Archiv für 2013

Ein Orang-Utan im Silvesterstress, Wangenküsse, Läuse und Mitternachtshochzeiten

von CHRISTOPH WESEMANN

Ich war schon eine Viertelstunde zu spät und noch immer unterwegs. Aus dem Taxi rief ich einen Freund an und bat ihn, dafür zu sorgen, dass die Kirchenpforte nur angelehnt werde. Um die Zeremonie nicht zu stören, flüsterte ich sogar.

»Schwachkopf, ich versteh nichts.«

»Tür muss aufbleiben!«

»Kriege ich hin«, sagte der Freund. »Bin auch gleich da.«

Die Trauung sollte um 21 Uhr beginnen – aber als ich um halb zehn ankam, wurde vor der Kirche herumgestanden. Adriana, die Braut, fehlte noch, Bräutigam Ramón zum Glück auch. Warum in Argentinien so spät geheiratet wird, wenn doch keiner pünktlich ist? Wir leben erst seit eineinhalb Jahren in Buenos Aires – und hetzen schon der Zeit hinterher. Der Tag beginnt damit, dass man nicht in die U-Bahn hineinpasst. Im Büro braucht man vor Arbeitsbeginn einen Mate, um sich vom Arbeitsweg zu erholen. Man schüttet das Kraut vom Matestrauch in einen Becher, drückt den Strohhalm hinein, gießt kaltes Wasser auf und schlürft den bitteren ersten Schluck, gießt heißes Wasser auf und lässt die Kollegen trinken, die sich in der Zwischenzeit aufgereiht haben (und also auch noch nicht arbeiten). Der Becher wandert herum, und es wird geschimpft: über den Verkehr, die U-Bahn, den Bürgermeister, der uns zum Radfahren bringen will, die Inflation (30 Prozent), die Affenhitze. Die Präsidentin ist sowieso immer schuld, auch an der Affenhitze. Als die Polizei im Dezember für höhere Löhne gestreikt hat, gab es im ganzen Land Plünderungen. Und 14 Tote. Noch immer liegt die Armut bei mehr als 30 Prozent. Aber die Präsidentin interessiert sich ja nicht mal für die Tausenden in und um Buenos Aires, die seit zwei Wochen ohne Strom sind und mittlerweile die Straßen blockieren.

Auf dem Heimweg steckt der Bus im Stau, und geht man zu Fuß, wird man aufgehalten oder hält auf, weil Argentinier gern quatschen. Die Supermarktkassiererin kassiert in Zeitlupe, fragt nach den Kindern, erzählt von einer Freundin in Köln und verpasst dem Kollegen, der Feierabend macht, einen Streifkuss. Ohne beso geht es nicht in Argentinien. Frauen küssen Männerwangen, Männer küssen Frauenwangen, Männer küssen Männerwangen, Frauen küssen Frauenwangen, Chefs küssen Angestellte, Lehrer küssen Schüler und Eltern die Freunde der Kinder. »Ihr gebt euch in Deutschland echt die Hand?«, fragen die Leute.

Die Kinder bleiben lange wach. Restaurants öffnen ja erst um 20 Uhr, und das ist kein Grund, hektisch zu werden: weder als Kellner noch als Gast. Auf Reisen – Argentinien ist fast achtmal so groß wie Deutschland – zeigt sich: Porteños, die Leute aus der Hafenstadt Buenos Aires, arbeiten und kassieren, essen und kellnern eigentlich schnell. Es geht auch langsamer. Der Physiker Albert Einstein hat mal gesagt: »Was mich am meisten an Argentinien überrascht, ist, wie ein dermaßen desorganisiertes Land es zu solchen Errungenschaften gebracht hat.« Ich beschränke mich beim Nachweis argentinischer Weltklasse aufs Wesentliche: die leckersten Steaks, die schönsten Frauen, der beste Fußballer (Leo Messi), der allerbeste Fußballer (Diego Maradona), der lässigste Papst. Man trifft übrigens nur noch Leute, die Franziskus persönlich kennen, und Diego, der Sprücheklopfer, wird sowieso andauernd zitiert. Du hattest eine einmalige Chance im Leben, und du hast es versaut? Diego sagt: »Mir ist die Schildkröte entwischt.«

Seit wir im Juli 2012 nach Argentinien umgezogen sind, um drei, vier Jahre hier zu leben und zu arbeiten – meine Frau arbeitet, ich schreibe –, halten wir unsere Schildkröte fest. Und die armen Kinder? »Ein vollständiger deutscher Satz, so haben wir das in der Schule gelernt, enthält Objekt, Subjekt und Prädikat«, schreibt Christian Thiele in seinem Buch Gebrauchsanweisung für Argentinien. »Ein argentinischer Satz, so bekommen es schon die kleinen Kinder beigebracht, enthält ein Schimpfwort, einen Fluch und eine Beleidigung.« Unser Siebenjähriger flucht längst wie ein Eingeborener, was seine Mutter beschämt und mich begeistert. Er benutzt alle wichtigen Ausdrücke: boludo (Schwachkopf), pelotudo (Idiot) und hijo de puta (Hurensohn). Es darf nicht überall so geredet werden, aber wir haben Fluchpunkte: das Fußballstadion. Das Auto. Mein Arbeitszimmer. Sein Spielzimmer. Und wenn unsere drei Frauen nicht da sind: die Wohnung.

Er ist in Schwerin geboren und hat dort die ersten zwei Jahre gelebt. Wir erzählen ihm manchmal, wie mich seine Erzieherinnen in der Krippe regelmäßig haben strammstehen lassen.

»Er hatte heute Morgen keine Windel um.«

»Er hatte schon wieder keinen Schlüpfer an.«

»In seiner Frühstücksbüchse war nur ein Stück Butter.«

Was Annelie, Christa und Susanne zu unserem argentinischen Chaos sagen würden?

Die Vierjährige redet falsches Deutsch mit argentinischem Flair: »Meine Mama will mich keine Sonnenbrrriele für chundert Pesos käufen.« Untereinander sprechen die Kinder Spanisch. Die Zweijährige ist mit ihren roten Haaren die Glücksbringerin von halb Buenos Aires. Dauernd wird ihr der Kopf getätschelt, weil Argentinier glauben, Rothaarige seien für Wunder zuständig. Ich plane, das geschäftsmäßig aufzuziehen, um auch mal etwas zu verdienen. Meine Frau sperrt sich noch.

Das Erste, was einem im Heimaturlaub auffällt: wie leise es ist. Man hört Deutschland nicht. Das Zweite ist: Man sieht kaum Kinder. Die Deutschen, die Japaner, die Italiener sind die ältesten Völker der Welt – nationales Durchschnittsalter: 44 Jahre. Argentinien ist 14 Jahre jünger. Man sieht und hört das, in den Cafés genauso wie in den Museen, überall sind Kinder und junge Leute. Böse Blicke gibt’s manchmal auch – wenn ich unser Trio ermahne, nicht das ganze Restaurant mit zu unterhalten. Der Opa am Nachbartisch protestiert. »Was für tolle Kinder! Und die kleine Rothaarige! Darf ich mal?«

Apropos Haare: Alle paar Monate bitten Schule und Kindergarten die Eltern, am Wochenende die Läuse zu jagen. Das machen wir dann, und am Mittwoch wird wieder gekratzt. Man müsste hart durchgreifen. Aber in einem Land, in dem alle Mädchen und alle Frauen bis 70 Jahre eine Mähne haben, kann ich unseren Töchtern keine Glatze scheren. Die sperren mich doch ein!

Eine Studie hat übrigens herausgefunden, dass jeder Zehnte von uns in Buenos Aires etwas gegen seine Angstzustände (Kriminalität, Geld) einnimmt, dass in der Hauptstadt schlecht und wenig geschlafen wird (28 Prozent der Befragten), dass wir dauernd im Stress sind (49), uns für dick halten (39) und kaum Sport treiben (43,3). Ich kann nicht klagen. Meine Frau vielleicht. Wenn sie mit Deutschland telefoniert, hört sich das jedenfalls so an: »Jaja, er ist da, kommt gerade rein. Hat ein bisschen zugelegt. Mmmhh. Mmmhh. Nee, mit Sport hat er’s nicht so.«

Die Studie hat ergeben, dass Buenos Aires trotzdem die tollste Stadt der Welt ist. »Gott ist überall«, sagen die Leute. »Aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires.«

Mercado Central

Als die Hochzeitsfeier kurz vor Mitternacht begann, wurde erst einmal ausgiebig getanzt, Kinder und Alte vorneweg. Um fünf nach eins kam endlich die Vorspeise. Ich, der Ausländer, hatte als Erster aufgegessen. Das Rinderfilet wurde um zwei gebracht, und als die Musiker um 3 Uhr anrückten, um langsam, sehr langsam aufzubauen, ging ich – als Erster, vor den Alten und vor den Kindern. Ich wagte nicht, mich zu verabschieden. Ich habe ausgerechnet, dass die Hochzeitstorte wahrscheinlich gegen sechs serviert wurde und Adriana und Ramón um halb elf ihre Hochzeitsnacht begannen.

