welle in Buenos Aires gelebt und ist festes Ensemblemitglied des Argentinischen Theaters Tagebuchs.

 

♦♦♦♦♦

 

Wissen Sie, ich hatte eine Schreibstube in Buenos Aires, am Fuß des Belgrano-Hügels.

1024px-Barrancas_de_Belgrano,_Buenos_Aires

 

Die Äquatorlinie zog sich 2460 Meilen weiter nördlich durchs Tiefland, doch meine Stube lag 19 Stockwerke über dem Fluss. Der Himmel war unfasslich blau, die Züge unfasslich kaputt, doch wir hatten unser Auskommen und die wöchentliche Mordrate war erträglich.

 

»Geh’ für das Argentinische Tagebuch nach Deutschland, als Korrespondent«, hieß es irgendwann. »Da kannst Du was erleben, und vielleicht zahlen wir auch was«, hieß es. Das hatte den Ausschlag gegeben. Heute weiß ich, dass sie mich loswerden wollten. Zu erfolgreich geworden, verstehen Sie? Bei den Lesern. Und bei den möglichen Praktikantinnen. Und im Fußball, natürlich.

 

Jetzt soll ich also aus diesem Deutschland berichten.

 

Na gut.

 

Wir gingen nach Osten, zu den Westgoten.

 

Die Westgoten: leben in Regen & Dunkelheit. In Deutschland regnet es praktisch immer. Die Meteorologen behaupten zwar etwas anderes, aber die haben nur Schiss um ihre gutbezahlten Jobs im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das Wetter ist fast so schwer auszuhalten wie die Tatsache, dass es in diesem Land kein gutesrichtiges Fleisch gibt. Hier haben sie Hühnchen (pollo), Schwein (cerdo) und Tofu (tofu). Und Bio-Rind, das schmeckt, wie eingeschlafene Fußsohlen (pies durmidos). Weil es in einem aus veganem Magerjoghurt destilliertemhandgewalktem Bratfettmittel angewärmt wird.

 

Viele Korrespondenten aus zivilisierten Ländern leiden deswegen unter Mangelerscheinungen und Fehlernährung. Wenn der Herausgeber CW erfährt, dass ich der hiesigen argentinischen Sektion der anonymen Vegetarier beigetreten bin, kürzt er mir die Auslandszulage. Aber irgendwas müssen wir ja essen. Vegetariertum wird in Deutschland übrigens nicht von der Krankenkasse bezahlt. Es gilt sogar als Eintrittskarte in Politik, Gesellschaft und Höhere Kreise.

 

Aba ick schweife ab.

 

An Feiertagen, die hier übrigens immer ›Sonntage‹ genannt werden, auch, wenn sie auf einen anderen Wochentag fallen, was wiederum daran liegt, dass die Deutschen für ihr Geld arbeiten müssen und kaum Feiertage haben – an solchen Feiertagen also: geht der Deutsche gerne in die Natur.

 

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Er nennt das »wild romantisch«. Ich verlange für sowas Schlamm-Zulage (die der Geizhals CW natürlich nicht zahlt).

 

Der Deutsche ist so gerne in der Natur, weil Goethe (JWv, 1749-1832, Nationaldichter, völlig überschätzt, höchstens ein Drittel der Sachen taugt was – um Ihnen den Link auf die Wikipedia zu ersparen, haha!) gesagt hat: »Die Natur versteht keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.« Wenn det Cristina wüsste, wa!?

 

Mein Fehler also, wenn ich nasse Schuhe habe, Ende (!) Mai (!) einen Schnupfen bekomme und die Aufstiegsfeiern von Darmstadt 98 verpasse. Danke für nichts, Goethe!

 

Der Deutsche hingegen hört auf seinen FührerNationaldichter und frönt der Natur, die er auch gerne »Mutter«  nennt, aber das ist ein anderes Thema. Zum Beispiel als kontemplierende Künstlerin

 

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als grimmiger Single mit klarer Perspektive

 

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oder als energisches Paar mit Karriereambitionen

 

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Um es mit dem Dichterwort zu sagen: »Wie es Euch gefällt« (GoetheMadonnaGrönemeyerShakespeare).

 

Doch am Ende des Tages hat auch der Park ein Ende: »Hier riecht’s nach Pferd, hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!« (GoetheWaalkesMK): Im Schatten des Schlosses. In B. bei W.! Das ist ja wie zuhause, joder!! Bár!ba!ro!! Wie, wenn man an der Plaza Italia aussteigt und unter strahlendem Himmel auf das ehrwürdige Portal zuschreitet, um mit der von den üblichen Verdächtigen organisierten Ehren-Eintrittskarte die halbe Familie für umsonst an den wartenden Besuchern vorbei…

 

Aba ick fange zum Heulen an!

