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Die Sieben-Minuten-Narkose für die Blumengießer der Präsidentin

von CHRISTOPH WESEMANN

Die SMS kam um 5.22 Uhr. »¿Kicillof Ministro de Economia? ¿A qué hora es el próximo vuelo?«, schrieb der argentinische Freund. »Kicillof Wirtschaftsminister? Wann geht der nächste Flug?«

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Sechs Wochen nach ihrer Kopfoperation und einer von Ärzten verordneten Bettruhe war Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner am Montagabend dem Volk zum ersten Mal wieder leibhaftig erschienen. Über Twitter verschickte sie einen Link zu einem sieben Minuten langen Homevideo, das ihre Tochter Florencia aufgenommen hatte. Das Filmchen zeigt Cristina auf einem weißen Ledersofa, mit Hund (echt) und Pinguin (unecht).

»Florencia, können wir anfangen?«

»Ja.«

»Soll ich in diese Kamera dort gucken oder in deine?«

Ach, schau mal, was die Präsidentin trägt – oder besser: was nicht. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes und Amtsvorgängers Néstor vor drei Jahren hat Cristina Kirchner darauf verzichtet, sich ganz schwarz anzuziehen. Ihre zur Schau gestellte Dauertrauer, das Wegwischen von Tränen, sobald sie von ihm sprach – es war vielen längst auf die Nerven gegangen. Nun eine weiße Bluse, immerhin.

»Man fährt zu einer Routinekontrolle des Herzens, und plötzlich sagen sie dir, du musst dich am Kopf operieren lassen…weißte, was weiß ich…jeder hat Operationen, aber weißte…der Kopf ist etwas wie…die Sache ist…das Köpfchen ist das Köpfchen, wie mein Opa sagte.« Cristina spricht, als säße ihr der Nachbar gegenüber, der in ihrer Abwesenheit die Blumen gegossen hat. Wie so oft wirkt sie vollkommen überdreht.

Es wird noch absurder. Cristina steht auf, macht eine Karategeste, um zu unterbrechen, geht aus dem Bild, bittet darum, durchgelassen zu werden, kehrt zurück, präsentiert der Kamera ihr Gesäß und setzt auf ihren Schoß den Hund, den ihr der Bruder des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez geschenkt hat. Es ist ein Mucuchies, der Nationalhund des Ölreiches im Norden. Cristina hat ihn Simón genannt und damit den Vornamen des großen lateinamerikanischen Freiheitskämpfers Bolívar gewählt. Als er an ihrem Haar kaut, wird er verwarnt und bekommt zu hören, er gefährde das Verhältnis zu Venezuela. Die Szene – ungeschnitten – ist großes Kino.

Allerlei Gerüchte hatte es zuletzt um den Gesundheits- und Geisteszustand der Präsidentin gegeben. Das Entfernen eines Blutgerinnsels im Schädel war wohl tatsächlich kompliziert – dafür spricht zumindest die strenge Ruhe, die die Ärzte der berühmten Patientin danach empfohlen hatten. Angeblich hat Cristina weder Zeitungen gelesen noch Fernsehen geschaut – gewissermaßen eineinhalb Monate lang isoliert gelebt, fernab vom Geschehen im Land und in der Welt. Was hat sie überhaupt mitbekommen? Was wäre im Fall eines besonderen Ereignisses gewesen? Unter welchen Umständen hätte man sie stören dürfen?

Nein, sie ist nicht mit einer großen Volksrede auferstanden, das hätte zu gut zu ihr gepasst. Sie wollte offenkundig alle überraschen, und eine Präsidentin, die eine Stunde und übertragen von allen staatlichen Radio- und Fernsehsendern auf die Leute einredet, obwohl sie wenig zu sagen hat, das ist in Argentinien mittlerweile Standard. Also lädt sie uns zu sich ein, nach Olivos, ins Wohnzimmer der offiziellen Residenz argentinischer Präsidenten.

Sie erzählt von ihrer Angst vor der Operation (»es waren schwierige Momente«), von Genesungswünschen und Geschenken (Rosenkränze, Püppchen, der Ledersofapinguin), die sie aus dem ganzen Land und auch von Anhängern der Opposition erreicht hätten; das Volk sorgt sich um die Landesmutter – da nickt selbst Evita im Himmel anerkennend. »Wir wachsen und überwinden Unterschiede«, sagt Cristina, die Alleinherrscherin, die stets nur eine Meinung akzeptiert: die eigene.

Man kann in dem Filmchen wunderbar entdecken, wie die Staatschefin über ihr Volk denkt und wie wenig sie von ihm hält. Denn das, was wirklich wichtig ist, braucht es nicht zu wissen. Über die Schlappe bei den Parlamentswahlen am 27. Oktober, als zwei von drei Argentiniern für die Opposition stimmten, redet sie nicht. Über Politik redet sie nicht. Und über das, was kommen wird nach ihrer Genesung, redet sie auch nicht. Sechs Wochen haben die Argentinier nichts von ihr gehört und nichts von ihr gesehen außer verschwommenen Fotos, die die Präsidentin im Auto, unterwegs zur Nachkontrolle, zeigen. Nun wird das Volk sieben Minuten lang narkotisiert mit Lappalien. Die Präsidentin als Anästhesistin.

Keine Stunde nach der Veröffentlichung des Videos verkündete dann ihr Sprecher, dass die Regierung umgebildet werde. Es hat den Wirtschaftsminister erwischt und den Landwirtschaftsminister, den Kabinettschef und die Präsidentin der Zentralbank. Cristina hatte die Pläne natürlich mit keinem Wort erwähnt oder gar erklärt.

Es war gerätselt worden, wie sie nach ihrer Rückkehr auf die Wahlniederlage reagieren würde. Mit Demut? Mit Trotz? Würde sie ihre Politik der staatlich gelenkten Wirtschaft lockern – oder sie noch verstärken? Wie es aussieht, hat sich die Präsidentin entschieden – für ein radikalisiertes Weiter-so. Zwei Jahre vor dem Ende ihrer zweiten (und letzten) Amtszeit denkt sie offenbar nicht daran, dem Markt mehr Freiraum zu geben und etwa die Importbeschränkungen zu lockern, unter denen die einheimische Produktion mittlerweile beträchtlich leidet. Cristina habe das Kabinett so umgebildet, als sei die Regierung Sieger der Wahlen gewesen, wunderte sich die Zeitung La Nación. »Sie hat sie aber verloren.« Was wiederum heißen könnte: Die Präsidentin ist auf einem Feldzug, und es gibt kein Zurück. Sie und ihre Mitstreiter fühlen sich als Avantgarde, die sich nicht aufhalten lässt – ganz gleich, ob die Wirtschaft wankt, die Wähler weglaufen oder Argentinien international fast isoliert ist.

