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Andrés, San Iker und der Brunnen vor meiner alten Wohnung

von MARC KOCH (Gastbeitrag)

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Marc Koch ist Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Buenos Aires.

Das ist der traurigste Tag eines langen Fußballlebens.

Ich habe sie 2006 bei der WM in Deutschland aussteigen sehen. Und dann aufsteigen. Jedes Vorbereitungsspiel auf die EM 2008 habe ich mitgemacht. Habe stundenlang Luis »el sabio« Aragonés interviewt, den inzwischen in die ewigen Strafräume eingegangenen spanischen Trainer, den sie den Weisen nennen. Habe verstanden und akzeptiert, warum Raúl, der die Nummer 7 bei Real Madrid hatte, als Cristiano Ronaldo noch im Internat Stühle nach seiner Lehrerin geworfen hat, nicht mehr mitmachen durfte. Ich war Zeuge der Geburt von Tiki-Taka. 33 Spiele lang ungeschlagen.

Dann kam das Turnier 2008. Pässe, bei denen wir vor der Glotze vor Glück niedergekniet haben. Geistesblitze aus dem Mittelfeld, die dem Gegner nur so um die bleischweren Beine gezuckt sind. Paraden von San Iker, dem größten Fußballgott seit Toni Turek. Nach dem Elfmeterschießen im Viertelfinale (mein Gott, ich muss den Text bei meinem Auftraggeber abliefern. Aber das habe ich jetzt doch noch dreimal angeschaut!!) bin ich der Bürgerinitiative »Calle de la madre que parió a Iker Casillas« beigetreten, die einen Straßennamen für Ikers Mutter im Madrider Vorort Mostoles gefordert hat.

 

Sprints von Fernando »El Niño« Torres, der die deutsche Abwehr einfach überlaufen hat. Der deutsche Verteidiger hieß übrigens Lahm. Und sah auch so aus.

Nach dem Finale musste ich in den Brunnen vor meiner damaligen Wohnung in Madrid steigen, um die Fans zu interviewen. Nie wieder habe ich so viel sympathischen und unverstellten Stolz auf ein Fußballteam erlebt. Dieses Team war ein Vorbild: Seit »el Niño« Torres bei Liverpool und später bei Chelsea vom fußballverliebten Kind zum fußballspielenden Mann gereift ist, hat jeder Spanier unter 30 begriffen, dass es nicht schadet, auch die Welt auf der anderen Seite der Pyrenäen ein bisschen kennenzulernen.

2010, Südafrika. Niemand hat wirklich an den Titel geglaubt. Außer mir. Vor meinem Kölner Balkon wehte die spanische Fahne. Der Spott der Sportkollegen, nach dem 0:1, das die Schweiz San Iker ins Tor gestolpert hatte, war kurz. Aber heftig. Dann lief die Ballmaschine wieder. Und konnte im entscheidenden Moment auch mal alle Eleganz kurz weglassen: Carles Puyol, die Abrissbirne im deutschen Strafraum, mit dem 1:0. Dann Finale. Gegen kloppende Holländer. Robben hatte sich damals noch nicht im Griff. Dafür hatte Andrés Iniesta, der wachsbleiche Engel aus einem Ort in der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, den Fuß an der richtigen Stelle.

Weltmeister.

 

Irgendwann, während der Eröffnungsfeier der EM 2012, plötzlich dieses komische Gefühl im Bauch. Erster Gedanke: Das ist die chemisch-verpanschte Plörre aus Quilmes, die der Argentinier Bier nennt. Zweiter Gedanke: Psalm 33, 11: »Aber der Ratschluss des Herrn bleibt ewiglich.« Heißt: Alles andere vergeht. Auch große Mannschaften. Über dem 2012er-Titel schwebte schon eine dunkle Wolke wie eine Warnung. Xavi »el profesor« Hernández zeigte erste Abnutzungserscheinungen. Körperlich. Und auch geistig.

Aber nach dem Finale stand ich mit der spanischen Fahne über den Dächern von Buenos Aires und hab’ den Balotelli gemacht.

Haha! Scherz!

Es musste so kommen. Dieser 18. Juni 2014 war unvermeidlich. Absehbar. Nicht nur, weil der verhaltensauffällige Trainergeck José Mourinho Iker Casillas bei Real Madrid zermürbt hat. Nicht nur, weil Xavi mehr Spritzen in den Achillessehnen hat als ich Haare auf dem Kopf. Nicht nur, weil Diego Costa, der plumpe Stoßstürmer alter Schule, im eleganten Salon des spanischen Fußballs allenfalls den schönen Teppich zertrampelt. Nein, es war einfach Zeit. Es hätte nicht jetzt sein müssen. Und auch nicht so. San Iker, der durch die Grashalme krabbelt. Sergio Ramos mit Doppelklebeband unterm Schuh, der Robben hinterherschaut. Aber irgendwann musste es sein.

Oliver Pocher, ein deutscher TV-Moderator und auch sonst von mäßigem Verstand, hat nach dem Spiel gegen Chile getwittert:

 

Auch von Fußball versteht er nichts. Denn Spanien kommt wieder. Aus den Fußballschulen wird die Generation Tiki-Taka 2.0 erwachsen. Zu viele Jungs zwischen Málaga und A Coruña, zwischen Valencia und Badajoz haben in den letzten acht Jahren gesehen, was schöner, moderner Fußball ist.

Und wer hat’s erfunden? Eben. Und nicht die Schweizer. Wir sehen uns 2016. Nach dem Finale. Im Brunnen vor meiner alten Wohnung in Madrid.

Te queremos de todo corazón, Furia Roja.

WM-Gezwitscher (3)

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unheilbar kranke Lehrer

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich mag Lehrer nicht besonders. Aber ich bin auch Arztsohn, und ein Arztsohn lernt früh, dass Lehrer seltsame, ja schwierige Wesen sind. Lehrer wissen alles besser, sie bringen, wenn sie krank sind, zur Untersuchung eine fertige Diagnose mit – und lassen daran auch nicht rütteln. Sie behandeln Ärzte wie Schüler. Sagen Ärzte. Der medizinische Fachausdruck für diese kaum heilbare Krankheit lautet: morbus teacher.

mit den studenten spiele ich immer beruferaten, die sind immer völlig verblüfft wenn man nach 2min gespräch mit gewichtiger mine sagt, »der patient ist lehrer« – wie lange braucht ihr (ohne blick auf den versicherungsstatus) einen lehrer zu diagnostieren.