Seit eineinhalb Wochen sind Schulferien, erst Ende Februar geht es weiter. Ein Wahnsinnssommer komme, heißt es, noch wahnsinniger als der vorige, das ganze Land ein Backofen im 24-Stunden-Betrieb. Die Klimaanlagen brummen (wenn der Strom hält), und nachts gehen die Kakerlaken in der Wohnung auf Wanderschaft. Die Porteños reisen gerade ab, um sich gleich wiederzutreffen, erst im Stau, dann am Strand. Nur 400 Kilometer sind es bis zu den großen Badeorten am Atlantik. In einem Land, das von Nord nach Süd 5000 Kilometer misst, erledigt man eine solche Tour ohne Verpflegung. Mate reicht.

Silvester kann kommen. Die Hauptstädter – wie alle Argentinier zu 90 Prozent katholisch – haben am Heiligen Abend anlässlich der Geburt des Jesuskindes ihre Raketen und Chinakracher einem Test unterzogen. Alles funktionierte genauso tadellos wie 2012, nur war damals der einzige Eisbär des Zoos gestorben, am Lärm und wohl auch an der Hitze, Herzversagen jedenfalls. Diesmal stand in der Zeitung: »Die Opposition sorgt sich um den Orang-Utan und die Elefanten.« Es gab keine Verluste, und für Silvester drücken wir die Daumen.

Zum Jahreswechsel übrigens kommen Argentinier, man mag’s kaum glauben, tatsächlich pünktlich.

Der Text ist am 30. Dezember in der Schweriner Volkszeitung erschienen.

Die Sieben-Minuten-Narkose für die Blumengießer der Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Die SMS kam um 5.22 Uhr. »¿Kicillof Ministro de Economia? ¿A qué hora es el próximo vuelo?«, schrieb der argentinische Freund. »Kicillof Wirtschaftsminister? Wann geht der nächste Flug?«

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Sechs Wochen nach ihrer Kopfoperation und einer von Ärzten verordneten Bettruhe war Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner am Montagabend dem Volk zum ersten Mal wieder leibhaftig erschienen. Über Twitter verschickte sie einen Link zu einem sieben Minuten langen Homevideo, das ihre Tochter Florencia aufgenommen hatte. Das Filmchen zeigt Cristina auf einem weißen Ledersofa, mit Hund (echt) und Pinguin (unecht).

»Florencia, können wir anfangen?«

»Ja.«

»Soll ich in diese Kamera dort gucken oder in deine?«

Ach, schau mal, was die Präsidentin trägt – oder besser: was nicht. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes und Amtsvorgängers Néstor vor drei Jahren hat Cristina Kirchner darauf verzichtet, sich ganz schwarz anzuziehen. Ihre zur Schau gestellte Dauertrauer, das Wegwischen von Tränen, sobald sie von ihm sprach – es war vielen längst auf die Nerven gegangen. Nun eine weiße Bluse, immerhin.

»Man fährt zu einer Routinekontrolle des Herzens, und plötzlich sagen sie dir, du musst dich am Kopf operieren lassen…weißte, was weiß ich…jeder hat Operationen, aber weißte…der Kopf ist etwas wie…die Sache ist…das Köpfchen ist das Köpfchen, wie mein Opa sagte.« Cristina spricht, als säße ihr der Nachbar gegenüber, der in ihrer Abwesenheit die Blumen gegossen hat. Wie so oft wirkt sie vollkommen überdreht.

Es wird noch absurder. Cristina steht auf, macht eine Karategeste, um zu unterbrechen, geht aus dem Bild, bittet darum, durchgelassen zu werden, kehrt zurück, präsentiert der Kamera ihr Gesäß und setzt auf ihren Schoß den Hund, den ihr der Bruder des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez geschenkt hat. Es ist ein Mucuchies, der Nationalhund des Ölreiches im Norden. Cristina hat ihn Simón genannt und damit den Vornamen des großen lateinamerikanischen Freiheitskämpfers Bolívar gewählt. Als er an ihrem Haar kaut, wird er verwarnt und bekommt zu hören, er gefährde das Verhältnis zu Venezuela. Die Szene – ungeschnitten – ist großes Kino.

Allerlei Gerüchte hatte es zuletzt um den Gesundheits- und Geisteszustand der Präsidentin gegeben. Das Entfernen eines Blutgerinnsels im Schädel war wohl tatsächlich kompliziert – dafür spricht zumindest die strenge Ruhe, die die Ärzte der berühmten Patientin danach empfohlen hatten. Angeblich hat Cristina weder Zeitungen gelesen noch Fernsehen geschaut – gewissermaßen eineinhalb Monate lang isoliert gelebt, fernab vom Geschehen im Land und in der Welt. Was hat sie überhaupt mitbekommen? Was wäre im Fall eines besonderen Ereignisses gewesen? Unter welchen Umständen hätte man sie stören dürfen?

Nein, sie ist nicht mit einer großen Volksrede auferstanden, das hätte zu gut zu ihr gepasst. Sie wollte offenkundig alle überraschen, und eine Präsidentin, die eine Stunde und übertragen von allen staatlichen Radio- und Fernsehsendern auf die Leute einredet, obwohl sie wenig zu sagen hat, das ist in Argentinien mittlerweile Standard. Also lädt sie uns zu sich ein, nach Olivos, ins Wohnzimmer der offiziellen Residenz argentinischer Präsidenten.

Sie erzählt von ihrer Angst vor der Operation (»es waren schwierige Momente«), von Genesungswünschen und Geschenken (Rosenkränze, Püppchen, der Ledersofapinguin), die sie aus dem ganzen Land und auch von Anhängern der Opposition erreicht hätten; das Volk sorgt sich um die Landesmutter – da nickt selbst Evita im Himmel anerkennend. »Wir wachsen und überwinden Unterschiede«, sagt Cristina, die Alleinherrscherin, die stets nur eine Meinung akzeptiert: die eigene.

Man kann in dem Filmchen wunderbar entdecken, wie die Staatschefin über ihr Volk denkt und wie wenig sie von ihm hält. Denn das, was wirklich wichtig ist, braucht es nicht zu wissen. Über die Schlappe bei den Parlamentswahlen am 27. Oktober, als zwei von drei Argentiniern für die Opposition stimmten, redet sie nicht. Über Politik redet sie nicht. Und über das, was kommen wird nach ihrer Genesung, redet sie auch nicht. Sechs Wochen haben die Argentinier nichts von ihr gehört und nichts von ihr gesehen außer verschwommenen Fotos, die die Präsidentin im Auto, unterwegs zur Nachkontrolle, zeigen. Nun wird das Volk sieben Minuten lang narkotisiert mit Lappalien. Die Präsidentin als Anästhesistin.

Keine Stunde nach der Veröffentlichung des Videos verkündete dann ihr Sprecher, dass die Regierung umgebildet werde. Es hat den Wirtschaftsminister erwischt und den Landwirtschaftsminister, den Kabinettschef und die Präsidentin der Zentralbank. Cristina hatte die Pläne natürlich mit keinem Wort erwähnt oder gar erklärt.

Es war gerätselt worden, wie sie nach ihrer Rückkehr auf die Wahlniederlage reagieren würde. Mit Demut? Mit Trotz? Würde sie ihre Politik der staatlich gelenkten Wirtschaft lockern – oder sie noch verstärken? Wie es aussieht, hat sich die Präsidentin entschieden – für ein radikalisiertes Weiter-so. Zwei Jahre vor dem Ende ihrer zweiten (und letzten) Amtszeit denkt sie offenbar nicht daran, dem Markt mehr Freiraum zu geben und etwa die Importbeschränkungen zu lockern, unter denen die einheimische Produktion mittlerweile beträchtlich leidet. Cristina habe das Kabinett so umgebildet, als sei die Regierung Sieger der Wahlen gewesen, wunderte sich die Zeitung La Nación. »Sie hat sie aber verloren.« Was wiederum heißen könnte: Die Präsidentin ist auf einem Feldzug, und es gibt kein Zurück. Sie und ihre Mitstreiter fühlen sich als Avantgarde, die sich nicht aufhalten lässt – ganz gleich, ob die Wirtschaft wankt, die Wähler weglaufen oder Argentinien international fast isoliert ist.