Das Wirtschaftsministerium, das wichtigste Ressort im Land, übernimmt ein 42 Jahre alter Mann mit Hang zu Koteletten und Karl Marx. Axel Kicillof, studierter Ökonom und bisher Vizeminister, wird als intelligent und ehrlich beschrieben – eine in der argentinischen Politik selten auftretende Kombination. Er ist aber auch ein Hardliner mit guten Kontakten zur regierungstreuen und linksradikalen Nachwuchsorganisation Cámpora, deren Funktionäre seit Jahren dabei sind, das Land und seine Posten in Behörden und Staatsbetrieben unter sich aufzuteilen. Mit Kicillof ist La Cámpora zum ersten Mal direkt an der Macht.

Der bisherige Wirtschaftsminister Hernán Lorenzino wird EU-Botschafter in Brüssel. Er hatte ohnehin wenig zu sagen und wurde von der Präsidentin kaum ernstgenommen. Überliefert ist, wie er einmal nach einem Gespräch verabschiedet wurde. Man stand gemeinsam vor der Tür, draußen warteten schon Vizeminister Axel Kicillof und Guillermo Moreno, der Binnenhandelssekretär. »Also gut, Hernán«, sagte die Präsidentin. »Mach weiter deine Arbeit, damit ich jetzt mit Axel und Guillermo über die Wirtschaft reden kann.«

Den entlassenen Kabinettschef Juan Abal Medina zieht es vermutlich als Botschafter nach Chile. Großen Einfluss hatte auch er nicht; sein Wirken wurde gern mit dem eines besseren Privatsekretärs der Präsidentin verglichen. Sein Nachfolger ist Jorge Capitanich, bislang Gouverneur von Chaco, einer der rückständigsten Provinzen Argentiniens. Einer aktuellen Studie zufolge sind dort 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen arm. Aber Capitanich ist kein Bürokrat wie sein Vorgänger, sondern ein Macher, und er hat Cristina öffentlich stets verteidigt. Nun soll er mitführen und sie entlasten, weil klar ist, dass sie ihr altes Arbeitspensum vorerst nicht schaffen wird. Zum ersten Mal gibt sie Macht ab. Und der Mann, mit dem sie sie teilt, könnte 2015 als Präsident kandidieren, um die kirchneristische Politik fortzusetzen.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde Guillermo Moreno das Schlachtfest überleben. Doch am Tag danach ging auch der Binnenhandelssekretär, der in Wahrheit viel mehr war. Er war der heimliche Herrscher, gefürchtet von Unternehmern, die bei ihm um Importgenehmigungen betteln mussten, verachtet von weiten Teilen des Volkes für die Fälschung der Inflationshöhe. Die inoffizielle Inflation liegt bei 25 Prozent – die Regierung spricht von weniger als zehn. Moreno hatte unabhängigen Forschungsinstituten verboten, eigene Zahlen zu veröffentlichen.

Seine Verschickung an die Botschaft in Italien wertet La Nación als Eingeständnis der Präsidentin, mit ihrer Wirtschaftspolitik verloren zu haben, warnt aber vor Jubel. »Moreno ist weg, aber niemand kann sicher sein, dass auch die Morenisation der Regierung zu Ende ist.« Der neue Wirtschaftsminister verspricht doch eher Kontinuität. Kollege Moreno hat ihm einst einen Spitznamen verpasst: Kicillof war für ihn el sovietico. Der Sowjet.

Der Freund hat sich übrigens nach seiner SMS von 5.22 Uhr gleich noch einmal gemeldet. Eine Minute schrieb er: »He Argentinier, schläfst du etwa noch? Steh endlich auf, damit du später eine Siesta machen kannst!«

Argentinien wird auch diese Präsidentin überleben.

(Fotos: Presidencia de la Nación)

Die argentinische Patientin und der dicke Putschist

von CHRISTOPH WESEMANN

Ärzte hatten am Wochenende einen Bluterguss unter der Schädeldecke der argentinischen Präsidentin entdeckt, der wohl von einem Sturz stammt, am Dienstagmorgen wurde Cristina Kirchner im Krankenhaus der Stiftung Favaloro operiert. Die 60-Jährige wird sich einen Monat lang erholen und von Vizepräsident Amado Boudou vertreten. Gegen den wird übrigens wegen Korruption ermittelt – nicht in einem Fall, nein, in mindestens sechs.

Kehrt Cristina überhaupt zurück? Angekündigt ist ihre Wiederauferstehung für die Zeit nach den Parlamentswahlen am 27. Oktober, bei denen sich die Präsidentenpartei Frente para la Victoria (Front für den Sieg) vermutlich eine hübsche Niederlage abholen wird. Ob danach die Messer gewetzt werden? Ob die Kirchneristen zwei Jahre vor der nächsten Präsidentenwahl einen Neuanfang ohne die Patronin erwägen, die seit 2007 regiert? Ob Cristina aus gesundheitlichen Gründen zurücktritt? Ich weiß es nicht. Aber manches ist möglich.

Auch Argentiniens Star-Journalist Jorge Lanata wurde übrigens operiert, man hat ihm einen Katheter eingesetzt. Lanata moderiert die beliebte Sonntagabendsendung »Periodismo para todos« (Journalismus für alle), schreibt für die größte Tageszeitung Clarín und ist als einer der schärfsten Regierungskritiker im Umfeld der Präsidentin verhasst – Spitzname: dicker Putschist. Und wo wurde Lanata zunächst eingeliefert? Genau, in das Krankenhaus, in dem auch die Präsidentin liegt. Da dort aber keine Betten frei waren, verlegte man ihn eine andere Klinik.

Argentinien, was für ein Land!

Und auch die Krankheit der Präsidentin ist ein Geschäft. Während sie operiert wurde, verkauften Händler Eis, Hamburger vom Grill und kalte Getränke.

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Ich hape fertig

von CHRISTOPH WESEMANN

Herr T. hat ja schon ausgeplaudert, dass ich heute an der berühmten Wallfahrt nach Luján teilnehme. Um 10 Uhr (Ortszeit) werde ich Cristian vor dem Stadion von Vélez Sársfield im Stadtteil Liniers treffen – und dann geht’s los. Nein, ach Gott, es geht natürlich nicht gleich los. Weil sich Cristian als guter Argentinier ordentlich verspäten wird, werde ich auch nicht pünktlich auftauchen, und weil er weiß, dass ich mich seinetwegen verspäte, glaubt er, sich meinetwegen verspäten zu können, was ich wiederum weiß und deshalb … aber lassen wir das. Vor uns liegen 50 Kilometer, und Cristian rechnet damit, dass wir unser Ziel, die Basilika von Luján, gegen Mitternacht erreichen. Also um zwei.