Unkorrigierter Kommentar im Forum aerzteblatt.de

Vor ein paar Tagen habe ich Juan getroffen, den Klassenlehrer meines Sohnes im vergangenen Schuljahr. Ich wollte, nein: musste zum Gespräch mit der aktuellen Lehrerin des Achtjährigen, fand aber den Klassenraum der 3B nicht. Zum Glück stand Juan auf dem Flur. Ich begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, mit cheeeeeeeeeeee und Wangenkuss. Aber das Zusammenleben in Argentinien, und besonders das in Buenos Aires, ist nun einmal weniger formal als in Deutschland.

Juan fragte: »Wir kennen uns noch nicht, oder?« Es klang ein wenig vorwurfsvoll, so, als habe er nie eine Chance gehabt, mich kennenzulernen.

»Doch! Doch!«

Ich räume ein: Wir kennen uns nicht sehr, also nicht von Elternabenden, denn die verpasse ich immer, und auch nicht von anderen Veranstaltungen. Die Schule bietet ja allerlei an, Lesungen, Konzerte, hin und wieder sogar einen Spaziergang durchs Viertel auf den Spuren von irgendwas oder irgendwem. Sie meint es sicher gut, und es gibt auch viele Eltern, denen das gefällt, vor allem jenen Müttern und Vätern, die hier einst auch Schüler waren. Es sind die Eltern, die beim Schulfest am Nationalfeiertag nicht bloß das Kulturprogramm der Klasse filmen, sondern auch selbst mitspielen, verkleidet, versteht sich, als historische Figuren, mit Zylinder und angeklebtem Bart.

Aber ich hatte Juan vorher schon einmal auf die Wange geküsst – an dem Abend nämlich, an dem mein Sohn von der Klassenfahrt zurückkam und mir sein Lehrer Ruck- und Schlafsack aus dem Gepäckfach holte.

»Sag noch mal: Wer bist du?«

Irgendwann hatte ich meinen Sohn mal nach Juans Lieblingsfußballklub gefragt, ein Vater will ja wissen, wer auf seinen Erstgeborenen losgelassen wird. Die Insiderinformation machte ich mir jetzt zunutze.

»Du bist von Argentinos, ne? Ihr seid ja gerade abgestiegen. Tut mir leid. Echt.«

Aus Juans Mund kam nur noch ein Knurren. Er schwieg, bis er mich im Klassenraum der 3B abgegeben hatte.

Vor ein paar Stunden habe ich Sergio geschrieben, dem Professor meines Marketingkurses an der Universität Palermo. Es ist nämlich so, dass man sich am kommenden Dienstag an der ersten Klausur noch einmal versuchen kann. Aber dafür muss man die zweite Klausur vom vergangenen Dienstag bestanden haben. Und um nicht umsonst zu lernen, habe ich bislang noch nicht gelernt. Falls ich aber die erste Klausur wiederholen darf, weil ich die zweite bestanden habe, sollte ich allmählich anfangen.

Sergio hatte mir das Ergebnis für »Ende der Woche, schätze ich« angekündigt. Heute ist Sonnabend. Zeit, per Mail ein bisschen Druck zu machen:

Hallo Sergio!

Wie geht es Dir? Ich würde gern wissen, ob das Ergebnis schon da ist. Es wäre für mich als Familienoberhaupt enorm wichtig. Drei Kinder erhoffen mein Scheitern, um am Wochenende mit mir spielen zu können. (Nur meine Frau hofft auf einen Erfolg, um nicht mit mir spielen zu müssen, hahaha.)

Verstehst Du?

Grüße, Christoph

(Übersetzt aus dem Spanischen)

Die Antwort von Sergio:

Christoph, Du hast sehr gut gerechnet und erklärt. Note 6. Ich erwarte Dich am Dienstag.

Einige gewinnen und einige verlieren leider mit Deiner bestandenen Prüfung, hahahaha.

Schönes Wochenende!

Argentinien hat das Notensystem 10 (100 Prozent richtig) bis 1 (10 Prozent und darunter). Note 6 bedeutet im Grunde: gerade so durchgekommen. Aber ich bin ja Ausländer. Da entspricht die 6 mindestens einer 9. Ich werde also für Dienstag gar nicht viel lernen müssen. Ich liebe diesen Professor.

Ärzte mag ein Arztsohn übrigens auch nicht besonders. Warum? Weil er zu oft gehört hat: »Was tut weh? Wo? Hier? Ach, stell dich nicht so an!«

 

Abschlusstraining

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

Bevor am Sonntagabend die Weltmeisterschaft in Brasilien beginnt, verteile ich noch ein paar Lesebefehle. Ich erwarte, dass sich alle ordentlich vorbereiten auf Argentiniens Spiel gegen Bosnien-Herzegowina. Anpfiff in Río de Janeiro ist um 19 Uhr oder Punkt Mitternacht in Deutschland.

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Andreas Geipel von Argifutbol (Argentinischer Fußball auf Deutsch) hat gleich mal das ganze große Besteck ausgepackt. Hier bei uns wird ja eher aus dem Ärmel geschüttelt, wobei ich oft vergesse, vorher was hinein zu tun. Dort drüben, ach ja, ein ganz anderes Niveau, wobei der Geipel natürlich auch schüttelt — aber bei ihm kommt halt was heraus. Jedenfalls: Nach dem Lesen weiß man alles, was man wissen kann über Kader, Taktik und Aufstellung des kommenden Weltmeisters. Man könnte drei Tage in dem Text verbringen.