 

So ne Art Rural, jedenfalls. Nur halt für das Landleben nahe des Polarkreises. Also ohne Kühe. Dafür mit Handschuhen, Decken und was der Verteidiger der Nordwand sonst noch braucht

 

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Pfingst-Reitturnier in B. bei W. am R.: Champagner. Chapeau. Schale Erdbeeren mit Sahne € 5,20 (= AR$ 52, wenn Sie nicht schwarzgeschickt tauschen). Und es gewinnt? Damas & Caballeros? Im herbstlichen Mai? Mitten in Deutschland? Kein Gaucho. Sondern: ein Mexikaner. Singende caballeros auf’m bombigen Beat!

 

 

In der TexMex-Kneipe um die Ecke meckert der Besitzer (ein Italiener!), dass der Mexikaner für einen katarischen Stall reitet. Aber nicht von Blatter bezahlt wird.

 

Endlich vertraute Töne. Wir essen. Es ist warm. Spesen gehen auf den Herausgeber. Haha!

♦♦♦♦♦

Alle Texte aller Gastautoren des Argentinischen Tagebuchs

Robinson Wese, ein Katzenfresser und eine Fähre, die nicht kommt: Unterwegs im Nordosten Argentiniens und in Paraguay (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

 

Letzter Tag: Formosa (Argentinien) − Alberdi (Paraguay)

♦♦♦♦♦

Wir Menschen sind so. Wir wollen seit Urzeiten erfahren, was da am Horizont schimmert, wie es hinter dem Berg aussieht, der uns den Blick verstellt, und wer am anderen Ufer lebt. Schon unsere Vorfahren segelten drauflos, ins Unbekannte und Ungewisse, wieder und wieder. Jahrhunderte später umkreisten wir die Erde und landeten in einem Filmstudio auf dem Mond. Ohne unseren Pioniergeist würden wir vielleicht noch immer in Höhlen und Hütten hausen.

Apropos Hütten: Vor mir liegt der Straßenmarkt von Alberdi, und ich breche meine Expedition jetzt ab. Aber ich komme ja gerade vom Schiff, ich habe es schon auf die andere Seite des Río Paraguay geschafft. Den nächsten Schritt sollen andere tun.

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> Auf dem Río Paraguay, kurz vor der paraguayischen Grenzstation

Auf dem Weg zum Straßenmarkt in Alberdi

> Auf dem Weg zum Straßenmarkt in Alberdi

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Es ist bestimmt zwei Jahre her. Mein Freund Pablo war mit einem Pfarrer verabredet, der in der Villa 31, einem berühmten und noch berüchtigteren Elendsviertel von Buenos Aires, als Seelsorger arbeitet. Als wir davor standen, rief Pablo den Geistlichen an und bat um Begleitschutz. Man soll nie allein solche Orte betreten – hinein kommt man natürlich immer problemlos. Ein paar Minuten später holte uns ein junger Mann ab, er trug ein Trikot des Fußballklubs Newell’s Old Boys aus Rosario, mit leichtem Abstand folgte ihm ein etwa Gleichaltriger, auch er sportlich gekleidet, aber nicht elegant. Pablo würde sie später so charakterisieren:

Es gibt Typen, denen du nachts niemals, unter keinen Umständen über den Weg laufen willst. Für diese Jungs galt das auch am Tag.

Nun ist es guter Brauch in Argentinien, Fans und Spieler aus Rosario als »Katzenfresser« (come gatos) zu beschimpfen. Einer Legende nach sollen die Rosarinos nämlich auf diese Weise während der großen Krise von 2001 ihren Hunger gestillt haben.

»Cheeeee1 Katzenfresser, hast du heute schon eine Mieze verspeist?«, brüllte ich zur Begrüßung. Ich wollte beweisen, was ich als Ausländer über Argentinien schon alles weiß. Was ich nicht wusste, war, dass der Newell’s-Fan und sein Begleiter nach jahrelangem Drogenkonsum gerade erst einen Entzug begonnen hatten. Pablo war sicher, unser vermeintlicher Beschützer werde ausrasten und uns aus Rache den schlimmsten Kriminellen der ganzen Villa zum Fraß vorwerfen. Er tat es nicht, aber Pablo erzählt diese Geschichte seitdem allen Leuten, die mich noch nicht für einen boludo2 halten.

Ich fahre dann mal zurück nach Formosa.