Es soll nicht regnen, und für die Nacht sind acht Grad vorhergesagt. Ich nehme mit: meinen Poncho aus Bolivien, einen Hut vom Quilmes Atlético Club, Zahnseide für die Reste vom Choripán, das ich unterwegs reichlich essen werde, Feuchttücher, Sonnenbrille, meine Mate-Ausrüstung (Thermoskanne, Becher, Strohhalm, Yerbakraut), Kamera mit Blitzlicht, Schreibblock und zwei Stifte. An den Füßen: Marathonlaufschuhe, mit denen ich in vier Jahren etwa 15 Kilometer gelaufen bin. Pflaster? Pfffff.

Ich habe gefragt, was wir nach unserer Ankunft machen werden, also bis 10 Uhr oder wann auch immer uns ein Bus zurück nach Buenos Aires bringt. »Das hängt von unserem körperlichen Zustand ab«, sagte Cristian, der seit 2005 jedes Jahr nach Luján pilgert. »Wir können uns ausruhen und dann durch die Stadt laufen, du musst wissen, es sind viele Leute unterwegs, richtig viele Leute, Zigtausende. Aber erst mal schauen wir uns ja die Basilika an. Und sag mal: Du willst wirklich deinen Kram im Rollkoffer transportieren?«

Nein, war ein Scherz. Und dass ich zu Fuß heimkehren würde, natürlich auch.

Zwei Kinderratten im Nebel

von CHRISTOPH WESEMANN

Der Mann hat sich, weil seine Frau auf Reisen ist, vier Rindersteaks gekauft, er wiegt sie jetzt zärtlich und vermisst sie dabei mit den Augen. Kommt hin, denkt er, Breite: seine beiden Daumen, Länge: Schuhgröße 38. Schon vernebelt er beim Anbraten tüchtig die Küche, was die Frau immer hasst, also nie erlaubt, aber die ist ja … hihihi. Er kichert. Ein Mann wie er, der braucht doch keine Dunstabzugshaube. Ja, er brät, wie er schon lange nicht mehr gebraten hat, und gleich wird er essen, wie er verdammt lange nicht mehr wird essen dürfen. Er ist glücklich.

Plötzlich tauchen aus dem dichten Nebel zwei Mädchen auf — der Hungrige schätzt das eine auf bald zwei Jahre, das andere auf viereinhalb —, und sie verlangen Fleisch. Nichts anderes. Nur Fleisch. Sein Fleisch. He, Mädels, eure kalten Nudeln mit lauwarmer Sahne sind sehr lecker, nein, das Steak schmeckt euch überhaupt nicht, bekommt ihr sowieso nicht gekaut mit euren Mäusezähnchen, die fallen alle raus, glaubt mir, und gleich beim ersten Bissen werdet ihr euch in Frösche, nein: Ratten verwandeln, in eklige, große, fette und besonders dumme Ratten.

Ist ja gut, sagt der Mann. Er knurrt es mehr. Wir teilen.

Und er beschließt, bessere Gruselgeschichten einzuüben.

Das Riesenembryo und sein Chauffeur: Der ultimative Mar-del-Plata-Reisebericht (I)

von CHRISTOPH WESEMANN

Danü, der Heldenmaler, den es auch nach Buenos Aires verschlagen hat, muss eine halbe Tonne Bücher an die Atlantikküste bringen. Die argentinische Frohnatur CW bewirbt sich um die Stelle des Chauffeurs (die kein anderer will) mit dem Satz: »Viejo, nach Mar del Plata fahr ich dich rückwärts und mit beschlagenen Scheiben.« Er war ja schon zweimal dort. Oder doch nur einmal? Verwechselt er das gar mit Warnemünde? Ach, wird schon. Unsere zwei Helden machen sich jedenfalls auf den Weg, ein gewisser Herr T. übt noch mal seinen Gastauftritt, und der Leser wird eine Baustelle entdecken, die es inzwischen nicht mehr gibt. Weil Schweizer noch langsamer schreiben als Argentinier bauen. 

Danü: Wo bleibt CW? Um halb acht hat er eine SMS geschickt, dass er im Auto sitze. Jetzt ist es kurz vor acht – und CW ist immer noch nicht da. Hoffentlich hat er wenigstens die drei Kindersitze ausgebaut. Wir werden viel Platz brauchen.

CW: Ich dreh gleich durch, also zum zweiten Mal, denn gerade bin ich ja schon durchgedreht. Die Navigation hatte mir vorgeschlagen, gegen die Einbahnstraße zu fahren, es waren nur noch 100 Meter bis zu Danü und seinen Büchern, die wir in die argentinische Atlantikküstenkapitale Mar del Plata bringen sollen. Jetzt bin ich wieder 500 Meter weg vom Ziel und folge der Anweisung, nach rechts abzubiegen.

Danü: Wenn ich Kaffee trinken würde, könnte ich mir jetzt einen kochen.

CW: Was ist denn das? Eine Straße aus Sand, links und rechts wird gebuddelt. Könnte mal bitte jemand den Betonmischer zur Seite schieben? Danke, sehr nett. Gut, die nächste links, dann noch zwei Blocks – oh, Sackgasse. Ich wende, ich fahre in einer Baustelle gegen die Einbahnstraße, ist so was eigentlich noch mit Führerscheinentzug zu ahnden, oder gibt das schon Bewährungsstrafe?

Danü: »Alles scheiße.« (SMS von CW, 8.14 Uhr)

CW: So, ich hab’s, jetzt noch ’n Parkplatz, puh, sind das viele Bücherkartons, Mist, kein Parkplatz, ich dreh noch ’ne Runde, ja?

Danü: Wieso parkt der denn nicht auf dem Bürgersteig?

CW: Warum ist denn gegenüber vom Büro eine Polizeistation?

Danü: Weg ist er. Das kann dauern.

CW: Jetzt bin ich zum dritten Mal auf der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, die gerade auch eine Großbaustelle ist, weil hier eine Metrobus-Linie entsteht. Die Busse bekommen eine eigene Spur und müssen sich nicht mehr durch den Stau quälen. Weiter im Norden der Stadt gibt es so etwas schon, und die Fahrtzeit von Palermo nach Liniers ist um 30 Prozent gesunken. Steht in der Zeitung. Eigentlich sollte man die Fahrscheine nicht mehr beim Fahrer, sondern draußen am Automaten kaufen können, aber das dauert noch ein bisschen. Auch das versprochene W-Lan im Bus lässt auf sich warten.

Danü: »Riesenscheiße.« (SMS von CW, 8.25 Uhr) Ich kann leider nicht antworten, weil auf meinem Handy kein Guthaben ist. Ich bedauere das nicht im Geringsten.

CW: Mann, ich wollte um 13 Uhr in Mar del Plata sein. Das schaffen wir doch nie. Von Buenos Aires zum größten und bekanntesten Badeort Argentiniens sind es mehr als 400 Kilometer, und nirgends darf man schneller als 130 fahren. Außerdem ist Danü Schweizer, das ist doch ein komplett verweichlichter Stamm, nie einen Krieg mitgemacht und verloren, nie hungern müssen. Danü wird also viele Pausen brauchen.