Das Wirtschaftsministerium, das wichtigste Ressort im Land, übernimmt ein 42 Jahre alter Mann mit Hang zu Koteletten und Karl Marx. Axel Kicillof, studierter Ökonom und bisher Vizeminister, wird als intelligent und ehrlich beschrieben – eine in der argentinischen Politik selten auftretende Kombination. Er ist aber auch ein Hardliner mit guten Kontakten zur regierungstreuen und linksradikalen Nachwuchsorganisation Cámpora, deren Funktionäre seit Jahren dabei sind, das Land und seine Posten in Behörden und Staatsbetrieben unter sich aufzuteilen. Mit Kicillof ist La Cámpora zum ersten Mal direkt an der Macht.

Der bisherige Wirtschaftsminister Hernán Lorenzino wird EU-Botschafter in Brüssel. Er hatte ohnehin wenig zu sagen und wurde von der Präsidentin kaum ernstgenommen. Überliefert ist, wie er einmal nach einem Gespräch verabschiedet wurde. Man stand gemeinsam vor der Tür, draußen warteten schon Vizeminister Axel Kicillof und Guillermo Moreno, der Binnenhandelssekretär. »Also gut, Hernán«, sagte die Präsidentin. »Mach weiter deine Arbeit, damit ich jetzt mit Axel und Guillermo über die Wirtschaft reden kann.«

Den entlassenen Kabinettschef Juan Abal Medina zieht es vermutlich als Botschafter nach Chile. Großen Einfluss hatte auch er nicht; sein Wirken wurde gern mit dem eines besseren Privatsekretärs der Präsidentin verglichen. Sein Nachfolger ist Jorge Capitanich, bislang Gouverneur von Chaco, einer der rückständigsten Provinzen Argentiniens. Einer aktuellen Studie zufolge sind dort 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen arm. Aber Capitanich ist kein Bürokrat wie sein Vorgänger, sondern ein Macher, und er hat Cristina öffentlich stets verteidigt. Nun soll er mitführen und sie entlasten, weil klar ist, dass sie ihr altes Arbeitspensum vorerst nicht schaffen wird. Zum ersten Mal gibt sie Macht ab. Und der Mann, mit dem sie sie teilt, könnte 2015 als Präsident kandidieren, um die kirchneristische Politik fortzusetzen.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde Guillermo Moreno das Schlachtfest überleben. Doch am Tag danach ging auch der Binnenhandelssekretär, der in Wahrheit viel mehr war. Er war der heimliche Herrscher, gefürchtet von Unternehmern, die bei ihm um Importgenehmigungen betteln mussten, verachtet von weiten Teilen des Volkes für die Fälschung der Inflationshöhe. Die inoffizielle Inflation liegt bei 25 Prozent – die Regierung spricht von weniger als zehn. Moreno hatte unabhängigen Forschungsinstituten verboten, eigene Zahlen zu veröffentlichen.

Seine Verschickung an die Botschaft in Italien wertet La Nación als Eingeständnis der Präsidentin, mit ihrer Wirtschaftspolitik verloren zu haben, warnt aber vor Jubel. »Moreno ist weg, aber niemand kann sicher sein, dass auch die Morenisation der Regierung zu Ende ist.« Der neue Wirtschaftsminister verspricht doch eher Kontinuität. Kollege Moreno hat ihm einst einen Spitznamen verpasst: Kicillof war für ihn el sovietico. Der Sowjet.

Der Freund hat sich übrigens nach seiner SMS von 5.22 Uhr gleich noch einmal gemeldet. Eine Minute schrieb er: »He Argentinier, schläfst du etwa noch? Steh endlich auf, damit du später eine Siesta machen kannst!«

Argentinien wird auch diese Präsidentin überleben.

(Fotos: Presidencia de la Nación)

Die argentinische Patientin und der dicke Putschist

von CHRISTOPH WESEMANN

Ärzte hatten am Wochenende einen Bluterguss unter der Schädeldecke der argentinischen Präsidentin entdeckt, der wohl von einem Sturz stammt, am Dienstagmorgen wurde Cristina Kirchner im Krankenhaus der Stiftung Favaloro operiert. Die 60-Jährige wird sich einen Monat lang erholen und von Vizepräsident Amado Boudou vertreten. Gegen den wird übrigens wegen Korruption ermittelt – nicht in einem Fall, nein, in mindestens sechs.

Kehrt Cristina überhaupt zurück? Angekündigt ist ihre Wiederauferstehung für die Zeit nach den Parlamentswahlen am 27. Oktober, bei denen sich die Präsidentenpartei Frente para la Victoria (Front für den Sieg) vermutlich eine hübsche Niederlage abholen wird. Ob danach die Messer gewetzt werden? Ob die Kirchneristen zwei Jahre vor der nächsten Präsidentenwahl einen Neuanfang ohne die Patronin erwägen, die seit 2007 regiert? Ob Cristina aus gesundheitlichen Gründen zurücktritt? Ich weiß es nicht. Aber manches ist möglich.

Auch Argentiniens Star-Journalist Jorge Lanata wurde übrigens operiert, man hat ihm einen Katheter eingesetzt. Lanata moderiert die beliebte Sonntagabendsendung »Periodismo para todos« (Journalismus für alle), schreibt für die größte Tageszeitung Clarín und ist als einer der schärfsten Regierungskritiker im Umfeld der Präsidentin verhasst – Spitzname: dicker Putschist. Und wo wurde Lanata zunächst eingeliefert? Genau, in das Krankenhaus, in dem auch die Präsidentin liegt. Da dort aber keine Betten frei waren, verlegte man ihn eine andere Klinik.

Argentinien, was für ein Land!

Und auch die Krankheit der Präsidentin ist ein Geschäft. Während sie operiert wurde, verkauften Händler Eis, Hamburger vom Grill und kalte Getränke.

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Ich hape fertig

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T. hat ja schon ausgeplaudert, dass ich heute an der berühmten Wallfahrt nach Luján teilnehme. Um 10 Uhr (Ortszeit) werde ich Cristian vor dem Stadion von Vélez Sársfield im Stadtteil Liniers treffen – und dann geht’s los. Nein, ach Gott, es geht natürlich nicht gleich los. Weil sich Cristian als guter Argentinier ordentlich verspäten wird, werde ich auch nicht pünktlich auftauchen, und weil er weiß, dass ich mich seinetwegen verspäte, glaubt er, sich meinetwegen verspäten zu können, was ich wiederum weiß und deshalb … aber lassen wir das. Vor uns liegen 50 Kilometer, und Cristian rechnet damit, dass wir unser Ziel, die Basilika von Luján, gegen Mitternacht erreichen. Also um zwei.

Es soll nicht regnen, und für die Nacht sind acht Grad vorhergesagt. Ich nehme mit: meinen Poncho aus Bolivien, einen Hut vom Quilmes Atlético Club, Zahnseide für die Reste vom Choripán, das ich unterwegs reichlich essen werde, Feuchttücher, Sonnenbrille, meine Mate-Ausrüstung (Thermoskanne, Becher, Strohhalm, Yerbakraut), Kamera mit Blitzlicht, Schreibblock und zwei Stifte. An den Füßen: Marathonlaufschuhe, mit denen ich in vier Jahren etwa 15 Kilometer gelaufen bin. Pflaster? Pfffff.

Ich habe gefragt, was wir nach unserer Ankunft machen werden, also bis 10 Uhr oder wann auch immer uns ein Bus zurück nach Buenos Aires bringt. »Das hängt von unserem körperlichen Zustand ab«, sagte Cristian, der seit 2005 jedes Jahr nach Luján pilgert. »Wir können uns ausruhen und dann durch die Stadt laufen, du musst wissen, es sind viele Leute unterwegs, richtig viele Leute, Zigtausende. Aber erst mal schauen wir uns ja die Basilika an. Und sag mal: Du willst wirklich deinen Kram im Rollkoffer transportieren?«

Nein, war ein Scherz. Und dass ich zu Fuß heimkehren würde, natürlich auch.

Die Spül-Theorie von der Insel der strickenden Männer

von HERRN T. (GASTBEITRAG)

Der Hausherr ist im Augenblick ein bisschen wortkarg. Ein Gerücht besagt, jedenfalls pfeifen es die Loris von den Dächern, CW bereite sich auf einen Wahnsinnstrip vor: Angeblich wird er am Sonnabend zum Wallfahrtsort nach Luján pilgern. Ob er weiß, auf was er sich einlässt? Ich zitiere:

40 km schnurgeradeaus, an der Bahntrasse entlang, die einzige Abwechslung sind wechselnde Grill-Getränke-Devotionalienstände am Wegesrand. Dann war es auch noch empfindlich kalt, da es ja noch Frühling ist, was einige Argentinier zu den erstaunlichsten Maßnahmen getrieben hat. Generell war aber die Leidensbereitschaft wirklich beeindruckend: Auf den letzten Kilometern haben sich viele Leute mehr geschleppt als sie gewandert sind, und die Straßen waren gesäumt von Pilgern, die nicht mehr konnten und einfach am Straßenrand lagen oder apathisch oder schlafend auf den Leitplanken hockend, manchmal notdürftig mit Decken zugedeckt, oft mit Kindern dabei. In der stoisch vorbeihumpelnden Masse kam ich mir oft eher vor wie in einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen als auf einer Pilgerfahrt.