Ähm, nichts da. Ich müsse mindestens eine weitere Stunde warten, sagt der paraguayische Grenzbeamte, ich sei ja noch gar nicht in seinem System registriert. Welches System denn, Du Angeber? In Formosa hatte ich umgerechnet zwei Euro für die Fähre nach Alberdi bezahlt. Ich bekam eine eingeschweißte Visitenkarte der Fährgesellschaft, die sich später als Fahrschein erwies. Dann ließ sich ein Opa meinen Reisepass reichen und tippte auf einer mindestens 50 Jahre alten Schreibmaschine meine Daten auf die Passagierliste. Genau so ein verrostetes Ding steht jetzt hier noch mal.

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»Guck dir den Markt an.«

»Habe ich schon.«

»Du bist gerade erst angekommen.«

»Es sieht nach Regen aus.«

»In Formosa regnet‘s schon. Es kommen erst mal keine Fähren mehr.«

Das ist nicht gut. Ich muss heute zurück nach Buenos Aires und in weniger als drei Stunden zum Flughafen. Aber ein bisschen Zeit ist ja noch.

»Könnte knapp werden«, sagt der Grenzbeamte.

Eine halbe Minute später fängt es an zu schütten. Ich gehe erst mal pinkeln. Die Toilette befindet sich draußen und ist ein bisschen schwer zu finden, aber eine Frau, die neben dem Schalter des Grenzbeamten einen Stand mit Leggins betreibt und auch Sandwiches verkauft, weist mir den Weg. Geh mir weg mit deinen ekelhaften Sandwiches, señora!

Andere Toilette in Alberdi

> Andere Toilette in Alberdi

Es blitzt und donnert.

Wo, zum Teufel, bin ich hier bloß? Die Holztür des Klos steht offen, weil irgendjemand mit einem Schnürsenkel die Klinke an der gegenüberliegenden Wand angebunden hat. Das muss ein nagelneuer, jedenfalls noch nicht entschlüsselter Seemannknoten sein, ich zuppele und zuppele. Hilfe, Hilfe, wenn nicht schnell was passiert, bin ich nicht mehr nur obenherum durchnässt.

Vielleicht sollte ich öfter mit dem Smartphone in der Hand aufs Pinkelndürfen warten müssen. Was man da alles lernt! Alberdi hat laut Wikipedia 7588 Einwohner und ist damit die zweitgrößte Stadt des Verwaltungsbezirks Ñeembucú. Benannt wurde sie nach einem großen Argentinier, dem Anwalt, Juristen, Ökonom, Politiker, Diplomaten, Staatsmann, Schriftsteller und Musiker Juan Bautista Alberdi (1810-1884). Damals gab es offenbar noch Alleskönner. Alberdi gehörte mit anderen argentinischen Intellektuellen wie Justo José de Urquiza, Domingo Faustino Sarmiento und Bartolomé Mitre zur »Generation von 1837«, die für die Demokratie kämpfte. Er ist der Vater der noch heute gültigen Verfassung von 1853. Anders als Mitre, Urquiza und Sarmiento aber wurde Alberdi nie Präsident Argentiniens. Im Tripel-Allianz-Krieg stand er auf der Seite Paraguays, ach, deshalb die Ehre. Der Tripel-Allianz-Krieg war der von 1864 bis 1870 dauernde Kampf …

Ah, eine Frau kommt, offenbar die Eigentümerin der Toilette. Sekundenschnell löst sie den Knoten, und ich verhandele gar nicht erst, sondern zahle direkt fünf Pesos, umgerechnet 50 Cent.

Keine Fähre wird kommen.

> Keine Fähre wird kommen.

Mittlerweile ist der Strom ausgefallen. Clever, wie ich bin, setze ich mich unauffällig in die Nähe des Legginsstands, wahrscheinlich bricht schon bald der große Ansturm auf die Sandwiches los. Ich will Käse-Schinken! Außerdem besitzt die Frau eine Taschenlampe, das kann heute noch kriegsentscheidend sein.

Einer der Gestrandeten erzählt, drüben in Formosa klare der Himmel angeblich schon wieder leicht auf. Wenn ich das hier überlebe, schreibe ich einen Abenteuerroman. Freitag ist heute auch, das passt ja.

Soll ich schon resümieren? Doch, es hat sich gelohnt, hierher zu reisen. Ich liebe Buenos Aires, ich werde Buenos Aires immer lieben. Aber dort lebend, vergisst man leicht, dass die Stadt nur ein winziger Teil dieses Riesenlandes ist und wahrscheinlich der am wenigsten südamerikanische.