Danü: Ich bin Schweizer – und Argentinier. Und denke: Ach, was würde ich für das Cliché der Geduld geben. Die werde ich wohl brauchen.

CW: So, jetzt parke ich auf dem Bürgersteig; der Polizist auf der anderen Straßenseite guckt – und sagt nichts. Ich habe in Argentinien wirklich noch keine schlechten Erfahrungen mit Polizisten gemacht. Ich bin natürlich auch ein unauffälliger Verkehrsteilnehmer, ich blinke wenig und hupe viel, ich springe von Lücke zu Lücke und parke, wo ich will. Meine große Spezialität: als Letzter die Ampel schaffen und dann die Kreuzung blockieren.

Danü: Respekt, CW hat tatsächlich die drei Kindersitze ausgebaut. Dann laden wir mal ein.

CW: Das sind ja mindestens 28 mittelgroße Bücherkartons.

Danü: Oben stehen auch noch ein paar.

CW: Ich bereite schon mal den Mate zu. Gestern habe ich übrigens noch eine Thermoskanne gekauft. Die alte Kanne, aus Plastik, hatte ich neulich in Córdoba verloren oder vergessen, war sowieso schon etwas undicht. Jetzt habe ich eine aus Metall, Industria Argentina, die garantiert nicht tropft. Ich weiß gar nicht, wie Danü hier noch sitzen will. Die Karre hängt auch ganz schön durch. Vielleicht sollte ich ein bisschen Mate-Wasser ablassen?

Danü: Dann mal los. Ei, ist das eng hier. Damals im Mutterleib war’s geräumiger. Mate?

CW: Gerne.

Danü: Die Kanne ist undicht und tropft.

Zwei Stunden später

CW: Mit Danü kann man wunderbar schweigen oder über den Sinn von Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert reden. Aber ich muss sagen: Die Kommunikation mit meinem Reisebegleiter Herrn T. hatte ein höheres Niveau.

Herr T.: Boludo, wir müssen den letzten Teil unseres BolivienReiseberichts noch fertigmachen!

CW: Du bist doch nicht aus dem Arsch gekommen!

Danü: Wie bitte?

CW: Hast du das gehört?

Danü: Was gehört?

Wüstentanz

CW: Mit Herrn T. konnte man herrlich tratschen, wirklich herrlich getratscht haben wir miteinander. Massenweise Gerüchte konnte ich in Umlauf bringen – die meisten davon über mich. Zum Beispiel hatte ich ja eine Reihe von Affären mit südamerikanischen Supermodels.

Danü: Auf mich kannst du dich verlassen, ich schweige wie ein Grab.

CW: Siehst du, lieber Leser! Und wenn ich zum Beispiel frage, ob Danü den und den auch so schrecklich finde oder die und die auch komplett nervig, dann sagt er …

Danü: … ich bin die Schweiz, ich bin neutral.

CW: Noch da, Herr T.?

Danü: Ich möchte bitte bald austreten. Wir trinken ja jetzt schon zwei Stunden Mate; erstens zieht CW ganz schön was weg, zweitens treibt das Zeug ohnehin. Als Naturbursche, der ich als Schweizer natürlich bin, verbringe ich übrigens gerne viel Zeit in den Parks von Buenos Aires und schaue jedes Mal wehmütig den Argentiniern zu, wie sie Stunden lang zusammensitzen und Mate schlürfen. Ich müsste schon nach 40 Minuten das erste Mal in die Büsche.

CW: Pfff, Schweizer!

Danü: CW leidet unter Vergesslichkeit. Oder er ist ein Lügner. Vielleicht muss er auch angeben, um sich argentinisch zu fühlen. Denn seinetwegen – genauer gesagt: seiner Blase wegen – haben wir schon dreimal anhalten müssen.

CW: Nein, ich kann kein Angeber sein, ich bin viel zu bescheiden. Ich bin ja der bescheidenste Mensch der Welt.

Danü: Die Landschaft in der Provinz Buenos Aires

CW: … die fast so groß ist wie Deutschland …

Danü: … bietet aber wirklich gar keine Reize. Wir fahren jetzt seit drei Stunden geradeaus, und links ist genauso viel oder genauso wenig wie rechts. Felder mit Kühen darauf. Das Spektakulärste waren bisher die drei Autos an der Tankstelle eben. Sie standen nebeneinander an den Zapfsäulen, und alle hatten die Motorhaube oben. So standen sie 15 Minuten lang, und CW kam nicht dran zum Tanken. Dann wurden sie nacheinander mit weiter geöffneter Motorhaube auf den Parkplatz gefahren.

Reisebericht 2

CW: Als wir einmal gemeinsam durch Mecklenburg-Vorpommern fuhren, hat mir Danü erzählt, dass er schier wahnsinnig werde, weil er überall den Horizont sehe. In der Schweiz gebe es keinen Horizont. Nur Berge. Ich glaube, ich muss ihm jetzt was bieten.

Danü: Mal wieder eine Mautstation. Auf argentinischen Autobahnen muss man nämlich hin und wieder bezahlen. Es gibt Schranken, die sich erst öffnen, wenn man dem Schrankenwärter das Geld gegeben hat. Manchmal, so wie jetzt, treffen zu viele Autos auf zu wenige Schrankenwärter. Dann staut es sich. Es staut sich ein bisschen. Ein Stau ist es eigentlich nicht. Es stehen vor jeder Schranke fünf Autos.

CW: Aufpassen, Danü! Ich zeig dir, was Argentinien ist.

Danü: CW hupt. Er hupt wie ein Irrer. Mehrmals. Staccato. Es ist zwei Sekunden ruhig, und dann hupen ringsum mindestens zehn andere Irre. CW macht auch wieder mit. Sie hören nicht auf.

CW: Kann nicht sprechen. Muss hupen.

Danü: Die Schranken gehen hoch. Alle dürfen durchfahren, ohne zu bezahlen. CW brüllt: »AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA! AR-GEN-TI-NA!«

CW: Das, mein lieber Danü, das ist Argentinien!

Danü: Im Durchfahren sieht man am Schrankenwärterhäuschen übrigens ein Schild: »Bitte nicht hupen!«

Fortsetzung folgt

Weihwasserüberdosis

von CHRISTOPH WESEMANN

Ach Luján, weltberühmter Wallfahrtsort für Spaßoholiker im Umland von Buenos Aires. Der Pilger kann sein Ziel gar nicht verfehlen: El Parque de Diversiones, der Vergnügungspark also, liegt im Herzen der Stadt und präsentiert gleich mal seine Achterbahn. Natürlich wird man später dem Minus-fünf-Millimeter-Sohn nach neuem Brauch wieder allerlei Hosentaschenabfall in die Turnschuhe füllen, fürchtend, die obligatorische Mindestgröße von einszwanzig für Achterbahnpassagiere werde geprüft. Aber wir sind ja nicht mehr in Frankreich.