Und da mein alter Reisekumpel CW vermutlich noch im Höhentrainingslager ist oder sich beim umstrittenen spanischen Sportmediziner Eufemiano Fuentes einer Blutdopingbehandlung (»Er will nur Chancengleichheit«) unterzieht, kapere ich jetzt einfach sein Blog, um das hier darbende »Premium-Publikum« (O-Ton Hausherr) nach Peru zu entführen. Wer mag, kann sich ein bisschen einlesen:

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Einerseits bin ich froh, endlich angekommen zu sein. Der Alleinreisende hat ja doch selten Glück mit dem Busnachbarn. Meiner war groß und schwer, ein Mann, der gerade noch in den Sitz passte. Und wenn er sich bewegte, weckte mich seine über die Mittellehne ragende Körpermasse. Andererseits hätte ich noch gute fünf weitere Stunden Schlaf vertragen können, und die eisige Kälte und die Dunkelheit sind auch keine Stimmungsmacher.

Ich sehe, und das weiß ich ohne Spiegel, sehr geschunden aus: Sonnenbrand auf der Nase, Ringe unter den Augen, unrasiert seit – ja seit wann eigentlich? Seit einer Woche? Es ist jedenfalls, so viel ist sicher, Tag 9 meiner Peru-Reise, und ich bin in Puno, der Uferstadt am Titicacasee. Auf 3800 Metern über dem Meeresspiegel leben hier fast 120 000 Menschen.

Noch sieht man nicht viel. Es ist 4 Uhr in der Früh, und nur ein paar Lichter brennen. Ich schlurfe schnell zum Gepäckfach des Busses und stelle mich an, um meinen Rucksack abzuholen. Man kann über Argentinier sagen, was man denn möchte, aber sie verstehen es wenigstens, sich ordentlich in eine Schlange zu stellen. Eine ältere Peruanerin aber stellt sich in die vierte Reihe mitten ins Gewühl und schreit solange, dass der graue Koffer doch ihr gehöre, bis sie ihn bekommt. Äußerst lästig.

Als ich warte, stelle ich fest, dass mir das Hühnchen, das ich vor meiner Abreise in Cusco gegessen habe, nicht wohl bekommen ist. Es rächt sich postum in Form starker Magenkrämpfe. Schnell fliehe ich mit Rucksack in das Terminal und werde überrannt. Dutzende Reiseleiter stehen zu beiden Seiten und rufen mir Angebote zu. Ich winke ab und schlurfe zur ersten Sitzbank, die ich finde. Ein Reiseleiter ist an mir dran geblieben. »Na Amigo, willst du den Titicacasee sehen?«, fragt er. Ich habe nicht die Kraft, noch weiter zu widersprechen, und folge ihm in sein Büro. Eine Karte des Sees ziert die Wand, ebenso Fotos von Buslinien.

Mein Rattenfänger stellt sich als Marcelo vor, und er verkauft mir erfolgreich eine Bootstour zu den schwimmenden Inseln der Urus und zu der Insel Taquile. Dies werde den ganzen Tag dauern. Ich stimme zu. Ich habe nicht vor, länger hier zu bleiben, da ich rechtzeitig wieder in Lima für meinen Rückflug sein muss. Ich gebe Marcelo die Hand und gehe erst mal Frühstücken. Aus einem Fenster sehe ich, wie langsam die Sonne über Puno aufgeht. Mein Reiseführer nennt es: blühend und lebendig. Ich finde es eher unschön und karg. Auf den ersten Blick zeigt sich nur wenig von der kolonialen Architektur, die in Perus Städten so berühmt ist, aber mir ist schon klar, dass ich von einem Bahnhofsviertel zu viel erwarte. Auf meinen langen Reisen mit CW habe ich allerlei Erkenntnisse gesammelt, und eine lautet: Wenn du denkst, du hast schon nichts gesehen, kommt immer noch ein Bahnhof, der weniger zu bieten hat.

Die Krämpfe plagen mich nach wie vor.

Als es Zeit für die Tour ist, warte ich auf Marcelo. Er kommt einen Tick zu spät und flucht stark in sein Telefon. Wahrscheinlich denkt er, dass ich nichts verstehe. Er telefoniert mit dem Fahrer, lotst mich nach draußen und setzt mich in einen Wagen voller fremder Touristen. Der Bus fährt uns fünf Minuten zum Hafen und spuckt uns alle aus. Ich bin etwas unsicher, ob ich wirklich zu dieser Gruppe gehöre, zumal ich mehrfach gefragt werde, welches Hotel ich bewohne. Im Hafenwasser liegen alte Schwanenboote. Man sieht sofort, wie verschmutzt das Wasser ist.

Ich setze mich neben einen jungen Spanier. Er sieht aus wie Javier Bardem, trägt eine bunte Wollmütze und ist ganz aufgeregt wegen der Bootstour. Als wir uns unterhalten, merke ich, was von meinem einst in Deutschland gelernten Spanien-Spanisch nach einem Jahr in Argentinien übrig geblieben ist. Meine Ohren verstehen unargentinisches, also ungenuscheltes Spanisch kaum noch.

Ein Mann mit Baseballmütze steht jetzt vorne und stellt sich als unser Führer vor. Er heißt Leandro und er erklärt in Englisch und Spanisch die Regeln des Schiffes. So dürfen wir erst auf das Dach des Bootes, wenn wir außer Sichtweite des Hafens sind. Wir dürfen den Auspuff des Schiffes nicht berühren und die Toilette nur für Pipi benutzen. Nach einer halben Stunde verfluche ich die letzte Regel. Mein Magen schmerzt ja nicht ohne Grund. Als wir auf das Dach klettern, vergesse ich das immerhin kurz – die Aussicht ist wunderschön. Dies also ist der höchstgelegene befahrbare See der Welt: 178 Kilometer lang und 67,4 Kilometer breit. Javier ist die meiste Zeit draußen, weshalb ich seinen Platz nutze, um zu schlafen. Die Krämpfe werden schlimmer.

Unser erstes Ziel sind die schwimmenden Inseln der Urus. Aus schwimmendem Torf und dem Seegras Totoru haben die Urus hier ihre kleinen Hütten gebaut. Früher taten sie das, um sich vor den Inkas zu schützen. Heute tun sie es wohl mehr, um den Touristen eine Show zu bieten. Wir halten an und betreten die Inseln. Auf dem Gras zu gehen ist seltsam. Die Insel bewegt sich mit den Wellen, und man sackt ein wenig ein. Leonardo erzählt, dass er hier manchmal gegen die Inselbewohner ein bisschen Fußball spiele. Er habe noch nie gewonnen, weil er auf dem Gras einfach nicht laufen könne. Ohne Gram begrüßt er jedoch die Inselbewohner und stellt den Präsidenten vor: Ein barfüßiger Mann kommt leichtfüßig angesprungen. Falls ich jemals Bundespräsident werden sollte, werde ich – das ist hiermit versprochen – als erste Amtshandlung alle meine Schuhe wegwerfen.

Der Präsident und Leonardo erklären uns die Bauweise der Insel und erzählen vom Leben der Urus. Auch das Gras wird ausführlich gepriesen. Anscheinend gibt es nichts, wofür man Totoru nicht nutzen kann: Es ist Medizin, Bausubstanz und Nahrungsquelle. Einige meiner Tourbegleiter lassen sich in einem Totoru-Schiffchen um die Insel fahren. So ein Schiff sei für die Urus wie ein Mercedes-Benz, sagt Leonardo. Die Urus haben den Tourismus für sich erschlossen und verkaufen Decken und Spielzeuge. Auch die Vorteile einer Solaranlage haben sie entdeckt. Nach ein bisschen Freizeit fahren wir weiter. Ich nutze die Stunden des Unterwegsseins wieder zum Schlafen und wünsche mir vorher ganz doll, nachher ohne Magenkrämpfe aufzuwachen.

Natürlich ist nachher alles wie vorher, aber immerhin stricken um uns herum jetzt Männer. Sie machen traditionelle Mützen und Gewänder. In Deutschland sind die Strickmännchen ja mit dem Groß- und Altwerden der Grünen ausgestorben. Oder? Jedenfalls sind wir jetzt auf Taquile, der Insel der strickenden Männer, wie sie auch genannt wird.