Auftrag Maracanazo

»Am besten platzieren sie einen Helikopter am Spielfeldrand, dann können sie sofort flüchten, sobald das Endspiel gewonnen ist«, sagt Stürmerlegende Hernán Crespo mit stolzem Lächeln und verschmitzen Blick. Der ehemalige Weltklassestürmer trägt sein Herz auf der Zunge und spricht aus, was 40 Millionen Argentinier denken: »Wir wollen endlich wieder den Titel holen! Am liebsten im Finale gegen den Erzrivalen Brasilien.« Markante Worte, wie man es aus dem Land des zweifachen Weltmeisters gewohnt ist. Die Albiceleste um Superstar Lionel Messi ist heiss und hat einen klaren Auftrag: Maracanazo, der Finalsieg im altehrwürdigen Estádio do Maracanã. Weiterlesen

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Marc Koch, Lateinamerika-Korrespondent der Deutschen Welle, stellt das Projekt Dritter WM-Titel vor. Er hat Ezequiel Fernández Moores getroffen, den vielleicht tollsten argentinischen Sportjournalisten. Brillant geschrieben ist der Text obendrein. Nur diese Gemeinheit gegen meinen Quilmes Atlético Club (»hüftsteifer Vorstadtverein«) hätte er sich natürlich verkneifen müssen.

Messi und Co. im Auftrag der Nation

(…) Sogar die vielbeschworenen äußeren Umstände scheinen es diesmal gut mit Argentinien zu meinen. Zu gut, fanden viele Beobachter nach der Auslosung der Gruppengegner: Die Gruppe F mit Nigeria, Iran und Bosnien-Herzegowina gilt im Vergleich zu anderen Kombinationen als gehobene Trainingseinheit. Und weil die »Albiceleste« nicht nur im nahegelegenen und klimatisch angenehmen brasilianischen Süden spielt, sondern dort schon vor der Auslosung ein Quartier angemietet hatte, liegt die Frage nahe, ob denn alles mit rechten Dingen zugegangen sei. »Natürlich!«, versicherte die FIFA umgehend. Experte Fernández Moores gibt höflich lächelnd zu Bedenken: »Als ich gesehen habe, dass ausgerechnet England und Italien bei 40 Grad im Schatten spielen müssen, dachte ich: Oh oh, das ist ein Hinweis von Südamerika!« Weiterlesen

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Mutti, der Libero, weiß aus bestens unterrichteten Kreisen, wer Weltmeister wird.

Endlich transparent: FIFA gibt die nächsten WM-Ergebnisse von Gastgeber Brasilien bekannt

In der Debatte um mehr Transparenz beim Fußball-Weltverband hat FIFA-Boss Joseph Blatter am Freitag eingelenkt: Der Schweizer ließ unmittelbar nach dem Eröffnungsspiel gegen Kroatien alle kommenden Turnier-Resultate des brasilianischen Teams veröffentlichen – inklusive des Endspielsieges gegen Titelverteidiger Spanien. Weiterlesen

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Für alle, die Spanisch sprechen: Hier steht, warum Argentinien so gute Chancen hat, endlich mal wieder Weltmeister zu werden.

Por qué Argentina puede ser campeón mundial

(…) Todo puede pasar. Pero aún Brasil, el gran candidato a ganar el título en casa, le teme a nuestra Selección. No quieren otro Maracanazo y mucho menos contra el rival de toda su vida. La pesadilla de Pelé y compañía es ver a Messi levantar la Copa en 2014. Weiterlesen

Hahaha, auf Pelés Gesicht, wenn Messi den WM-Pokal hochhält, freue ich mich auch schon.

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Schon ein paar Monate alt: Reporter Alexander Osang besucht, nein sucht für den Spiegel das deutsche WM-Quartier. Zum Brüllen komisch. Und warum? Auch, weil Osang weiß, was sich gehört: Er macht sich selbst noch ein bisschen mehr fertig als alle anderen.

Alemanha? Futebol?

(…) Ich begann eine Rede, in der ich die Anwesenden darüber informierte, was es bedeutet, Gastgeber einer Weltmeisterschaft zu sein. Ich erklärte ihnen, dass São Paulo ja wohl keinen Dorfflughafen betreiben dürfe. Ich hielt die Rede auf Englisch und bin mir ziemlich sicher, dass das Wort Responsibility vorkam. Verantwortlichkeit. Ich dachte an die halbfertigen Stadien, die unzufriedenen Bürger Brasiliens, das Sommermärchen von 2006 und an das Knie von Sami Khedira. Ich wies alle auf die Notwendigkeit einer ordentlichen Beschilderung hin. Weiterlesen

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Zum Schluss der Hinweis auf meine erste Kolumne aus Buenos Aires, 23. Juli 2012, aber im Grunde Sommer 1986:

Diego und die Holzfäller

Ich war acht Jahre alt und ganz sicher nicht einmal der klügste Achtjährige in meiner Straße, und ich bin nicht in einer Straße wie der Avenida Rivadavia aufgewachsen, die 35 Kilometer lang ist. Meine Straße hieß Ipser Weg. Kürzer geht’s kaum. Vielleicht erklärt das, was jetzt kommt.

Das erste Mal habe ich von Argentinien am 29. Juni 1986 gehört. Ich weiß das genau, obwohl seitdem ordentlich Zeit vergangen ist – wie viel genau, spielt jetzt keine Rolle, bitte. Ich saß an diesem Sonntagabend vor dem Fernseher, bestimmt trug ich einen gestreiften Schlafanzug, und die deutsche Nationalmannschaft stand gegen Argentinien im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko. Wahrscheinlich habe ich damals »BRD« gesagt. Meine Heimat war die DDR, und wer in der DDR lebte, der sagte auch »BRD«, nicht »Bundesrepublik« und nicht »Deutschland«. Weiterlesen

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Und zur Entspannung gucken wir jetzt ein kurzes Video, in dem ich eine tragende Rolle habe — und mein Argentinientrikot auch. Cristian, Sebastián und Cristian, drei Jungs, mit denen ich Fußball spiele, erzählen, wie Argentinier eine Weltmeisterschaft erleben, und sie packen richtig aus. Weil der Beitrag auf Spanisch ist, fasse ich mal den Wahnsinn um Rituale schnell zusammen: Jedes Spiel von Argentinien wird mit denselben Leuten geschaut; die dürfen aber nicht quatschen, sondern höchstens ein Tor bejubeln. Die Stühle bleiben bis zur nächsten Partie stehen, nichts darf verrückt werden. Sebastián hat auch immer zwei Kreuze in der Hand und stoppt obendrein mit der Uhr die Spielzeit. Wie, die wird links oben eingeblendet? Hallo! Das haben wir schon immer so gemacht. Soll Argentinien ausscheiden, weil wir rational geworden sind?