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Luján bietet ordentlich Rambazamba, und Musik liegt auch in der Luft (genauso wie Müll am Boden). Weil überdies Straßen und Wege entweder schon verfallen sind oder sich intensiv darauf vorbereiten und Toiletten mit Mülleimern um die Wette Versteck spielen, ist es bis zum Gefühl, Darwins Proband zu sein, nicht mehr weit. Survival of the Fittest? Dann schnell hinüber zu den Luftgewehren, zu Karussell, Autoscooter, Sessellift, Geisterbahn und Grillplatz.

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Eine bedeutende Attraktion des Vergnügungsparks ist eine sehr echt wirkende Riesenkirche, die Basilika der Jungfrau von Luján heißt und nach der Schutzpatronin Argentiniens benannt ist. Auch mit der Innenausstattung hat man sich Mühe gegeben. Alles ziemlich detailgetreu. Auf dem Vorplatz stehen – hübscher Einfall! – als Geistliche verkleidete Argentinier und segnen alles weg, was ihnen hin- und hochgehalten wird: Babys, Frauenköpfe, Plastikflaschen mit angeblich heiligem Wasser.

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Einen Teil seines Umsatzes macht der Vergnügungspark offenkundig mit Souvenirs. Verkauft werden Jungfrau-Amulette an Ketten, Mates mit dem Gesicht des lässigsten Papstes aller Zeiten und natürlich die roten Bändchen, die der Argentinier gern an Auto, Moped oder Laster knotet, damit Gauchito Gil, der Volksheilige der hiesigen Landstraßen, für eine unfallfreie Fahrt sorgt. Die Ständchenbetreiber tragen allesamt einen weißen Kittel, und wer nach dem Grund dafür fragt, fängt sich eine Lügengeschichte ein.

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Das ist eine interne Vorschrift. Viele Touristen fotografieren die Basilika unserer Jungfrau. Der Kittel verhindert, dass irgendein Verkäufer im Muskelhemd und vielleicht noch mit einem Arm voller Tätowierungen abgelichtet wird. Viele Fotos bekommt ja sogar der Vatikan (ein anderer weltberühmter Vergnügungspark, Anm. d. Red.), und da geht’s auch um unseren Ruf als heiliger Ort Argentiniens.

Aber wie wurde Luján eigentlich zu diesem Wallfahrtsort?

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Der Legende zufolge bestellte sich der in der Provinz Santiago del Estero wohnhafte Portugiese Antonio Farías Saá 1630 einen Daddelautomaten aus Brasilien. Der Transportkonvoi machte bei seiner Reise von Buenos Aires aus nach Norden Halt in einer Gegend etwa 40 Kilometer östlich von Luján. Als die Reise fortgesetzt werden sollte, blieb der Karren, in dem sich der Daddelautomat befand, in der Erde stecken und bewegte sich nicht weiter. Als man das Paket mit dem Automaten herunternahm, konnte man den Karren leicht weiterbewegen. Man sah dies als Zeichen Gottes an, dass der Daddelautomat an diesem Ort bleiben sollte, und übergab ihn daher an den Inhaber des Feldes, der ihm einen Jahrmarkt errichtete, der alsbald von Pilgern besucht wurde. Ein von Kap Verde stammender junger Sklave namens Manuel wurde ihr erster Chef.

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Als 1663 ein neuer Fahrweg nach Westen (die heutige Ruta Nacional 7, die durch Luján führt) eingeweiht wurde, blieb die Gegend, in der der Jahrmarkt stand, weit abseits des Verkehrs. Als der Jahrmarkt daraufhin immer weniger besucht wurde und immer weiter heruntergekommen war, bot 1671 eine Frau aus dem Ort Arbol Solo, dem heutigen Luján, an, einen Jahrmarkt dort zu errichten. Laut der Legende verschwand der Daddelautomat jedoch dreimal unerklärlicherweise und erschien wieder auf dem alten Jahrmarkt. Erst als man dem Automaten Prozessionen und Messen widmete und zuletzt auch den Sklaven Manuel kaufte und als Chef einsetzte, blieb er angeblich am neuen Ort.

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1685 wurde schließlich der erste Jahrmarkt in Luján errichtet. Der Pilgerstrom nahm immer weiter zu, so dass man 1748 einen größeren Rummel baute. Nach der Unabhängigkeit wuchs die Stadt, die zwischenzeitlich auch militärisch im Krieg gegen die Indianer wichtig geworden war, immer weiter an, dasselbe passierte mit dem Pilgerstrom. 1864 wurde die Stadt ans Eisenbahnnetz angebunden. Zwischen 1887 und 1930 wurde schließlich der heutige Jahrmarkt gebaut. Seitdem ist Luján der bedeutendste Pilgerort Argentiniens, jedes Jahr im Oktober gibt es einen Pilgermarsch aus Buenos Aires nach Luján, der mitunter Zehntausende zählt.

So steht’s ungefähr bei Wikipedia.

Der siebenjährige Achterbahnsüchtige hat sich übrigens mit dem heiligen Wasser eingedeckt, um damit das Fußballtrikot seiner Herzensmannschaft aus Quilmes vor jedem Spiel zu benetzen. Mein Fläschchen ist im Auto, obwohl ja dank Bändchen schon Gauchito Gil auf mich aufpasst. Aber man weiß ja nie.

Ich kram‘ die Fotoalben vor. Hier, sieh mal, das war vor zwölf Jahr‘n,
Da sind wir nach Saint-Jean gefahr‘n
Und auch in Lourdes vorbeigekommen.
Und von der Quelle mit dem Rummel, der dir jeden Glauben raubt,
Hast du für Hans, der daran glaubt,
Einen Kanister mitgenommen.
Und als kurz vor Vic-Fézensac das Auto Kühlwasser verlor,
Holtest du den Kanister vor,
Um ihn andächtig aufzuschrauben.
Dann fülltest du den Kühler auf, ich traute meinen Augen nicht,
Doch seitdem ist der Kühler dicht!
Da soll man nicht an Wunder glauben?!

Reinhard Mey: Nein, ich laß dich nicht allein

Die Kindertagskolumne: Mein Sohn, sein blinder Vater und zwei Inder in der Kaffeetasse

von CHRISTOPH WESEMANN

Mein Sohn sagt, er habe mal finnisch gesprochen. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Nun besitzt er bestimmt ein Talent für fremde Sprache, er kann Russisch und Spanisch, und wir haben auch mal eine Woche mit ihm bei einer Freundin in Helsinki verbracht. Aber da war er fünf. Monate. Die nächste Sprache, die er lernen will, ist übrigens Chinesisch. Er wird damit anfangen, wenn er neun ist – es dauert also nur noch eineinhalb Jahre.