Hunde seien verboten. Zu laut und zu dreckig. Die 1600 Einwohner wollen lieber ihre Ruhe. Am Hafen entdecke ich eine Toilette. Meine Rettung! Und ich vergesse sogleich die wohl wichtigste Verhaltensregel bei Magenkrämpfen: »Bitte renn nicht! Das Ziel wirkt näher, als es ist!«

Puh. Knapp war’s. Sehr knapp. Aber schlagartig geht es mir besser.

Jetzt nur noch weg mit dem Übel, das sicher gegen sämtliche Umweltauflagen und Emissionsrichtlinien verstößt. Nur: Wo ist die Spülung. Ich suche, aber da ist keine Spülung. Genau, und jetzt fällt’s mir auch wieder ein, Taquile hat ja keine Strom- oder Wasserversorgung. Gespült wird mit der Gießkanne. Schamerfüllt krame ich beim Hinausgehen in meiner Tasche und drücke der Toilettenfrau einen Sol in die Hand – umgerechnet keine 30 Cent.

Und flüstere: »Perdón.«

Taquile hat einen kleinen Berg. Ich befinde mich schon 3800 Meter über dem Meeresspiegel. Selbst ein kleiner Aufstieg kann hier zur Tortur werden, doch meine Scham beflügelt mich. Ich renne auch der Angst davon, dass mir die Toilettenfrau schlimme, seit Generationen weitergegebene Flüche (Impotenz! Haarausfall! Stricksucht!) hinterher schickt. Erst nach der Hälfte der Strecke merke ich, dass ich mich komplett übernommen habe. Keuchend gehe ich langsamer und begegne zwei Amerikanern. Die beiden älteren Herren leiden sichtlich unter der Höhe. Als ich einem von ihnen Wasser anbiete, scherzt er, dass er jetzt eher Sauerstoff brauche. Ich lass die Halbgreise zurück, ich setze mich ab und blicke nur hin und wieder zurück. Ich habe einen Lauf.

Und dann plötzlich: wieder Magenkrämpfe. Ich muss mich kurz setzen. Die Aussicht soll mich ablenken. Bitte, Aussicht! Es ist übrigens unvorstellbar ruhig. Ab und zu hört man einen Vogel, gelegentlich auch die Stimme eines Touristen in der Ferne, aber sonst nichts. Kein Auto. Keinen Bus. Stille. Ich bin beeindruckt. Mein Magen leider nicht.

Es hilft nichts, ich muss schon wieder nach einer Toilette suchen. Die kleinen verwinkelten Straßen mit ihren verborgenen Ecken sehen verführerisch aus, doch ich schleppe mich auf die Spitze des Hügels. Hier, im Zentrum der Insel, ist eine Markthalle. Ich krame noch mal einen Sol aus der Tasche und drücke ihn einer alten Dame mit einem kleinen Kind in die Hand. Da ich weiß, was geschehen wird, kundschafte ich schon vor der Tat einen Fluchtweg aus.

Als ich fertig bin, geht es mir tatsächlich einen Augenblick lang besser. Mit der Wasserkanne, die neben der Toilette steht, versuche ich, mein Chaos selbst zu beseitigen. Aber ich bin eben doch ein Kind der Moderne. Ich mache alles nur noch schlimmer. Aber was kann ich dafür, dass ich in einer Welt mit Klospülung aufgewachsen bin?

Ich weiß, man soll zu seinen Taten stehen, wegrennen macht alles nur noch schlimmer.

Aber ich bin ja schon weg.

Die Letzten aus unserer Gruppe erreichen den Berg. Auch die luftlosen Amerikaner. Zeit fürs Mittagessen. Fisch oder Omelette? Beides klingt suspekt, aber ich nehme den Fisch und esse ein wenig. Als ein Musiker auftaucht, schleiche ich mich zum dritten Mal auf die Toilette; der halbe Fisch, der noch auf dem Teller ist, kann mich mal.

Ich habe Taquile überlebt, die Insel ohne Hunde und ohne Lärm. Ach Taquile, wir sind auf ewig verbunden. Auf der Rückfahrt schlafe ich wieder, und als wir Puno erreichen, rufe ich ein Hostel an und reserviere ein Zimmer. Mit dem ersten Bus fliehe ich aus dieser kalten Stadt mit dem großen See.

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Und so geht es weiter: Schluchten und Kondore

Zwei Kinderratten im Nebel

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Mann hat sich, weil seine Frau auf Reisen ist, vier Rindersteaks gekauft, er wiegt sie jetzt zärtlich und vermisst sie dabei mit den Augen. Kommt hin, denkt er, Breite: seine beiden Daumen, Länge: Schuhgröße 38. Schon vernebelt er beim Anbraten tüchtig die Küche, was die Frau immer hasst, also nie erlaubt, aber die ist ja … hihihi. Er kichert. Ein Mann wie er, der braucht doch keine Dunstabzugshaube. Ja, er brät, wie er schon lange nicht mehr gebraten hat, und gleich wird er essen, wie er verdammt lange nicht mehr wird essen dürfen. Er ist glücklich.

Plötzlich tauchen aus dem dichten Nebel zwei Mädchen auf — der Hungrige schätzt das eine auf bald zwei Jahre, das andere auf viereinhalb —, und sie verlangen Fleisch. Nichts anderes. Nur Fleisch. Sein Fleisch. He, Mädels, eure kalten Nudeln mit lauwarmer Sahne sind sehr lecker, nein, das Steak schmeckt euch überhaupt nicht, bekommt ihr sowieso nicht gekaut mit euren Mäusezähnchen, die fallen alle raus, glaubt mir, und gleich beim ersten Bissen werdet ihr euch in Frösche, nein: Ratten verwandeln, in eklige, große, fette und besonders dumme Ratten.

Ist ja gut, sagt der Mann. Er knurrt es mehr. Wir teilen.

Und er beschließt, bessere Gruselgeschichten einzuüben.

Das Riesenembryo und sein Chauffeur: Der ultimative Mar-del-Plata-Reisebericht (I)

von CHRISTOPH WESEMANN

Danü, der Heldenmaler, den es auch nach Buenos Aires verschlagen hat, muss eine halbe Tonne Bücher an die Atlantikküste bringen. Die argentinische Frohnatur CW bewirbt sich um die Stelle des Chauffeurs (die kein anderer will) mit dem Satz: »Viejo, nach Mar del Plata fahr ich dich rückwärts und mit beschlagenen Scheiben.« Er war ja schon zweimal dort. Oder doch nur einmal? Verwechselt er das gar mit Warnemünde? Ach, wird schon. Unsere zwei Helden machen sich jedenfalls auf den Weg, ein gewisser Herr T. übt noch mal seinen Gastauftritt, und der Leser wird eine Baustelle entdecken, die es inzwischen nicht mehr gibt. Weil Schweizer noch langsamer schreiben als Argentinier bauen. 

Danü: Wo bleibt CW? Um halb acht hat er eine SMS geschickt, dass er im Auto sitze. Jetzt ist es kurz vor acht – und CW ist immer noch nicht da. Hoffentlich hat er wenigstens die drei Kindersitze ausgebaut. Wir werden viel Platz brauchen.

CW: Ich dreh gleich durch, also zum zweiten Mal, denn gerade bin ich ja schon durchgedreht. Die Navigation hatte mir vorgeschlagen, gegen die Einbahnstraße zu fahren, es waren nur noch 100 Meter bis zu Danü und seinen Büchern, die wir in die argentinische Atlantikküstenkapitale Mar del Plata bringen sollen. Jetzt bin ich wieder 500 Meter weg vom Ziel und folge der Anweisung, nach rechts abzubiegen.

Danü: Wenn ich Kaffee trinken würde, könnte ich mir jetzt einen kochen.

CW: Was ist denn das? Eine Straße aus Sand, links und rechts wird gebuddelt. Könnte mal bitte jemand den Betonmischer zur Seite schieben? Danke, sehr nett. Gut, die nächste links, dann noch zwei Blocks – oh, Sackgasse. Ich wende, ich fahre in einer Baustelle gegen die Einbahnstraße, ist so was eigentlich noch mit Führerscheinentzug zu ahnden, oder gibt das schon Bewährungsstrafe?

Danü: »Alles scheiße.« (SMS von CW, 8.14 Uhr)

CW: So, ich hab’s, jetzt noch ’n Parkplatz, puh, sind das viele Bücherkartons, Mist, kein Parkplatz, ich dreh noch ’ne Runde, ja?

Danü: Wieso parkt der denn nicht auf dem Bürgersteig?