Ich bitte, den eleganten und geschmeidigen Jüngling im weißen Quilmes-Trikot zu beachten. Wie er das Spiel lenkt — herrlich. Und am Ende hält er sogar noch einen sogenannten Unhaltbaren.

Don Julio, Coqui und die singenden Schränke: Wie in Argentinien mit Fußball Politik gemacht wird

von CHRISTOPH WESEMANN

Stellen wir uns vor, dass neulich, als Bundestrainer Joachim Löw seinen vorläufigen WM-Kader bekanntgab, Kanzleramtsminister Peter Altmaier dabeigesessen hätte, der Mann, der die Regierungsgeschäfte koordiniert. Stellen wir uns außerdem vor, dass vorher beim Deutschen Fußballbund ein Anruf aus dem Kanzleramt eingegangen wäre mit der dringenden Bitte an Löw, seinen Auftritt um ein paar Stunden zu verschieben – Herr Altmaier könne erst am späten Nachmittag beisitzen. Am Abend sprach dann zunächst Altmaier, er grüßte von Angela Merkel und blickte dabei unter anderem auf Sigmar Gabriel. Der Wirtschaftsminister war nämlich auch da. Und eine ganze Schar weiterer Prominenz aus dem Regierungslager.

Absurd?

Genau so war es in Argentinien. Am frühen Abend des 13. Mai, als Trainer Alejandro Sabella seine 30 Spieler benannte, saß neben ihm Jorge Capitanich, der Kabinettschef der Präsidentin, Spitzname: Coqui. Fast wäre er wegen anderer Termine nicht gekommen. Aber glücklicherweise hatte jemand aus dem Regierungspalast beim Fußballverband angerufen und gebeten, die Veranstaltung zu verschieben. Auch andere Minister und hochrangige Funktionäre hatten nichts Besseres zu tun, als dem Trainer der Nationalmannschaft Gesellschaft zu leisten. Der öffentliche Sender Canal 7 übertrug. Die privaten Sportkanäle wollten auch und durften nicht.

Kabinettschef Jorge Capitanich (l.), Nationaltrainer Alejandro Sabella (M.) und Verbandspräsident Julio Grondona                              Foto: Casa Rosada

»Während der WM wird in Argentinien nicht über andere Dinge geredet werden. Das beweist die Fußballleidenschaft des argentinischen Volkes«, sagte Capitanich und lachte. Er überbrachte »herzliche Grüße« der Präsidentin Cristina Kirchner und lobte die Politik der Regierung. »Es gibt 13 000 Dorfschulen mit Fernsehanschluss, um die WM zu gucken. Es wird möglich sein, die 64 Partien an öffentlichen und halböffentlichen Plätzen über Antenne zu schauen.«

Dann erst durfte Sabella den vorläufigen Kader verkünden.

 

Nun spielt die Politik auch anderswo gern mit dem Fußball (und dem Sport insgesamt). Fußball ist fast überall auf der Welt ein Massenauflauf, zumal in Deutschland, er ist vielleicht das letzte Lagerfeuer, um das sich das Fernsehvolk noch versammelt. Und wo es kuschelig und gemütlich ist, sind immer auch Politiker.

Die Regierung von Cristina Kirchner aber hat sich in den argentinischen Fußball eingekauft. Um die 500 Millionen Euro soll das Regierungsprogramm Fútbol para Todos (Fußball für Alle) seit seiner Einführung 2009 gekostet haben. Dafür werden alle Spiele der ersten Liga (und wichtige der zweiten) von freitag- bis montagabends live im staatlichen Fernsehen gezeigt. Vorher waren die Partien nur gegen Geld zu sehen – fútbol para pocos, Fußball für wenige, wie einer der kirchnertreuen Spielkommentatoren  sagt.

Dafür aber wird nun bis in die Anstoßzeiten hineinregiert. Das jeweilige Spitzenspiel am Sonntagabend beginnt mittlerweile nicht mehr um halb neun, sondern erst eine Stunde später – und endet damit kurz Mitternacht. Verfügt wurde das, um die Einschaltquoten von Periodismo para Todos (Journalismus für Alle) zu drücken. Die beliebte Sendung deckt politische Skandale im Kirchnerland auf, nimmt die Erfolgsmeldungen der Regierung auseinander – und schlägt oft obendrein noch in der Zuschauergunst die Großklubs Boca oder River, die gerade auf einem anderen Kanal zu sehen sind.

Der Superclásico 2014 zwischen den Boca Juniors und River Plate in der Bombonera

Vielleicht sind die wahren Ausgaben für den kostenlosen Blick auf den Kick auch noch höher, denn die Regierung verschleiert gern und packt dann ein paar Millionen in den Nachtragshaushalt. In diesem Jahr soll Fútbol para Todos pro Tag – wohlgemerkt: nicht pro Spieltag – 450 000 Euro verschlingen. Eine ordentliche Summe ist das für ein Land, das in weiten Teilen noch immer bettelarm ist.

Die Einnahmen, wenn der Ball im Fernsehen rollt, sind indes gering. Es gibt zwar einen TV-Hauptsponsor, dessen Lastwagen hin und wieder eingeblendet werden; die meiste Zeit wird jedoch die Regierung beworben – mit dicken Bauchbinden am Bildschirmrand während der Übertragung, mit Reklamefilmen in der Halbzeitpause und lobenden Worten der Reporter.

»Fútbol para Todes gibt es ja nicht, um Geld verdienen«, hat Hebe de Bonafini gesagt, die Anführerin der regierungstreuen Fraktion der Mütter der Plaza de Mayo. »Es ist dafür da, Politik zu machen.« Sie berief sich dabei auf Néstor Kirchner, den 2010 verstorbenen Ex-Präsidenten und Erfinder der kostenlosen Fernseh-Propaganda mit dem Ball.