Vielleicht verträgt er ja Argentinien nicht.

Helsinki

Der Deutsche, der in Buenos Aires lebt, aber Valencia vermisst, wo er fünf, sechs Jahre gearbeitet hat, hält nicht so viel von Argentiniern. »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger«, sagt er manchmal, und er meint das, obwohl er an sich ein intelligenter Mann ist, zu mindestens 80 Prozent ernst. Er weigert sich auch, argentinisches Spanisch zu reden, er lispelt das C und das Z, wie man das in Walennssija macht, und er sagt zum Beispiel kaje, obwohl Straße, also calle, bei uns hier kasche ausgesprochen wird. Er kennt ungefähr tausendmal mehr Wörter als ich, aber ich klinge dafür nicht wie ein spanischer Kolonialherr aus dem späten 18. Jahrhundert, der gerade mit seinem Segelschiff im Hafen von Buenos Aires angelegt hat.

Mein Sohn geht neuerdings mittwochs zum Fußballtraining, das von seiner Schule angeboten wird. Beim ersten Mal habe ich zugeschaut. Es beginnt damit, dass Sportlehrer Santiago um zwölf Uhr 120 Jungen abholt, von denen 95 ein Messi-Trikot tragen. Dann schnauzt er die Erst- bis Viertklässler erst mal an: »Es wird nicht gerannt! Ist das klar?« Daraufhin überqueren die Jungen im Zeitlupentempo die Straße, ein Schwarm von Stockenten wäre schneller drüben. Zurück bleibt ein Stau, lang genug, dass er es in Deutschland in die Verkehrsnachrichten der Radios schaffen würde.

Messi

Es werden dann Mannschaften gewählt, die auf acht Kleinstkunstrasenplätzen gegeneinander spielen. Als Zuschauer kann man gucken, wohin man will, die Teams versuchen sich an der gleichen Taktik: Alle auf den Ball! Mein Sohn hat an diesem Nachmittag, nun ja, unauffällig gespielt.

»Und hat’s Spaß gemacht?«, fragte ich nach dem Training.

»Und wie!«

»Was hat euch der Trainer eigentlich am Ende gesagt?«

»Dass wir gut waren, hat er gesagt, wir sollen nur mehr abspielen.«

»Super Trainer.«

»Hast du meine drei Tore gesehen, Papa?«

»Äh.«

Er kann die drei Tore nur geschossen haben, als ich damit beschäftigt war, die Schleife meines rechten Schuhs neu zu binden. Andererseits wäre das der schnellste Hattrick in der Geschichte des Weltfußballs. Er hat mir auf dem Heimweg auch haargenau und zehn Minuten lang seine drei Treffer nacherzählt. Vor dem ersten tänzelte er fünf Gegenspieler aus und traf dann mit links in die rechte Ecke. Beim zweiten verwandelte er einen Eckball mit Volleyschuss. Das dritte Tor erzielte er mit dem Kopf. Ich hatte ein bisschen Mühe, ihm zu folgen, weil ich die ganze Zeit an den Satz des Deutschen aus Walennssija denken musste.

»Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger« – das ist übrigens ein guter Satz, einer für die schwierigen Lebenslagen. Für Achterbahnen.

Neulich, auf dem Weg nach Deutschland, waren wir in Paris zwischengelandet, weil die Kinder unbedingt einmal Disneyland  besuchen wollten. Disneyland auf Französisch bedeutet, grob gesagt: eine Stunde rausfahren aus dem Pariser Zentrum ins Niemandsland, Eintrittskarten im Wert von fast 300 Euro vorzeigen und dann überall anstehen.

In die lange Schlange muss man selbst bei Attraktionen, die jedes schlechtere Volksfest zu bieten hat – etwa das Karussell mit den überdimensionierten Kaffeetassen. In eine Tasse passen fünf Erwachsene oder sieben Kinder, aber es sitzen nur zwei Inder drin. Und in der daneben auch nur zwei. Ich habe nichts gegen Inder (und auch nichts gegen Pakistanis). Aber acht Inder in vier Kaffeetassen – das geht einfach nicht.

Man braucht eine Wahnsinnsgeduld. Für einen Ort wie Disneyland wurden Großeltern erfunden.

Um überhaupt mit der Achterbahn fahren zu dürfen, muss man mindestens 1,20 Meter groß sein. Der Sohn endete bei 119,5. Es fehlten fünf Millimeter, woraufhin er auf meinen Wunsch von der Kontrolleurin noch einmal vermessen wurde. Gewachsen war er überraschenderweise nicht in der Zwischenzeit. Fünf Millimeter, wer misst denn bitte so genau? Ach, eine junge Deutsche, natürlich. Mein Sohn war den Tränen nahe, als er abgewiesen wurde.

Zunächst hatte ich die Idee, ihn in der Luft quer zu legen und vor den Augen der Kontrolleurin gemeinsam an ihm zu ziehen, seine Mama an den Händen, ich an den Beinen. Aber dann fiel mir Carlos Menem ein, Argentiniens Präsident von 1989 bis 1999, der gern Absätze trug, weil er von Natur aus eher klein ist. Und mir fiel der Deutsche ein und sein Satz: »Argentinier sind Angeber, Lügner und Betrüger.«

So ging ich mit meinem Sohn um die Ecke und stopfte ihm in die Turnschuhe, was wir in seinen und meinen vier Hosentaschen so fanden: den Stadtplan von Paris, eine leere Brottüte, ein volles Taschentuch, Bonbons, zerknüllte Fahrscheine, Kassenzettel, Flugblätter und Legosteine.

Er ging ein bisschen unrund, aber stolz wie Carlos, ließ sich ein drittes Mal vermessen und grinste die Kontrolleurin dabei an. Dann fuhren wir viermal Achterbahn. Bis mir schlecht war.

Drei Tore in einem Spiel.

Mein Sohn.

Buenos Aires, 18. August 2013 – Kindertag in Argentinien

Berliner Bürokratie-Anekdote

von CHRISTOPH WESEMANN

Lass Dir sagen: Wenn Du im Ausland lebst, verlier im Heimaturlaub bloß niemals Deinen deutschen Führerschein, denn einen neuen zu beschaffen ist ziemlich kompliziert. Du gehst direkt zum Bürgeramt, um dort Deinen Wohnsitz wieder nach Deutschland zu verlegen. Wenn Du um neun Uhr hingehst, kommst Du schon halb zwei dran (musst aber zwischendurch nicht anwesend sein). Danach besuchst Du Labo, das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten. Dort kennst Du Dich aus, Du warst ja schon vor zwei Tagen hier, als Du noch glaubtest, für einen deutschen Staatsbürger, der Du nach wie vor bist, wäre es eine Kleinigkeit, einen neuen Führerschein zu beantragen.