CW: Warum ist denn gegenüber vom Büro eine Polizeistation?

Danü: Weg ist er. Das kann dauern.

CW: Jetzt bin ich zum dritten Mal auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, die gerade auch eine Großbaustelle ist, weil hier eine Metrobus-Linie entsteht. Die Busse bekommen eine eigene Spur und müssen sich nicht mehr durch den Stau quälen. Weiter im Norden der Stadt gibt es so etwas schon, und die Fahrtzeit von Palermo nach Liniers ist um 30 Prozent gesunken. Steht in der Zeitung. Eigentlich sollte man die Fahrscheine nicht mehr beim Fahrer, sondern draußen am Automaten kaufen können, aber das dauert noch ein bisschen. Auch das versprochene W-Lan im Bus lässt auf sich warten.

Danü: »Riesenscheiße.« (SMS von CW, 8.25 Uhr) Ich kann leider nicht antworten, weil auf meinem Handy kein Guthaben ist. Ich bedauere das nicht im Geringsten.

CW: Mann, ich wollte um 13 Uhr in Mar del Plata sein. Das schaffen wir doch nie. Von Buenos Aires zum größten und bekanntesten Badeort Argentiniens sind es mehr als 400 Kilometer, und nirgends darf man schneller als 130 fahren. Außerdem ist Danü Schweizer, das ist doch ein komplett verweichlichter Stamm, nie einen Krieg mitgemacht und verloren, nie hungern müssen. Danü wird also viele Pausen brauchen.

Danü: Ich bin Schweizer – und Argentinier. Und denke: Ach, was würde ich für das Cliché der Geduld geben. Die werde ich wohl brauchen.

CW: So, jetzt parke ich auf dem Bürgersteig; der Polizist auf der anderen Straßenseite guckt – und sagt nichts. Ich habe in Argentinien wirklich noch keine schlechten Erfahrungen mit Polizisten gemacht. Ich bin natürlich auch ein unauffälliger Verkehrsteilnehmer, ich blinke wenig und hupe viel, ich springe von Lücke zu Lücke und parke, wo ich will. Meine große Spezialität: als Letzter die Ampel schaffen und dann die Kreuzung blockieren.

Danü: Respekt, CW hat tatsächlich die drei Kindersitze ausgebaut. Dann laden wir mal ein.

CW: Das sind ja mindestens 28 mittelgroße Bücherkartons.

Danü: Oben stehen auch noch ein paar.

CW: Ich bereite schon mal den Mate zu. Gestern habe ich übrigens noch eine Thermoskanne gekauft. Die alte Kanne, aus Plastik, hatte ich neulich in Córdoba verloren oder vergessen, war sowieso schon etwas undicht. Jetzt habe ich eine aus Metall, Industria Argentina, die garantiert nicht tropft. Ich weiß gar nicht, wie Danü hier noch sitzen will. Die Karre hängt auch ganz schön durch. Vielleicht sollte ich ein bisschen Mate-Wasser ablassen?

Danü: Dann mal los. Ei, ist das eng hier. Damals im Mutterleib war’s geräumiger. Mate?

CW: Gerne.

Danü: Die Kanne ist undicht und tropft.

Zwei Stunden später

CW: Mit Danü kann man wunderbar schweigen oder über den Sinn von Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert reden. Aber ich muss sagen: Die Kommunikation mit meinem Reisebegleiter Herrn T. hatte ein höheres Niveau.

Herr T.: Boludo, wir müssen den letzten Teil unseres BolivienReiseberichts noch fertigmachen!

CW: Du bist doch nicht aus dem Arsch gekommen!

Danü: Wie bitte?

CW: Hast du das gehört?

Danü: Was gehört?

Wüstentanz

CW: Mit Herrn T. konnte man herrlich tratschen, wirklich herrlich getratscht haben wir miteinander. Massenweise Gerüchte konnte ich in Umlauf bringen – die meisten davon über mich. Zum Beispiel hatte ich ja eine Reihe von Affären mit südamerikanischen Supermodels.

Danü: Auf mich kannst du dich verlassen, ich schweige wie ein Grab.

CW: Siehst du, lieber Leser! Und wenn ich zum Beispiel frage, ob Danü den und den auch so schrecklich finde oder die und die auch komplett nervig, dann sagt er …

Danü: … ich bin die Schweiz, ich bin neutral.

CW: Noch da, Herr T.?

Danü: Ich möchte bitte bald austreten. Wir trinken ja jetzt schon zwei Stunden Mate; erstens zieht CW ganz schön was weg, zweitens treibt das Zeug ohnehin. Als Naturbursche, der ich als Schweizer natürlich bin, verbringe ich übrigens gerne viel Zeit in den Parks von Buenos Aires und schaue jedes Mal wehmütig den Argentiniern zu, wie sie Stunden lang zusammensitzen und Mate schlürfen. Ich müsste schon nach 40 Minuten das erste Mal in die Büsche.

CW: Pfff, Schweizer!

Danü: CW leidet unter Vergesslichkeit. Oder er ist ein Lügner. Vielleicht muss er auch angeben, um sich argentinisch zu fühlen. Denn seinetwegen – genauer gesagt: seiner Blase wegen – haben wir schon dreimal anhalten müssen.

CW: Nein, ich kann kein Angeber sein, ich bin viel zu bescheiden. Ich bin ja der bescheidenste Mensch der Welt.

Danü: Die Landschaft in der Provinz Buenos Aires

CW: … die fast so groß ist wie Deutschland …

Danü: … bietet aber wirklich gar keine Reize. Wir fahren jetzt seit drei Stunden geradeaus, und links ist genauso viel oder genauso wenig wie rechts. Felder mit Kühen darauf. Das Spektakulärste waren bisher die drei Autos an der Tankstelle eben. Sie standen nebeneinander an den Zapfsäulen, und alle hatten die Motorhaube oben. So standen sie 15 Minuten lang, und CW kam nicht dran zum Tanken. Dann wurden sie nacheinander mit weiter geöffneter Motorhaube auf den Parkplatz gefahren.

Reisebericht 2

CW: Als wir einmal gemeinsam durch Mecklenburg-Vorpommern fuhren, hat mir Danü erzählt, dass er schier wahnsinnig werde, weil er überall den Horizont sehe. In der Schweiz gebe es keinen Horizont. Nur Berge. Ich glaube, ich muss ihm jetzt was bieten.

Danü: Mal wieder eine Mautstation. Auf argentinischen Autobahnen muss man nämlich hin und wieder bezahlen. Es gibt Schranken, die sich erst öffnen, wenn man dem Schrankenwärter das Geld gegeben hat. Manchmal, so wie jetzt, treffen zu viele Autos auf zu wenige Schrankenwärter. Dann staut es sich. Es staut sich ein bisschen. Ein Stau ist es eigentlich nicht. Es stehen vor jeder Schranke fünf Autos.

CW: Aufpassen, Danü! Ich zeig dir, was Argentinien ist.

Danü: CW hupt. Er hupt wie ein Irrer. Mehrmals. Staccato. Es ist zwei Sekunden ruhig, und dann hupen ringsum mindestens zehn andere Irre. CW macht auch wieder mit. Sie hören nicht auf.

CW: Kann nicht sprechen. Muss hupen.

Danü: Die Schranken gehen hoch. Alle dürfen durchfahren, ohne zu bezahlen. CW brüllt: »AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA!«

CW: Das, mein lieber Danü, das ist Argentinien!

Danü: Im Durchfahren sieht man am Schrankenwärterhäuschen übrigens ein Schild: »Bitte nicht hupen!«

Fortsetzung folgt

Weihwasserüberdosis

von CHRISTOPH WESEMANN

Ach Luján, weltberühmter Wallfahrtsort für Spaßoholiker im Umland von Buenos Aires. Der Pilger kann sein Ziel gar nicht verfehlen: El Parque de Diversiones, der Vergnügungspark also, liegt im Herzen der Stadt und präsentiert gleich mal seine Achterbahn. Natürlich wird man später dem Minus-fünf-Millimeter-Sohn nach neuem Brauch wieder allerlei Hosentaschenabfall in die Turnschuhe füllen, fürchtend, die obligatorische Mindestgröße von einszwanzig für Achterbahnpassagiere werde geprüft. Aber wir sind ja nicht mehr in Frankreich.

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Luján bietet ordentlich Rambazamba, und Musik liegt auch in der Luft (genauso wie Müll am Boden). Weil überdies Straßen und Wege entweder schon verfallen sind oder sich intensiv darauf vorbereiten und Toiletten mit Mülleimern um die Wette Versteck spielen, ist es bis zum Gefühl, Darwins Proband zu sein, nicht mehr weit. Survival of the Fittest? Dann schnell hinüber zu den Luftgewehren, zu Karussell, Autoscooter, Sessellift, Geisterbahn und Grillplatz.