Die Tangosängerin und -komponistin Eladia Blázquez (1931-2005) hat ihre Liebe zu diesem Land und seinen Leuten einst so erklärt:

Wie könnte ich leben, ohne dich zu sehen,
da ich doch weiß: ich gehöre hierher,
wo das Gefühl stets mehr zählt als der Verstand.
Denn Argentinien hat verrückte Schwalben im Herzen,
dort malt sich die Hoffnung immer wieder neue Farben aus
und werden die Menschen nicht müde zu träumen und zu lieben.

Zitat aus dem Reiseführer von Jürgen Vogt: »Argentinien mit Patagonien und Feuerland«

Der Porteño schaut gern mitleidig oder gar abschätzig aufs interior, das Hinterland, und sieht dort alles, was er nicht braucht: schlechten Fußball, unbefestigte Straßen, schmuddelige Restaurants, Hinterwäldlertum auf zwei Beinen, ein kollektives Schlurfen durch den Alltag.3 Langsamer geht es im Nordosten in jedem Fall zu, ich fühle mich regelrecht entschleunigt nach vier Tagen. Nur: Notorisch unpünktlich sind im Prinzip alle Argentinier − die in Buenos Aires allerdings hetzen sich beim Zuspätkommen auch noch ab.

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> Ankunft in Alberdi: die Grenzstation auf dem Río Paraguay

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Die Fähre kommt! Es wird voll werden, aber gegen Nähe habe ich mittlerweile nichts mehr. Gestern Nachmittag, auf der Rückfahrt von Resistencia nach Formosa, schlief im Bus sogar ein kleines paraguayisches Mädchen, drei oder vier Jahre alt, an meiner Schulter. Seine Mutter lag weiter hinten, verteilt über beide Sitze.

Herrschaften, ist das ein Geschnatter an Bord. Holt doch mal Luft! Der Frauenanteil auf diesem Kahn liegt bei mindestens 90 Prozent – der Rest: Bettdecken in durchsichtigen Tragetaschen und ich. Ein Baby hat die Füße auf meinem Schoß gelegt, und jetzt packt seine Mama ihre Brust aus und beginnt zu stillen. Ich halte mal die drei Einkaufstüten so lange, ja? Ach was, kein Problem.

Kannste nicht erfinden.

Alberdi 9

17.36 Uhr. Ich bin tatsächlich pünktlich am Flughafen − das Flugzeug leider nicht. Es steht noch in Buenos Aires. Liegt bestimmt am Unwetter. Zum Glück habe ich Mate dabei.

18.49 Uhr. Für zehn Sekunden Stromausfall im gesamten Flughafen; völlige Dunkelheit.

18.55 Uhr. Um neun soll das Flugzeug starten. Also, in Buenos Aires. Ich könnte natürlich für ein paar Stunden zurück ins Zentrum von Formosa. Aber dann kommt das Flugzeug doch früher an als erwartet. Murphys Gesetz und so. (Argentinien ist sein Lieblingsland.)

19 Uhr. Wie man hört, streiken ein paar Angestellte von Aerolineas Argentinas, um 40 Prozent mehr Lohn zu bekommen und nicht bloß die vereinbarten 25. Das kann eine lange Nacht werden.

19.13 Uhr. ‘Ne Durchsage! Seid doch mal leise! Ruhe dahinten! Der Flug ist gestrichen. Rudelbildung am Check-in-Schalter. Ich bin bereit, die Meute anzuführen. Holt eure Mistgabeln, Leute. Zapft Benzin ab, so viel ihr könnt. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.

19.25 Uhr. Wir sind zu müde für Randale, und morgen Früh um elf kommt ja ein großes Flugzeug. In das passen wir dann alle rein. Verspricht die arme Sau am Check-in-Schalter.

19.27 Uhr. Halt. Morgen ist ja Sonnabend. Da kommt vielleicht doch kein großes Flugzeug. Benzin! Und Mistgabeln! Und Mist! ¡Qué se vayan todos!4

19.35 Uhr. Ich hätte noch viel länger in Alberdi bleiben können.

 

Allerletzter Tag

♦♦♦♦♦

14.35 Uhr. Die Maschine landet mit zwei Stunden Verspätung in Buenos Aires. Wie sich Zivilisation anfühlt? Nun, der Taxifahrer rast mit neunzig durch die Straßen der Hauptstadt, sieben Minuten brauchen wir vom Flughafen bis zur Haustür.

Nie war ich schneller zu Hause.

  1. argentinisch für »hey« []
  2. Schwachkopf oder Depp []
  3. All das kennt der Porteño natürlich auch aus seiner eigenen Stadt. []
  4. »Alle sollen sie verschwinden!«; Schlachtruf der Proteste während der Krise 2001 gegen die Politiker []

Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)