Du hattest Dich um halb sieben angestellt, um gleich um 7.30 Uhr dranzukommen. Dann erfuhrst Du aber, dass Du keine Chance hast, weil Du nicht mehr in Deutschland gemeldet bist. Du zeigtest noch auf den Computerbildschirm und stammeltest zur Labo-Frau: »Aber Sie haben doch alle Daten. Das da im System, das ist doch mein Führerschein!« (Übrigens fällt Dir das Siezen unheimlich schwer, weil Du Dich ein Jahr lang durch Argentinien geduzt hast. In Argentinien gilt: Duzen und duzen lassen.) Die Labo-Frau meinte noch, Du müsstest sowieso einen Führerschein in Buenos Aires beantragen, woraufhin Du nur dachtest: »Nee, Frollein, den Bürokratie-Irrsinn dort drüben tue ich mir nicht an. Und außerdem hat nie ein Polizist die deutsche Plastikkarte beanstandet.«

Auf dem Rückweg telefoniertest Du Rat suchend mit allen möglichen Behördisten, beriefst Dich immer wieder auf Deine deutsche Staatsangehörigkeit und batest die Republik Argentinien, der Du sonst unbedingt angehören willst, leise um Verzeihung. Aber es war ohnehin nichts zu machen. Du musstest Dir erst eine deutsche Anschrift besorgen, um Dich dann ein zweites Mal bei Labo vorzustellen.

Im Referat Fahrerlaubnisse, Personen- und Güterbeförderung (III C) herrscht jetzt natürlich – wir sind ja in Berlin – Chaos. Weil seit dem Vortag aus irgendeinem Grund weite Teile der Verwaltung von der Stromzufuhr abgeschnitten sind, funktioniert die elektronische Nummernvergabe nicht, weshalb eine Berliner Schnauze aufruft. Bevor sie das tut, erklärt sie zunächst in einer fünfminütigen Ansprache, dass bitte Ruhe zu herrschen habe, sonst würde man den Laden ganz dichtmachen müssen. Vielleicht mache man das aber auch sowieso.

Du denkst: An einem Tag wie diesem hättet Ihr Knallköppe durchaus 30 Minuten eher öffnen können, also um halb elf, dann wäre die Horde von 300 Leuten nicht ganz so nervös ob der Frage: Komme ich bis zum Schließen des Amtes – für Kunden ohne Termin um halb drei – überhaupt noch dran? Du siehst beim Blick in andere Gesichter: Nicht nur Du denkst das. Wenn Du an der Reihe bist, beantragst Du, weil der Rückflug nach Argentinien naht, einen Expressführerschein, der innerhalb von 48 Stunden fertig sein … »nee, weeß ick nich, kann nix vasprechn, sehnSe ja selbst, wat hier los is, wa?, unser janzes System is im Eima«.

Jetzt musst Du nur noch schnell, also sehr langsam Deinen Berliner Wohnsitz im Bürgeramt wieder abmelden, und zurück in Buenos Aires, stellst Du dann fest, dass Du den verlorenen Führerschein ja gar nicht mit nach Deutschland genommen hattest.

Jetzt hast Du jedenfalls zwei, einen mit und einen ohne Vollbart.

Führerschein

Der Depp, der den Bürgermeister nicht grüßt, und eine Präsidentin am Abgrund

von CHRISTOPH WESEMANN

Argentinien hat gestern gewählt, und weil ich aus unerfindlichen Gründen offiziell immer noch nicht Argentinier bin, habe ich nur zuschauen dürfen, wie ein Freund im Viertel Villa Devoto am Nachmittag seine Stimme abgab. Da hatte Hauptstadtbürgermeister Mauricio Macri in Palermo bereits erfolglos versucht, einem jungen Wahlhelfer die Hand zu schütteln. Der verweigerte den Handschlag, weil er Anhänger der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner ist, und drehte bald als Hashtag #ElBoludoQueNoSaluda (Der Depp, der nicht grüßt) auf Twitter seine Runden. Man legte ihm allerlei in den Mund.

Sin Chori no hay saludo

»Ohne Chori gibt’s keine Begrüßung«, sagt er auf diesem Bild – eine Anspielung darauf, dass Cristinas Anhänger auf Stimmenfang gern die argentinische Variante der Rostbratwurst verteilen.

Zum zweiten Mal nach 2011 gab es wieder Vorwahlen, die im Prinzip bedeutungslos sind, weil erst im Oktober Entscheidendes geschieht. Dann werden die Hälfte der 257 Abgeordneten im Nationalparlament und ein Drittel der 72 Senatorensitze neu vergeben. Die Abstimmung gestern freilich wird als Stimmungstest für die umstrittene Präsidentin betrachtet, die in den vergangenen Monaten und Jahren vor allem die Mittelschicht gegen sich aufgebracht hat. Kollege Jorge, der auch nicht wählen durfte, obwohl er schon genauso versaut politisch denkt wie ein Argentinier, lästert nebenan, die Vorwahlen »bieten der Königin Gelegenheit, in den nächsten drei Monaten noch ein bisschen Geld unters Volk zu streuen, falls die ›Umfrage‹ nicht so toll ausfallen sollte«.

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So toll ist sie dann tatsächlich nicht ausgefallen. Cristinas Regierungsbündnis Frente para la Victoria (Front für den Sieg) bleibt zwar auf nationaler Ebene die stärkste Kraft, hat aber deutlich verloren. Keine der fünf bevölkerungsreichsten Provinzen – Buenos Aires, Córdoba, Mendoza, Santa Fe  und die Hauptstadt – hat es gewonnen. Selbst Santa Cruz, die Heimatprovinz der Präsidentin, holte sich die Opposition. Cristina erreicht nach jetzigem Stand – noch wird ausgezählt, wir sind ja in Argentinien, das dauert also – nur knapp 26 Prozent. Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2011 hatte sie noch 54 Prozent geholt – umgerechnet 11,8 Millionen Stimmen. Jetzt sind es gerade um die sechs Millionen.

Das Ergebnis ist auch deshalb eine Katastrophe, weil zum ersten Mal 16-Jährige haben wählen dürfen – eine umstrittene Reform, die Cristinas Regierung durchgesetzt hatte, in der nicht ganz falschen Annahme: je jünger, umso kirchneristischer. Tatsächlich ist La Cámpora, der Jugendverband der Kirchners, der im Stil mitunter an die FDJ der Deutschen Demokratischen Republik erinnert, eine der großen Stimmungsmacher und -fänger, vor allem in den armen Nordprovinzen, wo man mit T-Shirts und einer kostenlosen Busreise zur Demo nach Buenos Aires minderjährige Argentinier glücklich machen kann.