Jorge Capitanich, der Chef des Kabinetts (l.), und Julio Grondona, der Präsident des argentinischen Fußballverbands                  Foto: Casa Rosada

Über allem und allen thront jedoch in Argentinien Julio Grondona, genannt Don Julio, Chef des Fußballverbandes (Afa) seit 1979 und auch erster Vizepräsident des Weltverbandes Fifa. Die Regierung kauft der Afa die Übertragungsrechte ab und finanziert so Grondonas Reich. Der wiederum verteilt die Beute an die Klubs, deren Präsidenten im Hauptberuf oft Politiker sind – Minister, Abgeordnete, Senatoren, Parlamentspräsidenten – oder es werden wollen, falls sie es nicht schon waren. Die Vereine verschaffen ihnen Prestige und eine halbkriminelle Fantruppe namens Barra Brava (Wilde Horde), eine exklusive Gemeinschaft singender Schränke. Sie sorgt für die Stimmung im Block, zieht aber auch mit in den Wahlkampf, trommelt Demonstranten zusammen oder blockiert ein Fabriktor – und wird reichlich entschädigt: mit Eintrittskarten für den Schwarzmarkt, der Kontrolle über Imbissstände und Parkplätze rund ums Stadion, mit Narrenfreiheit und politischem Schutz.

Am Ende haben alle profitiert, es gibt keine Verlierer in diesem System, keine Opfer – und nur die hätten Grund, sich gegen die Korruption zu wehren.

Die Barra Brava von Ferro Carril Oeste, einem Hauptstadtklub aus der zweiten Liga

Die Barra von Vélez Sarsfield im Estadio El Monumental

Julio Grondonas Markenzeichen war jahrzehntelang der goldene Ring am kleinen Finger der linken Hand mit dem eingravierten Spruch: »Todo pasa«, alles geht vorüber. Sein Lebensmotto. Nichts hat ihn zur Strecke gebracht. Journalisten veröffentlichten Auszüge seiner vollen Auslandskonten, die argentinische Justiz ermittelte, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, die Fehlerchen der Ehrenmänner dieser Welt, todo pasó, alles ging vorüber.

Doch dann starb am 12. Juni 2012 seine Frau Nélida Pariani, genannt Nelly, und der Witwer zog den Ring ab. »Die Probleme der Arbeit, des Fußballs, der privaten Angelegenheiten – alles geht vorüber«, erzählte Don Julio später. »Aber solche Dinge nicht.« Wobei auf aktuellen Bildern am Ringfinger etwas Goldenes funkelt, das dem abgelegten Stück zumindest ähnelt.

Zwölf Präsidenten hat Grondona (82) als Fußballboss überlebt, wobei man ihm zugute halten kann, dass Argentinien wegen des Komplettzusammenbruchs vor fast dreizehneinhalb Jahren zwischen dem 21. Dezember 2001 und dem 2. Januar 2002 von fünf Staatschefs regiert wurde.

Und weil Argentinier gerne übertreiben und obendrein noch am Abgrund stehend Weltklasse beanspruchen, spricht das Volk heute von cinco presidentes en una semana.

Fünf Präsidenten in einer Woche: Das hat ja wohl außer uns auch noch keiner geschafft, eh?

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Für Freunde der Statistik: die fünf Präsidenten

  • 21. Dezember 2001: Rücktritt von Fernando de la Rúa
  • 21. bis 22. Dezember 2001: Ramón Puerta
  • 23. bis 30. Dezember 2001: Adolfo Rodríguez Saá
  • 31. Dezember 2001 bis 1. Januar 2002: Eduardo Camaño
  • 2. Januar 2002: Amtsantritt von Eduardo Duhalde (bis 25. Mai 2003)

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskartenkomödie – Epilog

von CHRISTOPH WESEMANN

Wenn nichts mehr dazwischenkommt, schauen wir nachher im Stadion von River Plate das Länderspiel Argentinien gegen Trinidad und Tobago: M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo, mein Sohn und ich. Aber in Argentinien und mit Argentiniern kommt ja immer was dazwischen. Trotzdem beenden wir die Eintrittskartenkomödie jetzt mit einem Epilog. Ich kann nämlich nicht mehr.

Wir erinnern uns:

Wie schon in den ersten drei Akten wird auch diesmal über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat kommuniziert. Pablo und M. kennen sich immer noch nicht. Zum besseren Verständnis sind die spanischen Sätze ins Deutsche übersetzt worden — es reicht ja, ganz genau, wenn die Akteure bis zum Ende nicht miteinander klargekommen sind.

Dienstagmittag

M. → ICH Wie sieht’s aus?

M. → ICH Hat Pablo die Karten?

M. → ICH Bist Du da?

M. → ICH Du bist sonst immer da.

M. → ICH Hallo?

ICH → PABLO Cheeeeeeeeee Dicker, was ist denn jetzt? Ich kann M. nicht mehr lange hinhalten.

M. → ICH Haaaaaaaalllllloooooooooooooo?

PABLO → ICH Alles okay. Mach Dir keine Sorgen. Heute hole ich die Karten. Ich sag Dir Bescheid.

ICH → M. Tut mir leid, ich habe kein Internet.

M. → ICH Aber ich schreibe Dir doch die ganze Zeit SMS.

ICH → M. Achso.

M. → ICH Und?

ICH → M. Pablo ist optimistisch. Er ist so grenzenlos optimistisch, er könnte bereits naiv sein.

Dienstagabend

Die Karten

PABLO → ICH Hier sind sie, Heulsuse! Na, wie habe ich das gemacht?

ICH → PABLO Jetzt willst Du bestimmt einen Orden.

PABLO → ICH Gebt mir einfach 350 Peso pro Karte.

ICH → PABLO Gestern waren es noch 250.

PABLO → ICH Es sind zusätzliche Kosten angefallen.

ICH → PABLO Und das ganze Chaos war ja auch nicht Deine Schuld.

PABLO → ICH Genau.

ICH → M. Er hat die Karten! Argentina! Argentina! Argentina!

M. → ICH Hast Du sie gesehen?

M. → ICH Ist auch das Logo vom Fußballverband drauf?

M. → ICH Rattern sie, wenn sie durch die Finger laufen?

M. → ICH Immer noch kein Internet?

ICH → M. Mein Lieber, die gefälschten Fußballkarten in Argentinien rattern; die echten, die schnalzen! Bekommst gleich ein Foto.