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Eine bedeutende Attraktion des Vergnügungsparks ist eine sehr echt wirkende Riesenkirche, die Basilika der Jungfrau von Luján heißt und nach der Schutzpatronin Argentiniens benannt ist. Auch mit der Innenausstattung hat man sich Mühe gegeben. Alles ziemlich detailgetreu. Auf dem Vorplatz stehen – hübscher Einfall! – als Geistliche verkleidete Argentinier und segnen alles weg, was ihnen hin- und hochgehalten wird: Babys, Frauenköpfe, Plastikflaschen mit angeblich heiligem Wasser.

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Einen Teil seines Umsatzes macht der Vergnügungspark offenkundig mit Souvenirs. Verkauft werden Jungfrau-Amulette an Ketten, Mates mit dem Gesicht des lässigsten Papstes aller Zeiten und natürlich die roten Bändchen, die der Argentinier gern an Auto, Moped oder Laster knotet, damit Gauchito Gil, der Volksheilige der hiesigen Landstraßen, für eine unfallfreie Fahrt sorgt. Die Ständchenbetreiber tragen allesamt einen weißen Kittel, und wer nach dem Grund dafür fragt, fängt sich eine Lügengeschichte ein.

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Das ist eine interne Vorschrift. Viele Touristen fotografieren die Basilika unserer Jungfrau. Der Kittel verhindert, dass irgendein Verkäufer im Muskelhemd und vielleicht noch mit einem Arm voller Tätowierungen abgelichtet wird. Viele Fotos bekommt ja sogar der Vatikan (ein anderer weltberühmter Vergnügungspark, Anm. d. Red.), und da geht’s auch um unseren Ruf als heiliger Ort Argentiniens.

Aber wie wurde Luján eigentlich zu diesem Wallfahrtsort?

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Der Legende zufolge bestellte sich der in der Provinz Santiago del Estero wohnhafte Portugiese Antonio Farías Saá 1630 einen Daddelautomaten aus Brasilien. Der Transportkonvoi machte bei seiner Reise von Buenos Aires aus nach Norden Halt in einer Gegend etwa 40 Kilometer östlich von Luján. Als die Reise fortgesetzt werden sollte, blieb der Karren, in dem sich der Daddelautomat befand, in der Erde stecken und bewegte sich nicht weiter. Als man das Paket mit dem Automaten herunternahm, konnte man den Karren leicht weiterbewegen. Man sah dies als Zeichen Gottes an, dass der Daddelautomat an diesem Ort bleiben sollte, und übergab ihn daher an den Inhaber des Feldes, der ihm einen Jahrmarkt errichtete, der alsbald von Pilgern besucht wurde. Ein von Kap Verde stammender junger Sklave namens Manuel wurde ihr erster Chef.

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Als 1663 ein neuer Fahrweg nach Westen (die heutige Ruta Nacional 7, die durch Luján führt) eingeweiht wurde, blieb die Gegend, in der der Jahrmarkt stand, weit abseits des Verkehrs. Als der Jahrmarkt daraufhin immer weniger besucht wurde und immer weiter heruntergekommen war, bot 1671 eine Frau aus dem Ort Arbol Solo, dem heutigen Luján, an, einen Jahrmarkt dort zu errichten. Laut der Legende verschwand der Daddelautomat jedoch dreimal unerklärlicherweise und erschien wieder auf dem alten Jahrmarkt. Erst als man dem Automaten Prozessionen und Messen widmete und zuletzt auch den Sklaven Manuel kaufte und als Chef einsetzte, blieb er angeblich am neuen Ort.

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1685 wurde schließlich der erste Jahrmarkt in Luján errichtet. Der Pilgerstrom nahm immer weiter zu, so dass man 1748 einen größeren Rummel baute. Nach der Unabhängigkeit wuchs die Stadt, die zwischenzeitlich auch militärisch im Krieg gegen die Indianer wichtig geworden war, immer weiter an, dasselbe passierte mit dem Pilgerstrom. 1864 wurde die Stadt ans Eisenbahnnetz angebunden. Zwischen 1887 und 1930 wurde schließlich der heutige Jahrmarkt gebaut. Seitdem ist Luján der bedeutendste Pilgerort Argentiniens, jedes Jahr im Oktober gibt es einen Pilgermarsch aus Buenos Aires nach Luján, der mitunter Zehntausende zählt.

So steht’s ungefähr bei Wikipedia.

Der siebenjährige Achterbahnsüchtige hat sich übrigens mit dem heiligen Wasser eingedeckt, um damit das Fußballtrikot seiner Herzensmannschaft aus Quilmes vor jedem Spiel zu benetzen. Mein Fläschchen ist im Auto, obwohl ja dank Bändchen schon Gauchito Gil auf mich aufpasst. Aber man weiß ja nie.

Ich kram‘ die Fotoalben vor. Hier, sieh mal, das war vor zwölf Jahr‘n,
Da sind wir nach Saint-Jean gefahr‘n
Und auch in Lourdes vorbeigekommen.
Und von der Quelle mit dem Rummel, der dir jeden Glauben raubt,
Hast du für Hans, der daran glaubt,
Einen Kanister mitgenommen.
Und als kurz vor Vic-Fézensac das Auto Kühlwasser verlor,
Holtest du den Kanister vor,
Um ihn andächtig aufzuschrauben.
Dann fülltest du den Kühler auf, ich traute meinen Augen nicht,
Doch seitdem ist der Kühler dicht!
Da soll man nicht an Wunder glauben?!

Reinhard Mey: Nein, ich laß dich nicht allein

El chico que camina como Menem y está más loco que El Loco

von Christoph Wesemann y Moní (traducción)

Mi hijo dice que alguna vez habló finés. No recuerdo esto. Por supuesto tiene talento para las lenguas extranjeras, habla ruso y castellano. Y una vez estuvimos en la capital Helsinki para visitar a una amiga que vivia ahí. Pero en aquel entonces tenía cinco. Cinco meses. La próxima lengua que quiere aprender es chino. Empezará cuando tenga nueve, le falta un año y medio.

Tal vez no tolera a la Argentina.

Helsinki

Un alemán que desde hace poco está viviendo en Buenos Aires pero extraña Valencia, donde trabajó por cinco o seis años, no piensa bien de los argentinos. »Son fanfarrones, mentirosos y estafadores«, dice. Y lo dice en serio, al menos en un 80 por ciento. También se resiste a hablar castellano. Así que cecea las letras c y z como la gente en Valencia. Así por ejemplo dice caie, cuando en realidad aquí a la calle se le dice cashe. El conoce mil veces más palabras españolas que yo pero, por lo menos, yo no hablo como un conquistador del siglo dieciocho que tiene su velero atracado en el puerto de la ciudad de Buenos Aires.

Ahora mi hijo va todos los miércoles al entrenamiento de fútbol organizado por su colegio. La primera vez lo acompañé. A las 12 Santiago, el profesor de educación física, pasa a buscar a 120 escolares, de los cuales 95 llevan la camiseta de Leo Messi. Después despotrica con los chicos de seis a diez años y les dice: »¡No corremos! ¿Está claro?« Y … ¿qué pasa? Los chicos cruzan la calle a paso muy lento; una bandada de patos hubiera sido más rápida. Y generan un atasco de tránsito de tal magnitud, que en Alemania sería noticia por la radio.

Messi

Después se eligen equipos que se enfrentan en ocho canchitas. Como espectador se ve sólo que cada plantel juega con la misma táctica: ¡Todos hacia la pelota! Esa tarde mi hijo jugó sin pena ni gloria.

»Che, ¿cómo te fue?«, lo pregunté después del entrenamiento.

»¡Re-bien!«

»¿Y qué les dijo al final el entrenador?«

»Dijo que habíamos jugado bien y que teníamos que pasar mejor la pelota.«

»¡Gran DT!«

»¿Viste mis tres golazos, papá?«

»¿Qué?«

Heldenteams

Claro que puede haber metido los tres goles mientras yo estaba ocupado en atar el cordón de mi zapato derecho. Por otra parte, ese hubiera sido la tripleta más rápida del mundo.

En el regreso a casa me repitió exactamente el mismo relato de sus tres goles. Antes de hacer el primero había eliminado a cinco adversarios y pateado la pelota con la izquierda al ángulo derecho. En el segundo fue una volea después de un córner. Y el tercer gol lo hizo de cabeza. Me costó entender a mi hijo porque todo el tiempo me acuerdo del alemán de Valencia y de su frase: »Los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores« – es una buena frase, para situaciones difíciles en la vida, para montañas rusas.