In Zeitungen werden nun die ersten Abgesänge angestimmt. Das, was gestern geschah, nennt Clarín heute eine »gewaltige Abstrafung für den Kirchnerimus im ganzen Land«. Abwarten. Jorge hat ja dem unzufriedenen Volk im Namen der Präsidentin schon Wahlgeschenke versprochen.

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Bisschen demografische Geografie oder geografische Demografie gefällig? 37,3 Prozent der wahlberechtigten Argentinier leben in der Provinz Buenos Aires, die von der Fläche (307 000 Quadratkilometer) fast so groß ist wie Deutschland (357 000 km²). Allein 15 der 40 Millionen Einwohner leben hier. Dort siegte Sergio Massa, Bürgermeister der Stadt Tigre und einst Kabinettschef von Cristina Kirchner1. Doch aus dem Verbündeten ist ein Abtrünniger geworden, der der Präsidentin und ihrem Kandidaten eine schlimme Niederlage zufügte.

Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba, Mendoza und die Hauptstadt, die großen fünf der 24 Provinzen, repräsentieren 67 Prozent aller 30 530 323 Wahlberechtigten, die in Wahrheit Wahlgezwungene sind – denn in Argentinien muss man. Wer es nicht tut, riskiert eine Geldstrafe und darf, so erzählte es eine der Stimmauszählerinnen, drei Monate lang keinerlei Anträge bei Behörden stellen. Gewählt wird übrigens in Schulen – 13 500 im ganzen Land hatten gestern von 8 bis 18 Uhr geöffnet.

Aus Angst vor Betrug und Fälschung der Ergebnisse, berichtete Clarín, hätten sich 38 033 parteiunabhängige Bürger als Wahlbeobachter gemeldet – sieben Mal so viele wie vor zwei Jahren. Auch das zeigt, wie aufgeladen die politische Stimmung im Lande augenblicklich ist. Denn bei der Wahl im Oktober könnte sich einiges entscheiden: Wenn Cristina 2015 ein drittes Mal als Präsidentin kandidieren will, muss sie vorher die Verfassung ändern, die nur zwei Amtszeiten am Stück erlaubt. Cristina könnte auch das Regierungssystem umbauen – weg von der präsidentiellen hin zur parlamentarischen Demokratie. Sie wäre dann eine Art Bundeskanzlerin. Aber auch dafür müsste ihr Bündnis nach dem Oktober eine Zweidrittelmehrheit im Parlament haben.

Ob sie überhaupt noch einmal antreten will, weiß man nicht, vielleicht weiß sie es selbst nicht. Man darf aber zumindest annehmen, dass der Kirchnerismus, jene linkspopulistische Bewegung, die Argentinien seit 2003 regiert, weiter an der Macht bleiben will. Es gibt jedenfalls genug Kirchneristen, die ungern andere von den Fleischtöpfen fressen lassen würden. Man hat sich schließlich in den vergangenen zehn Jahren an diese Kost gewöhnt.

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(Ach ja, Alkohol durfte übrigens am Vorabend und am Tag der Wahl wieder nicht verkauft werden. Das Gesetz soll unter anderem verhindern, dass sich die Leute die Köpfe einschlagen.)

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  1. Ich hatte Massa irrtümlich zum Kabinettschef von Néstor Kirchner gemacht []

Fußball, Gewalt und Sauerkraut

von CHRISTOPH WESEMANN

Meine Kinder mögen mir bitte verzeihen. Aber natürlich ist heute mein größter Tag gewesen. Gewiss, drei Geburten mitzuerleben war auch super. Aber was hatte ich damit zu tun? Um Missverständnissen und Vaterschaftstests vorzubeugen: Ich meine, mit dem Gebären an sich? Eben. Die Hebamme, 60 Jahre alt, 5000 Babys, hatte damals im Vorgespräch die Erwartungen an mich im Kreißsaal so formuliert: »Halt einfach die Klappe und lass uns machen.«

Das klingt leichter, als es ist – wenn man quasi zu allem eine Meinung hat.

Bild 1

Und heute bin ich in Olé. Olé ist das größte Sportblatt Argentiniens, also in einem nach Fußball überverrückten Land die wichtigste Tageszeitung. Was? Clarín? Pffff, schreibt Namen bedeutender Persönlichkeiten falsch.

Ich bin natürlich nicht so der Bühnenprofi. Einem Bühnenprofi passiert nämlich nicht, was mir zwei Stunden vor dem Auftritt am Dienstagabend passiert ist: Da kaufte ich mir eine Cola am Kiosk und ließ sie mir, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte, an der nächsten Ecke abnehmen. Ein Mann war mir entgegen gekommen. Ich kann mich an die Worte nicht mehr erinnern, aber er fragte ungefähr: »Krieg ich deine Cola?« Es klang nicht fordernd, eher leise und unsicher, und wir hielten auch gar nicht an, sondern ich übergab meine Flasche im Vorbeigehen. »Gracias«, sagte er noch. Ich war sprachlos. Auch über mich selbst.

Und dann meine Rede. La violencia en el fútbol alemán. Die Gewalt im deutschen Fußball. Hooligans und Affenlaute gegen schwarze Spieler, Daniel Nivel und neue Stadien. Mehr Polizei und die Frage: Kann der argentinische Fußball mit seinem viel größeren Gewaltproblem etwas von Deutschland lernen? Antwort: eher nicht. In Argentinien sind Politik und Polizei Teil des Problems.

Ich fand mich nicht gut, und das kommt ja selten vor. Da mich aber von den Zuhörern nur Lob erreicht hat und ich leichtgläubig bin, halten wir fest: Eine große Rede war das.

Foto konferenz

Mein Umfeld und ich rätseln jetzt noch, wie die Überschrift von Olé – »Y éste le puso chucrut« – zu verstehen ist. Ich habe fünf Argentinier gefragt und keine klare Übersetzung bekommen. Klar, chucrut ist Sauerkraut, und Sauerkraut ist für Argentinier typisch deutsch. Noch deutscher als Sauerkraut sind übrigens nur die Toten Hosen, wie eine andere argentinische Zeitung mal schrieb.

Die Überschrift könnte bedeuten: Er brachte das Sauerkraut, also die deutsche Perspektive, mit in die Konferenz.

Oder ich selbst bin das Sauerkraut.


Argentinische Helden

Diego Maradona, gezeichnet von Danü (c)

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Steckbrief

Wir sind schnell.
Wir sind Wortmetze. Wir haben einen profunden geistes-
wissenschaftlichen Hintergrund. Wir sind böse, sexy und klug. Wir können saufen wie die Kutscher, haben Kant gelesen und nicht verstanden, aber das merkt keiner, und schlafen nie.


2012 von Christoph Wesemann in Buenos Aires gegründet. Derzeit im Exil. (Berlin)