M. → ICH Schpeck!Ta!Ku!Lär! Ein′ Pa-hab-lo-ho, es gibt nur ein′ Pa-hab-lo-ho, ein′ Pa-hab-loooooo-hooooooooo, es gibt nur ein′ Pa-hab-lo-ho.

ICH → M. Er will auf einmal doch 350 pro Karte. Nicht 250.

M. → ICH Wir zahlen, was drauf steht.

ICH → M. Dürfen wir ihm bloß nicht vorher sagen. Sonst verbringt er die Nacht mit Lupe und Schere schnippelnd über Zeitungen, um ein paar 3en zu finden, die er über die 2en kleben kann.

M. → ICH Wie machen wir es eigentlich morgen?

ICH → M. Ist ja nicht weit. Bus oder zu Fuß.

M. → ICH Ich gehe auf keinen Fall zu Fuß.

ICH → M. Und Du willst mit mir im Oktober 70 Kilometer nach Luján zu unserer heiligen Jungfrau pilgern? Da habe ich Dich ja schon am Ortausgang von Buenos Aires huckepack.

M. → ICH Ich fahre Rad. Oder Pick-up. Und stelle am Ziel schon mal das Bier kalt.

ICH → M. Das zählt aber nicht.

M. → ICH Wieso? Wäre doch typisch argentinisch. Solange es keiner merkt…

ICH → M. Stimmt auch wieder. Und falls Du erwischt wirst, streitest Du erst alles ab und weinst dann dramatisch.

M. → ICH An der Schulter eines Pfarrers!

Dienstagnacht

PABLO → ICH Könnt Ihr eigentlich unsere herrliche Hymne singen?

ICH → M. Pablo fragt, ob Du bei der Hymne textsicher bist.

M. → ICH Also, ich habe gerade kein Internet.

ICH → M. Puh, ich ja auch nicht.

 

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskartenkomödie – Teil 3

von CHRISTOPH WESEMANN

M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo und ich werden am Mittwoch das Länderspiel von Argentinien gegen Trinidad und Tobago besuchen. Ganz sicher. Vielleicht. Wohl eher nicht. Also Pablo schon.

Wir erinnern uns: Im ersten Teil der Eintrittskartenkomödie waren M. und ich daran gescheitert, die Tickets zu besorgen. Im zweiten Teil hatte Pablo, der König des Einmaleins, horrende Forderungen gestellt. Und nun: eine unerwartete Wendung, die uns sagen will, dass bisher doch alles harmlos gewesen ist.

Wie schon im ersten Teil und zweiten Teil, wird auch diesmal über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat kommuniziert. Pablo und M. kennen sich immer noch nicht. Zum besseren Verständnis sind die spanischen Sätze ins Deutsche übersetzt worden — es reicht ja, ganz genau, wenn die Akteure ein drittes Mal nicht miteinander klarkommen.

Kartennachricht

Montagnachmittag

ICH → M. Ich habe übrigens gestern Pablo getroffen und für uns 600 Peso bei ihm angezahlt. Nicht, dass er noch, weil das Spiel zufällig ausverkauft ist, unsere Karten auf dem Schwarzmarkt vertickt. Sie kosten aber nur 250 pro Person, nicht 350. Er wollte uns veräppeln.

M. → ICH Toll. Dann komme ich gleich vorbei und hole mein Kärtchen ab. Ich weiß nämlich noch nicht, ob wir uns am Mittwoch bei Dir treffen oder erst im Stadion.

ICH → M. Die Karten habe ich noch nicht.

M. → ICH DU HAST IHN BEZAHLT, UND DU HAST KEINE TICKETS? Darauf einen Fernet-Cola. Oder drei. Schwester, reich mir mein Tagebuch…

ICH → M. Hör auf, ich kenne Pablo schon lange, und außerdem hat er mir seine Hand drauf gegeben.

M. → ICH Ach, das beruhigt mich jetzt total. Der Argentinische Handschlag, schon viel von gehört. Weltberühmt! Der Handschlag, mit dem man ein Geschäft besiegelt und der mehr wert ist als jeder Vertrag – eine argentinische Erfindung, ja, jetzt, wo Du’s sagst. Wissen das die hanseatischen Kaufleute eigentlich schon?

ICH → M. Hab’ doch ein bisschen Vertrauen, alemán.

M. → ICH Jeder argentinische Taxifahrer sagt Dir ungefragt: »Dieses Land ist voller Diebe.« Und gleich darauf fährt er mit Dir einen hübschen Umweg.

ICH → M. Am Freitag habe ich zum ersten Mal mit Ecuadorianern Fußball gespielt. Stell Dir vor: Keiner flucht, niemand beschimpft den anderen, und der Einzige, der sich für Diego Maradona gehalten hat, war ich. Fürchterlich.

M. → ICH Ecuadorianer mögen’s sowieso eher gemütlich. Ihr einziger Olympiasieger war ein Geher. Atlanta 1996.

ICH → PABLO Hallo mein Bruder, wie geht’s? M. hat Angst, dass Du uns die Karten nicht geben wirst. Feste Umarmung.

PABLO → ICH Deutsche, hahahaha. Sehr feste Umarmung, Bruder.

ICH → PABLO Ein Schwachkopf. Er trinkt weder Mate noch Quilmes.

PABLO → ICH Mit so einem gehe ich ins Stadion?

ICH → PABLO Ich habe ja auch mit Ecuadorianern gekickt.

PABLO → ICH Oh Gott, die spielen wie Mädchen einer katholischen Schule. Und fluchen können die auch nicht, oder?

ICH → PABLO Schick mir mal ein Foto von den Karten, dann kann ich ihn beruhigen.

PABLO → ICH Welche Karten?

ICH → PABLO Sehr witzig.

PABLO → ICH Du bist wirklich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der einem Argentinier Geld gibt, ohne von ihm die Ware zu fordern. Nicht der andere Deutsche ist also schwachköpfig.