Disneyland

De viaje a Alemania nos quedamos algunos días en París porque los niños querían visitar a toda costa Disneyland. Disneyland en francés podría resumirse como: salir del centro de París a la pampa francesa, llegar después de una hora de viaje, mostrar entradas por valor de 300 euros y esperar en todas partes.

Es necesario esperar incluso frente a atracciones simples, como las que hay en lugares similares – por ejemplo ese carrusel con tazones de café. En uno de los tazones podrían sentarse flojo cinco adultos o siete niños. Pero había sólo dos hindúes. Y en el otro, dos hindúes más. No tengo nada contra los hindúes (ni contra los paquistaníes, por supuesto) pero ocho hindúes en cuatro tazones de café – ¡eso es un escándalo!

Así es que se necesita una paciencia grandísima. Para un lugar como Disneyland fueron inventados los abuelos.

Para subir a la montaña rusa es necesario que los niños midan al menos 1,20 metros. A mi hijo le faltaban cinco milímetros y por eso lo volvieron a medir. Sorprendentemente no había crecido en estos 20 segundos. Dios mío, ¿a quién le gusta medir con tanta exactitud? A una chica de Alemania, ¡claro que sí! Cuando lo rechazó, mi hijo estaba a punto de llorar.

En un primer momento se me ocurrió la idea de tirar de él frente a la revisora: la mamá de sus manos y yo de sus piernas. Pero ratito después pensé en Carlos Menem, a quien cuando era presidente le gustaban los zapatos de tacón para disimular su baja estatura. Y pensé también en el alemán y su frase de que los argentinos son fanfarrones, mentirosos y estafadores.

Así que fuimos a la vuelta con mi hijo y yo llené sus zapatillas deportivas con todas las cosas que encontramos en nuestros cuatro bolsillos: un mapa de París, una bolsita vacía de pan, un pañuelo usado, caramelos, billetes de subte, tiques del supermercado, panfletos y piezas de Lego.

Él caminaba de forma un poco extraña pero orgulloso como Menem y sonreía de oreja a oreja cuando fue medido por tercera vez por la revisora. Después fuimos cuatro veces en la montaña rusa. Hasta que yo estaba mareado.

Tres golazos en un partido.

¡Ese es mi hijo!

Ciudad de Buenos Aires, 18 de agosto 2013 – El Día del Niño

Die Kindertagskolumne: Mein Sohn, sein blinder Vater und zwei Inder in der Kaffeetasse

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn sagt, er habe mal finnisch gesprochen. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Nun besitzt er bestimmt ein Talent für fremde Sprache, er kann Russisch und Spanisch, und wir haben auch mal eine Woche mit ihm bei einer Freundin in Helsinki verbracht. Aber da war er fünf. Monate. Die nächste Sprache, die er lernen will, ist übrigens Chinesisch. Er wird damit anfangen, wenn er neun ist – es dauert also nur noch eineinhalb Jahre.

Vielleicht verträgt er ja Argentinien nicht.

Helsinki

Der Deutsche, der in Buenos Aires lebt, aber Valencia vermisst, wo er fünf, sechs Jahre gearbeitet hat, hält nicht so viel von Argentiniern. »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger«, sagt er manchmal, und er meint das, obwohl er an sich ein intelligenter Mann ist, zu mindestens 80 Prozent ernst. Er weigert sich auch, argentinisches Spanisch zu reden, er lispelt das C und das Z, wie man das in Walennssija macht, und er sagt zum Beispiel kaje, obwohl Straße, also calle, bei uns hier kasche ausgesprochen wird. Er kennt ungefähr tausendmal mehr Wörter als ich, aber ich klinge dafür nicht wie ein spanischer Kolonialherr aus dem späten 18. Jahrhundert, der gerade mit seinem Segelschiff im Hafen von Buenos Aires angelegt hat.

Mein Sohn geht neuerdings mittwochs zum Fußballtraining, das von seiner Schule angeboten wird. Beim ersten Mal habe ich zugeschaut. Es beginnt damit, dass Sportlehrer Santiago um zwölf Uhr 120 Jungen abholt, von denen 95 ein Messi-Trikot tragen. Dann schnauzt er die Erst- bis Viertklässler erst mal an: »Es wird nicht gerannt! Ist das klar?« Daraufhin überqueren die Jungen im Zeitlupentempo die Straße, ein Schwarm von Stockenten wäre schneller drüben. Zurück bleibt ein Stau, lang genug, dass er es in Deutschland in die Verkehrsnachrichten der Radios schaffen würde.

Messi

Es werden dann Mannschaften gewählt, die auf acht Kleinstkunstrasenplätzen gegeneinander spielen. Als Zuschauer kann man gucken, wohin man will, die Teams versuchen sich an der gleichen Taktik: Alle auf den Ball! Mein Sohn hat an diesem Nachmittag, nun ja, unauffällig gespielt.

»Und hat’s Spaß gemacht?«, fragte ich nach dem Training.

»Und wie!«

»Was hat euch der Trainer eigentlich am Ende gesagt?«

»Dass wir gut waren, hat er gesagt, wir sollen nur mehr abspielen.«

»Super Trainer.«

»Hast du meine drei Tore gesehen, Papa?«

»Äh.«

Er kann die drei Tore nur geschossen haben, als ich damit beschäftigt war, die Schleife meines rechten Schuhs neu zu binden. Andererseits wäre das der schnellste Hattrick in der Geschichte des Weltfußballs. Er hat mir auf dem Heimweg auch haargenau und zehn Minuten lang seine drei Treffer nacherzählt. Vor dem ersten tänzelte er fünf Gegenspieler aus und traf dann mit links in die rechte Ecke. Beim zweiten verwandelte er einen Eckball mit Volleyschuss. Das dritte Tor erzielte er mit dem Kopf. Ich hatte ein bisschen Mühe, ihm zu folgen, weil ich die ganze Zeit an den Satz des Deutschen aus Walennssija denken musste.

»Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger« – das ist übrigens ein guter Satz, einer für die schwierigen Lebenslagen. Für Achterbahnen.

Neulich, auf dem Weg nach Deutschland, waren wir in Paris zwischengelandet, weil die Kinder unbedingt einmal Disneyland  besuchen wollten. Disneyland auf Französisch bedeutet, grob gesagt: eine Stunde rausfahren aus dem Pariser Zentrum ins Niemandsland, Eintrittskarten im Wert von fast 300 Euro vorzeigen und dann überall anstehen.

In die lange Schlange muss man selbst bei Attraktionen, die jedes schlechtere Volksfest zu bieten hat – etwa das Karussell mit den überdimensionierten Kaffeetassen. In eine Tasse passen fünf Erwachsene oder sieben Kinder, aber es sitzen nur zwei Inder drin. Und in der daneben auch nur zwei. Ich habe nichts gegen Inder (und auch nichts gegen Pakistanis). Aber acht Inder in vier Kaffeetassen – das geht einfach nicht.

Man braucht eine Wahnsinnsgeduld. Für einen Ort wie Disneyland wurden Großeltern erfunden.

Um überhaupt mit der Achterbahn fahren zu dürfen, muss man mindestens 1,20 Meter groß sein. Der Sohn endete bei 119,5. Es fehlten fünf Millimeter, woraufhin er auf meinen Wunsch von der Kontrolleurin noch einmal vermessen wurde. Gewachsen war er überraschenderweise nicht in der Zwischenzeit. Fünf Millimeter, wer misst denn bitte so genau? Ach, eine junge Deutsche, natürlich. Mein Sohn war den Tränen nahe, als er abgewiesen wurde.

Zunächst hatte ich die Idee, ihn in der Luft quer zu legen und vor den Augen der Kontrolleurin gemeinsam an ihm zu ziehen, seine Mama an den Händen, ich an den Beinen. Aber dann fiel mir Carlos Menem ein, Argentiniens Präsident von 1989 bis 1999, der gern Absätze trug, weil er von Natur aus eher klein ist. Und mir fiel der Deutsche ein und sein Satz: »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger.«

So ging ich mit meinem Sohn um die Ecke und stopfte ihm in die Turnschuhe, was wir in seinen und meinen vier Hosentaschen so fanden: den Stadtplan von Paris, eine leere Brottüte, ein volles Taschentuch, Bonbons, zerknüllte Fahrscheine, Kassenzettel, Flugblätter und Legosteine.

Er ging ein bisschen unrund, aber stolz wie Carlos, ließ sich ein drittes Mal vermessen und grinste die Kontrolleurin dabei an. Dann fuhren wir viermal Achterbahn. Bis mir schlecht war.

Drei Tore in einem Spiel.

Mein Sohn.

Buenos Aires, 18. August 2013 – Kindertag in Argentinien


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Musik: Somos de acá

Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)