Kurz vor Mitternacht

PABLO → ICH Kannst Du das glauben? Ich habe meine Kreditkarte weggeworfen, die, mit der ich online unsere Eintrittskarten bestellt hatte. Jetzt weiß ich leider nicht, wie ich an die Tickets kommen soll. Keine Ahnung, ob sie mir die aushändigen werden. Willst Du wissen, was passiert ist? Also, ich hatte die Karten ja mit meiner Visa bezahlt, und weil der Magnetstreifen schon ein bisschen kaputt war, habe ich eine neue angefordert. Als ich die neue Visa dann hatte, habe ich die alte weggeschmissen!!!! Hahahaha. Ich schwöre Dir, es stimmt. Also habe ich jetzt keine Karte, die ich vorzeigen kann, wenn ich unsere Tickets abhole. Aber, bleib ganz ruhig. Ich glaube, ich wiederhole: ich glaube, dass ich das Problem lösen werde. Hahahaha.

ICH → PABLO Ich habe keine Ahnung, wie ich das unserem deutschen Freund beibringen soll. Und meinem Sohn, dem größten Messi-Fan Argentiniens.

PABLO → ICH Das ist Argentinien.

VORHANG

 

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskartenkomödie – Teil 2

von CHRISTOPH WESEMANN

M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo und ich wollen immer noch zum Länderspiel von Argentinien am 4. Juni. Mein Sohn hat sich auch zum Messigucken angemeldet. Nachdem M. und ich am Kartenkauf gescheitert sind, kümmert sich Pablo seit einer Woche darum, und natürlich hat er alles im Griff. Wie schon im ersten Teil, wird auch diesmal über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat kommuniziert. Pablo und M. kennen sich immer noch nicht. Zum besseren Verständnis sind die spanischen Sätze ins Deutsche übersetzt worden — es reicht ja, ganz genau, wenn die Akteure abermals aneinander vorbeireden.

Teil 2 der Eintrittskartenkomödie

Dienstag

M. → ICH Was machen eigentlich unsere Karten fürs Länderspiel von Kun und Leo gegen Trinidad und Tobago?

ICH → M. Ich frag mal Pablo.

ICH → PABLO Mein Freund, wie geht’s? Hast Du die Karten gekauft? Ich vermisse Dich. Feste Umarmung.

PABLO → ICH Alter, wie geht’s? Oh, das habe ich vergessen, und jetzt bin ich gerade zur Tür rein. Mach ich übermorgen. Du fehlst mir auch. Sehr feste Umarmung.

ICH → PABLO Aber es tut Dir bestimmt leid.

PABLO → ICH Hä?

ICH → PABLO Dass Du es vergessen hast.

PABLO → ICH Du hast mich nicht daran erinnert.

ICH → M. Pablo hat übrigens vergessen, dass er die Karten kaufen will.

M. → ICH Ich hatte nichts anderes erwartet.

Donnerstag

ICH → PABLO Karten?

PABLO → ICH Längst gekauft!

ICH → PABLO Perfekt. Willst Du Geld haben, oder sind die Karten ein Geschenk?

PABLO → ICH Geld.

ICH → PABLO Wie viele Raten ohne Zinsen?

PABLO → ICH 950 Peso, zinslos in einer Rate.

ICH → PABLO 950? Die Hure, die Dich geboren hat! Wir hatten doch ausgemacht: nicht mehr als 250 pro Karte!

PABLO → ICH Aber ich habe doch 3 gekauft.

ICH → PABLO Hä?

ICH → M. Pablo hat die Karten besorgt. 950 Peso für drei.

M. → ICH WTF? Wir hatten doch ein Limit gesetzt!

ICH → M. Ja.

M. → ICH 250, oder?

ICH → M. Aber er hat ja 3 gekauft.

M. → ICH Hä?

ICH → M. Kennst Du einen weltberühmten argentinischen Mathematiker?

M. → ICH Nee.

ICH → M. Siehste.

M. → ICH Sind wenigstens die Cheerleader im Preis mit drin?

ICH → M. Ach, Pablo wird was einstreichen, vermute ich. Argentinier halt.

M. → ICH Jetzt ist mir klar, warum er sich so gerissen hat um den Auftrag. Wahrscheinlich stottert der Gauner über Monate den Betrag heimlich über seine Kreditkarte ab, und bei der Inflation in diesem Land ist er am Jahresende fast umsonst ins Stadion gekommen.

ICH → M. Wir sind auch selbst schuld. Dieses Land bricht ja nicht umsonst alle zehn bis 15 Jahre zusammen.

ICH → PABLO Ich gebe Dir 750. Du musst lernen, mit einem Budget auszukommen!

PABLO → ICH Und was ist mit der ganzen Arbeit, die ich hatte? Das waren locker 200 Peso. Wie war übrigens Deine Marketingklausur?

ICH → PABLO Darüber möchte ich nicht reden.

M. → ICH Das muss ins Tagebuch! Und eine Kopie an den Pariser Club, damit die sehen, wie hier gewirtschaftet wird.

VORHANG

Pablo, zwei Deutsche und die Eintrittskarten-Komödie

von CHRISTOPH WESEMANN

Logo des WM-Tagebuchs - Zeichung: Danü (Daniel Schlierenzauer)

M., der andere Deutsche in Buenos Aires, mein Freund Pablo und ich wollen zum Länderspiel von Argentinien gegen Trinidad und Tobago am 4. Juni. Um die Karten kümmert sich M., Pablo hilft ihm, und ich vermittele zwischen den beiden, weil sie sich noch nicht kennen. Kommuniziert wird über SMS, WhatsApp und Facebook-Chat, auf Deutsch und Spanisch. Damit der Leser das Stück versteht, wird jetzt aber deutsch gesprochen. Es genügt ja, dass sich die Akteure nicht verstehen.

ICH → M. Haste schon die Karten besorgt?

M. → ICH. Nein. Ticketek behauptet, dass die nur online oder per Telefon verkauft werden. Was ich nicht mache, weil ich ja die Daten meiner Kreditkarte keinem in diesem Land anvertraue.

ICH → M. Ich auch nicht.

M. → ICH. Es wäre natürlich blöd, nach Abasto zum Verkaufsschalter zu fahren und dann nix zu bekommen.

ICH → M. Ich frage mal Pablo. Ich war ja mit ihm schon bei einem Länderspiel.

ICH → PABLO. Cheeeeeeee Schwachkopf, wie geht’s? Alles gut? Sag mal, wo und wie in der Stadt hast Du damals die Karten gegen Peru besorgt? Feste Umarmung.

Abasto

M. → ICH. Wenn es offline doch geht, würde ich am späten Nachmittag losziehen. Kommste mit?

ICH → M. Später Nachmittag? Haha. Drei Kinder.

M. → ICH. Morgen Früh (also: was ich früh nenne!) könnte ich eventuell auch.

ICH → M. Morgen Früh kann ich keinesfalls, egal, wie früh. Muss eine Torte holen und Kaffee kochen, weil die Mittlere um 12.30 Uhr mit dem halben Kindergarten ihren Geburtstag nachfeiert. Habe ich eine Lust! Mit fünf Jahren Geburtstag feiern, fffffff, vergisst sie doch sowieso alles wieder. Oder hast Du noch Erinnerungen an Deinen fünften Geburtstag? Mit zehn, okay, aber fünf? Totale Geld- und Zeitverschwendung.

M. → ICH. Lass das mit dem Fest! Am Ende heult nur wieder einer. Oder kotzt.

PABLO → ICH. Wie geht’s, dicker Deutscher? Alles gut? Weißt Du noch, wie wir die Peruaner fertiggemacht haben? 3:1, und das ohne Leo Messi! Zweimal Ezequiel Lavezzi, einmal Rodrigo Palacio. Gegentor von Claudio Pizarro. Der ist noch bei Bayern München, oder? Das mit den Karten weiß ich nicht mehr. Du gehst auf www.google.com und gibst ein: »Entradas, partido, Argentina«. Feste Umarmung, geliebter Freund.

ICH → PABLO. Gracias, Einstein!

ICH → M. Pablo sagt, Du sollst googlen, und zwar: »Karten, Partie, Argentinien«. Ich habe mich mit »Gracias, Einstein« bedankt. Ich denke, das war in Deinem Interesse.

M. → ICH. Keine Ahnung, was mich mehr begeistert: die Hilfsbereitschaft der Argentinier oder ihre praktische Intelligenz.

ICH → M. Rührend.

M. → ICH. Man muss sie einfach lieb haben.

PABLO → ICH. Ticketek? Naja, Google sagt Dir ja, wo’s die Karten gibt.

ICH → PABLO. Aber wir haben keine Kreditkarte, um online zu kaufen.

PABLO → ICH. Ihr habt keine Kreditkarte? Was seid Ihr denn für Idioten? In Argentinien hat jeder fünf. Mindestens.

ICH → M. Pablo sagt übrigens noch mal: »Google«.

M. → ICH. Ja, nee, schon klar. Kann ich ihm was Gutes tun? So hat uns ja kaum jemand jemals weitergeholfen.

PABLO → ICH. Leute, ich kaufe die Karten.

ICH → PABLO Sicher?

PABLO → ICH Gar kein Problem für mich.

ICH → M. Jetzt wird es richtig kompliziert.

M. → ICH Noch komplizierter? Glaub‘ ich nicht.

ICH → M. Pablo will die Karten kaufen.

VORHANG.

Glückliche Hühner, ein 1:0-Horrorfilm und der Peter Neururer von Argentinien

von CHRISTOPH WESEMANN

Aua, das hat weggetan. Mein Quilmes Atlético Club ist gestern Abend heftig vermöbelt worden, ein Tor schöner, also furchtbarer als das andere. Nullfünf im Estadio Monumental, der Riesenschüssel der gallinas, der Hühner, wie River Plate und seine Fans auch genannt werden. Und weil River (→ ehemaliger Zweitligist) mal wieder argentinischer Meister ist, zum 35. Mal, gackerten 63 000 rotweiße Hühner ihre scheußlichen Lieder. Die Spieler bestiegen einen offenen Bus und drehten eine Stadionrunde.

 

River 5

River 4

River 3

River 2

River 1

Ich bin ja vor fast zwei Jahren nach Argentinien als Fan der Boca Juniors eingewandert, um dann zu festzustellen, dass der Klub viel zu groß für mich ist. Man kommt auch nicht an Eintrittskarten, jedenfalls nicht auf legalem Wege, und außerdem ist Boca total überlaufen von Ausländern, die sich argentinisch benehmen wollen. Heute bin ich Sympathisant  – und sobald es gegen River geht,  ein wieder Frischverliebter.

Gestern ist mein Herzensklub gegen den Intimfeind meines Kopfklubs untergegangen. Das führte bei mir im Stadion zum Zustand vollkommener Benommenheit – als würde mich jemand würgen, nachdem er mir reichlich Valium verabreicht hat.

Aber ich habe nicht geweint, vielleicht auch nur, weil das ringsherum schon die Hühner taten.

Außerdem war es eine herrliche Saison des Quilmes Atlético Club. Erstens: nie mehr zweite Liga, nie mehr, niemehrniemehr. Wir bleiben auch zwei Jahre nach dem Aufstieg erstklassig. Zwischendurch waren wir natürlich schon fast abgestiegen. Der erste Trainer hatte sich Mitte Oktober nach einem Heimspiel mit einem maulenden Zuschauer geprügelt und war daraufhin zurückgetreten. Sein Nachfolger verlor Spiel um Spiel. Erst unter Ricardo Caruso Lombardo, dem Peter Neururer Argentiniens, einem Sprücheklopfer und Feuerwehrmann, ging es aufwärts.

Und zweitens: die historische Nacht vom 26. April 2014, das Auswärtsspiel gegen Racing in Avellaneda. Im Stadion von Racing hatten wir noch nie gewonnen und in der Stadt Avellenada seit fast 100 Jahren (1915 gegen Independiente) nicht mehr.

Bis zu dieser Nacht.

Um 21.05 Uhr schrieb ein Huhn auf Twitter: »Schaue gerade auf Kanal 9 den Horrorfilm Racing – Quilmes.«

Und dann fiel ein Tor.

Um 22.59 Uhr schrieb ich: »Dagegen ist die Mondlandung, sorry Mr. Armstrong, ein Dreck.« Ich bin heute, 22 Tage, fünf Stunden und 33 Minuten später, noch genau dieser Meinung.

Was werden wir unseren Enkeln damit eines Tages auf die Ketten gehen!

 

 

 


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)